Jahrgang I. No. 1. April 1911.
KMN
Zeif/chrifTfur
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HemuJgeber;
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Inhalt: Kain (Gedicht). — Die Todesstrafe. — Tagebuch aus dem
Gefangnis. — Bemerkungen. — (Miinchener Theater. — Bayerische
Freiheitlichkeit. — Die voile Mass. — Oeffentlicher Dank.)
Kain-Verlag Miinchen.
An die Leser!
Diese Zeitschrift 1st ganz ohne Kapital begriindet worden, nicht aus
prinzipiellen Griinden, sondern weil kein Kapital da war. Soil das zweite
Heft nach einem Monat punktlich erscheinen, so muss der Ertrag de«
ersten seine Kosten decken. Wem die Lektiire der ersten Nummer
den Wunsch geweckt hat, das Blatt moge weiter erecheinen, der sorge
fur seine Verbreitung. Sollte sich Jemand fur das was hier gesagt
wird geniigend Interessieren, um etwa das Unternehmen durch einen Geld-
zusohuss fordern zu'/nogen, so setze er sich mit dem Unterzeichneten In
Verbindung. Verzinsung und Amortisierung wird zugesichert. Es besteht
die Absloht, die Zeitschrift „Kain" moglichst bald In grosserem Umfange
oder aber In kiirzeren Zeltraumen erscheinen zu lassen.
Auf Anfragen sei jetzt schon festgestellt, dass „Kain" weder
als anarchistische Zeitschrift bewertet werden will, noch etwa ein
Organ des „Sozialistischen Bundes" darstellt. Da der Herausgeber
seine Anschauungen gern mit der Bezeichnung „Anarchismus" charakte-
risiert, und da seine anarchistischen Ueberzeugungen sich mit dea
Lehren des „Sozialistischen Bundes" eng beriihren, so wird der Leser
in dieser Zeitschrift natiirlich keine Beitrage finden, die etwa nicht
sozialistisch und anarchistisch empfunden waren. Jedoch ist das Blatt
nicht als Werbemittel fur bestimmte Bewegungen gedacht, sondern
als ganz personliches^ Organ filr das, was der Herausgeber als
Dichter, als Weltbiirger und als Mitmensch auf dem Herzen hat.
MUNCHEN Erich Miihsam.
Akademiestrasse 9.
Inseraten-Teil. $> $?
Dieser Nummer liegt ein Prospekt der Versandbuchhandlung
Fritz W. Egger, Munchen 19, Romanstrasse 5 bei.
Ludwig Ganghofer, seine gesammelten Schriften, in der
billigen und dennoch vornehm ausgestatteten Volksausgabe. 2 Serien
zu je M. 20. — oder komplett zu M. 40. — . Eine dritte Serie, aufwelche
Bestellungen schon heute entgegen genommen werden, ist im Druck
und erscheint im Herbste laufenden Jahres. Canghofers Schriften zu
empfehlen eriibrigt sich, dieselben sind so beliebt, dass wir nur raten
konnen, das heutige Vorzugsangebot sofort zu beniitzen und den Bestell-
schein deutlich ausgefiillt an die Firma Egger einzusenden. Erwiinscht
ware es uns, wenn aufunser Blatt Bezug genommen wiirde. Die FirmaEgger
liefert Ganghofer wie jedes andere gewiinschte Buch zu bequemes
Abonnementszahlungen, die es jedermann ermoglichen, dasWerk sofort
komplett zu erwerben. Lieferung erfolgt franko. Kataloge stehen
Interessenten postfrei zu Diensten.
Jahrgang I. Munchen,
No. 1. April 1911.
KAIN
Zeitschrift fur Menschlichkeit.
Herausgeber: Erich Miihsam.
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„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt
tiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne-
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene
Nonparaillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag",
Munchen, Baaderstrasse la.
Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber.
Mitarbeiter dankend verbeten.
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Kain.
Eure geballten Fauste schrecken mich nicht,
noch Eure strengen, satzunggebundenen Ruten.
Dir — ich erkenn' es — seid die Gerechten und Guten,
und nur Euch strahlt lachelnd das Sonnenlicht.
Speit mich an! Verachtet mich! Werft mich mit Steinen!
Zeigt Euem Kindern mein hassliches Gottesmal!
Lehrt sie, dass ich ihn erschlug, den vortrerrlichen Abel,
nieinen Bruder, erkeimt an dem namlichen Nabel!
Lehrt sie mich hassen, um meine Niedrigkeit greinen!
Heisst sie Gott ftirchten und seinen Rachestrahl! ....
Ach, wie war er so fromm, so zufrieden und brav!
Betend kniet' er inbriinstig vor Gottes Altar,
dankend des Herrn allumfangender Giite.
Aber ich, ein Zweifelnder ganz und gar,
sah, wie der Blitz in ragende Baume traf,
sah junges Leben zerknicken in hoffender Blute,
wanderte einsam und sann allem Werden nach. —
Und ich sah, wie der Bruder Reiser vom Strauche brach,
junge griinende Reiser vom spriessenden Strauch;
wie er sie zartlich zum Scheiterhauf schichtete,
wie er ein unschuldig Lamm zur Opferstatt trug,
sah, wie aus Steinen ein Funk in das Reisigwerk schlug.
Auf zum Himmel stieg saulengrade der Rauch,
rot von der Glut, die zittemd die Erde belichtete.
Grasslich hort' ich des Lamms Bloken und Angstgeschrci. —
Abel, mein Bruder, sang freudige Lieder dabei.
„Sieh, wie mein Opfer gefallt!" rief er mir zu.
,Aufrecht lodert die Flamme zum Himmel. Sieh!
Siehe den Lohn! Dem Herrn sei ewiger Dank!
Sieh meine fetten Weiden, mein munteres Vieh! —
Deine Friichte sind weUc, Deine Lammer krank.
Spende dem Schopfer! Kain, opfre auch Du!"
Da sah ich Abels Feld uppig in Aehren stehn
und seine Herde lustig im Griinen weiden.
Aber mein Acker war kahl und trocken und steinigt.
Diirsten sah ich mein Vieh und Entbehrung leiden.
Kann es — so dacht' ich — durch Gottes Ratschluss
geschehn,
dass sieh der Boden entsteint, dass das Wasser sieh reinigt,
soil meines Feuers Rauch gleichfalls zum Himmel steigen.
Kann Gott Gnaden verleihen, mag er sie zeigen! —
Und ich sammelte miirbes Holz von der Erde,
weil ich den lebenden Zweigen nicht wehtun wollte;
und dann wahlt' ich aus meiner armseligen Herde
ein vom Leben zerbrochenes krankes Rind,
dass es der Schopfer als Opfer empfangen sollte.
Schlafend lag es und trag. So stach ich es nieder,
trug's zum Altar und entflammte die trockenen Scheite.
Aber in meiner Kehle stockten die Lieder. —
Knisternd bog sieh das Holz. Da erhob sieh ein Wind,
fauchte mit boshaftem Zischen hinein in den Qualm.
Unformig walzte der dicke Rauch sieh zur Seite
und erstickt' meines Ackerlands durftigen Halm. —
Abel, mein Bruder, stand nahe und sah mich knien,
sah, wie mein gliihendes Auge im Zom sieh weitete,
weil das Opfer, das ich dem Herrn bereitete,
nicht wie seines hinauf in den Aether drang;
sah den schlangelnden Rauch sich kriechend verziehn.
„Kain," rief er, „mir ist um Deine Seele bang.
Bessere Opfer musst Du dem Gotte bringen!
Lieder des Danks und der Freude musst Du ihm singen
Junge Zweige musst Du vom Strauche brechen!
Junge, gesunde Larnmer musst Du Gott schlachten!
Junges, warmes Blut muss himmelwarts dampfen!
Aus Deinem Reichtum musst Du zu opfem trachten! —
Wenn sich die Menschen dem Herrn zu trotzen erfrechen,
wird er sie richten und ihre Saaten zerstampfen!" —
Auf sprang ich da und griff an die Gurgel dem Spotter.
Winselnd wand sich der Qualm im Sturmesgeheule.
„Junges Blut will Dein Herr? — So soil er es haben!
Folge Du nach Deinen wohlgefalligen Gaben I
Griiss mir mein amies Rind! — undgriiss' Deine Goiter!" —
Und ich erschlug den Bruder mit wuchtender Keule. —
Machtig dehnte sich meine Brust und ich hob
gegen den Himmel die Faust und schwenkte sie drohend.
Doch aus der Opferglut, die gewirbelt stob,
riss der Sturm einen SpUtter und jagte ihn lohend
mir an die Stim. Ich sank mit furchtbarem Schrei,
dass ich im weiten Umkreis die Menschen weckte,
nieder. Es schrieen die Rinder. Der Himmel drohnte
donnernd, wahrend im Staube die Glut verreckte. —
Aber schon eilten jammernde Menschen herbei.
Ich entfloh, von Schmerzen gehetzt, dass ich stohnte.
Hinter mir gellten die Rachefliiche der Hirten.
AUe verlangten, den Brudermorder zu steinigen,
mich zu entsetzlichem Tode langsam zu peinigen.
Vorwarts stiirzte mein Fuss, dass die Felsen, klirrten ....
Immer noch flieh ich dem Zom der Menschengemeinde.
Unstet und rastlos irr ich von Ort zu Ort.
Doch mein Mai an der Stim, vom Scheite gebrannt.
alliiberall verrat's mich dem lauernden Feinde.
Alluberall treibt mich sein Racheruf fort.
Von den Statten der Menschheit bin ich verbannt.
Darbend fahr ich durchs Land, vogelfrei.
Doch, wo ein Rauch sich senkrecht zum Himmel hebt,
wo zufriedene Menschen sich dankbar beugen, —
ah! — da schleich ich mit knimmem Rucken vorbei,
kralle die Hand, die vom Blute des Bruders klebt,
heisse mein Feuermal gegen die Menschheit zeugen! —
Opfert ihm nur, dem Gott der Gerechten und Guten,
der Eure Hiitten mit kostlichen Friichten fiillt,
der Euem Leib mit warmenden Fellen umhullt!
Junge Lammer lasst ihm zum Preise bluten!
Danket flir Euem Reichtum dem Gotte der Reichen!
Und verschliesst vor dem Hunger des Armen die Scheuer!
Wen Gott hasst, den mogt ihr richten als Schlechten!
Was Euer Gott auf den Feldem gedeihen lasst, ist Euer!
Ihr nur seid wert, dem Ebenbild Gottes zu gleichen!
Aber auf mich ergiess' sich der Zom der Gerechten!
Kommt! Ich furcht' mich nicht mehr! Hier steh ich zum
Kampf!
Eure geballten Fauste schrecken mich nicht!
Brudermorder Ihr selbst — und tausendfach schlimmer!
Aus Euerm Scheiterhauf raucht meines Herzbluts Dampf.
Trag' ich so gut als ihr nicht Menschengesicht? —
Aufrecht steh' ich vor Euch und fordre mein Teil! . . .
Gebt mir Freiheit und Land! — und als Bruder fur immer
kehrt Euch Kain zuriick, der Menschheit zum Heil!
Die Todesstrafe.
Der letzte deutsche Juristentag hat sich mit Entschie-
denheit fur Beibehaltung der Todesstrafe ausgesprochen.
Damit hat er logisch, konsequent und insofem
loblich gehandelt, als sein Votum einen lehrreichen
Einblick in die Psyche unserer in Rechtsdingen staatlich
examinierten Mitmenschen gestattet. Wer sich befugt halt,
im Namen eines abstrakten Staatsbegriffs andern Leuten
Freiheit, Vermogen und Ehre abzuerkennen, der handelt
nur folgerichtig, wenn er seine Verfugungsmacht auch
iiber das Leben solcher Zeitgenossen erstreckt sehen
mochte, die an der staatlich gefugten Menschengemein-
schaft zu Verbrechern wurden.
Strafen ist ein Gewerbe, und zwar ein staatlich mono-
polisiertes. Die Rache fiir erlittene Unbill ist dem Ge-
krankten entzogen. Wie die Beforderung schriftlicher Mit-
teilungen zwischen den Menschen vom Staate besoldeten
Brieftragern vorbehalten ist, so ubertragt der gleiche Staat
die Reparatur aller Schadigungen, die die Menschen ein-
ander zufiigen, der Einsicht unbeteiligter Personen
in die Paragraphen der Gesetzbiicher. Der Fehler
dieses Verfahrens ist nur, dass Verurteilungen nie-
mals die erwiinschte Reparatur des beklagten Scha-
dens bringen. Der ermordete Bankier bleibt tot; das
abgebrannte Haus bleibt abgebrannt; der Bestohlene
ist sein Geld los, — und kriegt er es im Aus-
nahmefall wieder, so dankt er das nicht dem Verurteilt-
werden, sondern nur dem Erwischtwerden des Diebes.
Dass Bestrafungen die Delinquenten bessern, behaup-
ten heutzutage selbst die Juristen nicht mehr. (Hochstens
im Falle der Hinrichtung ware es denkbar. Doch wurden
Erorterungen hieriiber ins Gebiet der Metaphysik geho-
ren.) Die Abschreckungstheorie wird durch jede Statistik
widerlegt. Bleibt als einziger Zweck der Rechtsiibung:
die Staatsraison.
Also die Staatsraison verlangt's, dass — immerhin
examinierte, — Manner der Gerechtigkeit die Wage aus
der einen, das Schwert aus der andern Hand nehmen und
im Besitze dieser Instrumente jede aus der Fasson geratene
Tugend wieder einrenken. Kann man es nun den Herren
Juristen verdenken, dass sie mit dem Schwert der Frau
Nemesis nicht bios ritzen, sondern auch kopfen mochten?
Es ware unbillig, soviel Enthaltsamkeit von Hinen zu verlangen.
Der Beschluss der Juristen, das Recht, Todesurteile
zu fallen, nicht gutwillig preiszugeben, hat bei humanen
und besonders bei liberalen Staatsbiirgern heftigen Wider-
spruch gefunden. Die finden, dass der Gerechtigkeit Ge-
niige geschieht, wenn Menschen, die durch Unterernah-
rung, akute Not, bittere Erfahrungen oder entziindete Lei-
denschaften zu Mordern wurden, fur Lebenszeit ins Zucht-
haus gesperrt werden. Wenn man namlich dem Delin-
quenten nicht auf Anhieb das Lebenslicht ausblast, son-
dern ihm das Sonnenlicht entzieht, den Verkehr mit den
Seinen verbietet, die Bewegung seiner Glieder hindert,
inn bei schlechter Kost zu verhasster Arbeit zwingt, ihn
des belebenden Zustroms der Natur entwohnt und ihn
so langsam verdorren lasst, — dann hat die Humanitat der
Liberalen iiber die geschaftige Grausamkeit der Juristen
einen gewaltigen Triumph errungen. — Gott sei Dank
sind sich die beiden Parteien wenigstens in der Ablehnung
der Priigelstrafe einig, die — in deutlichstem Gegensatz
zum Kopfen und Eingittern — ein ausserst rohes Ver-
fahren darstellt.
Die examinierte Gerechtigkeit schreit nach der Guillo-
tine, die gefuhlvolle Menschlichkeit nach dem Zuchthaus;
— es ist eine Lust zu leben!
Aber die examinierte Gerechtigkeit will den Verdacht
nicht auf sich sitzen lassen, als ob ihr die Staatsraison
das Menschenherz aufgefressen hatte. So sammelt sie
Stimmen fur den Scharfrichter. Wo hat man sichere Ge-
wahr fur humane Menschlichkeit als bei der humanisti-
schen Menschheit? — Und die „Deutsche Juristen-
zeitung" klopft an bei den Herren vom Katheder und
von der Feder. Und siehe: es erwacht in ihnen das
Rechtsbewusstsein; leuchtenden Auges treten sie — eine
erlesene Schar — vor die Front der Oeffentlichkeit, und
stolz, antworten zu durfen auf die Frage: Leben oder
Sterben? — dekretieren sie: Kopf ab!
Liebe Bekannte findet man unter den exekutions-
freundlichen Kapazitaten. Greifen wir ein paar heraus.
Erich Schmidt. Der milde Professor, der Liebling der
Damen, der BerUner Festarrangeur und Jubilaumsdiplomat.
Ich sehe inn, das sauber rasierte Kinn auf die gepflegte Hand
gestiitzt, wie er seinen Horerinnen — in jeder schlummert
eine Hedda Gabler — gewinnend lachekid seinen Stand-
punkt darlegt: o ja, Milde, Sanftmut, Schonung und Mensch-
lichkeit sind gewiss gute Dinge; aber messieucs les assas-
sins mogen damit anfangen. Erich Schmidt — heisst er
nicht etwa schon Exzellenz? — mochte also den Mor-
dern in der Uebung gesitteter Eigenschaften den Vor-
tritt lassen. Dariiber lasst sich nicht rechten. Es muss
jeder selbst am besten wissen, wohin er sich in der mensch-
lichen Gesellschaft rangiert sehen will.
Ernst Haeckel. Auch der wiinscht die Todesstrafe in
Kraft erhalten zu sehen. Er bedauert zwar, dass er das
wiinschen muss. Aber er halt das Guillotinieren imme
noch fur das wirksamste Mittel, die Menschheit von den
Frevlem am Leben andrer Leute dauernd zu befreien
Die Pdchtigkeit dieser Hackelschen Logik wird ihm sein
giftigster Feind nicht abstreiten mogen. Wer einmal um
seinen Kopf verkiirzt ist, der wird so leicht nicht wiede
einen Menschen umbringen. Das weiss Ernst Hackel am
allerbesten. Er hat die Weltratsel gelost. Fiir inn ha
das Leben keine Geheimnisse mehr. Er weiss, was wir an
aller Anfang Uranbeginn gewesen sind; er weiss was
an aller Ende Urende aus uns wird. Da braucht ihn auch
der Tod nicht zu schrecken, am wenigsten der Tod des
andern, des Morders, des Gekopften. Eine kurze Betrach-
tung mochte ich Herrn Professor Hackel nahelegen: Die
menschliche Gesellschaft hat durch Jahrtausende die Ver-
neinung Gottes — desselben, den Hackel als gasformiges
Wirbeltier verulkt — als weit schwereres Verbrechen als
Mord betrachtet und mit Steinigen, Kreuzigen und Ver-
brennen geahndet. Wie wiirde sich der Herr Sachver-
standige in Hinrichtungsdingen zur Todesstrafe stellen,
wenn diese Rechtsauffassung heute noch Geltung hatte?
Schliesslich: Ludwig Fulda. (Der Dichter!) — Soil
ich mit ihm streiten iiber das, was recht und unrecht ist?
Ich soil nicht. Was so ein weltfremdes Dichtergemiit sinnt
und traumt — wir wollen es lassen stahn. Recht muss
Recht bleiben, und wer mordet, der soil gemordet wer-
den. Fur Lustmorder ware eine Strafverscharfung am
Platze: Deren Haupt soil man nicht einfach auf den Block
legen. Denen soil man Fuldasche Stiicke vorspielen, bis
sie verreckt sind. Die Jurisprudenz hat mit der Abschrek-
kungstheorie schlechte Erfahrungen gemacht. Ich halte
auch nichts davon. Aber ich glaube doch, dass sich nach
Einfuhrung des von mir angeregten Verfahrens die Lust-
morde bald erhebhch vermindern werden.
Schmidt, Hackel, Fulda — die Staatsraison braucht
noch nicht zu verzweifeln. Was will gegen das Gewicht
solcher Stimmen die Tatsache bedeuten, dass sich ein im
Konigreich Preussen konzessionierter Scharfrichter fur Ab-
schaffung der Todesstrafe ausgesprochen hat? — Der Faul-
pelz!
Tagebuch aus dem Gefangnis.
Zum Verstandnis: Im Oktober 1909, als die durch den
Fall Ferrer hervorgerufene Erregung weiter Volkskreise auch die
Milnchner Polizei sehr nervos machte, platzte eines Nachts in
einer unbelebten Strasse eine Donaritkapsel. Der junge Mensch, der
sich mit dem Knallen des ungefahrlichen Sprengmittelchens einen Jux
machen wollte, wurde erkannt und verfolgt. Er fluchtete sich in den
„Soller", wo er einige Gaste kannte und um Hilfe bat. Ich hatte aus
Grtinden, die hier noch ausfilhrlich erortert werden sollen, im Sommer
1909 begonnen, Zugehorigen des sogen, „funften Standes" Vortrage
sozialen Charakters zu halten, und sie mit den sozialistischen Ideen
des Anarchismus bekannt zu machen. Die bei Behorden und hohe-
ren Tochtern gangbare Ideenassoziation: Anarchisten und Bomben
zeigte sich auch bei den Sollergasten zuhause. Sie rieten dem
Knaben, den ich nicht kannte, sich an die Anarchisten zu wenden
und sagten ihm, wo er einen meiner Freunde treffen konnte. (Ich
war damals in Berlin.) Von dem erhielt er 20 Pfennige. — Die
Knallerbsengeschichte ging durch die ganze Presse und ich las mit
Staunen, dass mein Name damit in Verbindung gebracht werde. Die
Charlottenburger Polizei haussuchte bei mir, und am ubernachsten
Abend wurde ich verhaftet. Erst bedeutend spater erfuhr ich, dass
meine Festsetzung garnichts mit dem Ulk des 17jahrigen Bengels
zu tun hatte (der mit 13 Monaten Gefangnis bestraft wurde), son-
dern dass die Zusammenkunfte, bei denen ich den „Lumpenprole-
tariern" meine Vortrage gehalten haue, der Staatsanwaltschaft der
Geheimbiindelei verdachtig erschienen. Ich blieb 11 Tage in Unter-
suchungshaft (ein Mitangeklagter 8 Monate). Erst im Juni 1910
aber hatte die Justiz, die 9 Monate damit schwanger gegangen war,
ihr Kind ausgetragen. Dass die Entbindung vor dem Mlinchner
Landgericht dann ein Luftkissen zutage forderte, ist wohl noch in
Erinnerung. — Im Gefangnis, wo ich ja Zeit genug hatte, begann
ich, ein ausfiihrliches Tagebuch zu fuhren, das ich hier mit einigen
Namensanderungen und einigen Fortlassungen abdrucke.
Donnerstag, d. 4. November 1909,
Gerichtsgefangnis, Charlottenburg.
Morgen werden es acht Tage sein, dass man mich verhaftete.
Freitag abend war es, am 29. Oktober, und ich hatte gerade meine
paar Sachen in mein Handtaschchen gepackt. Die Reise nach Zu-
rich sollte angehen. Vom 1. November bis zum 1. Dezember sollte
ich wieder mal mit M. Henry und Marya Delvard tingeln. 750
Franken Gage und 50 Franken Reisevergutung. (150 Franken das sind
120 M. und etwas, hatte ich schon im Vorschuss). Morgens war
ich noch bei Onkel L. gewesen und hatte Geld geholt, weil der Vor-
schuss schon alle war, hatte im Laufe des Tages Dutzenden von
Bekannten adieu gesagt, hatte jedem, der es horen wollte, erzahlt:
Heute abend reise ich, — und als alter Witzbold hinzugesetzt:
falls ich nicht doch noch vorher verhaftet werde. 8 Uhr 45 sollte
der Zug vom Anhalter Bahnhof abgehen. Um 7 Uhr kam Lieschen
zu mir laut Verabredung. Sie machte aus einem Anzug, den ich
noch hatte in Stand setzen und reinigen lassen, einigen Kragen und
einem Nachthemd noch ein schones Extrapaket, bequem zu tranpor-
tieren. Um 8 Uhr sollten wir beide im Habsburger Hof sein, wo
uns R. zum Abendbrot erwartete. Danach wollten mich die beiden)
in den Zug setzen. Lieschen hatte noch ihren Kuss gekriegt —
verdammt! Um 7,8 holten mich die Schergen. Frau B., meine
gute Vermieterin, klopfte an. Gott sei Dank waren Lieschen und
ich in durchaus intakter Gewandung. Herein! — „Herr Mlihsam,
da draussen stehen schon wieder zwei. — Wollen Sie vielleicht liber
die Hintertreppe — ". „Nein, nein!" sagte ich und flihlte, dass
— 10 —
meine Lippen weiss wurden. Ich tat aber sehr ruhig, sagte zu Lies-
chen: „Das bedeutet, dass ich verhaftet werde", und hatte merk-
wlirdigerweise den Gedanken: wie seltsam, dass die Physiognomie
des Polizisten selbst von einer so einfachen Frau, und durch den
Zivilanzug maskiert, erkannt wird! — Die beiden Staatsretter tra-
ten ein. Ich ging ihnen auf den Korridor entgegen: „Was wiln-
schen Sie?" — „Wir kommen von der Polizei. Wir sind Kriminal-
beamte. Sie werden aufgefordert, sofort mitzukommen." — „Legiti-
mieren Sie sich." — Geschieht. — „Zeigen Sie mir den Haftbefehl."
— Man legt mir ein Staatstelegramm aus Munchen vor: „Bitte um
Festnahme des Schriftstellers Erich Milhsam, Charlottenburg ,
. . . Strasse 84 bei B., gegen den ich wegen fortgesetzten Vergehens
gegen § 128, 129, 73 Haftbefehl erlassen habe. Der Untersuchungs-
richter Soundso." Meine erste Frage, die ich mir vorlegte, aber
laut dachte, war: ,,128, 129? Was steht denn da drin?" — Der Be-
amte hielt sich fur angeredet und versicherte, auswendig konne er
das so genau auch nicht sagen. Ich glaubte es ihm. Darauf ging
ich ins Zimmer zurlick, erklarte Lieschen, dass ich verhaftet sei,
gab ihr Auftrag, meinen Bruder und den Rechtsanwalt Hugo Caro
zu orientieren und ktisste ihr zum Abschied die Hand, indem ich
sie beruhigte, es werde nicht lange dauern, dass man mich einsperre.
(Fortsetzung folgt.)
(Musste wegen Raummangel leider hier abgebrochen werden.)
Miinchner Theater.
Wer sein Urteil iiber die Miinchner Theaterverhaltnisse der
Presse dieser Stadt entnimmt, und durch Abwesenheit oder Krank-
heit verhindert ist, die Kritik personlich zu kontrollieren, wird,
sofern er von gedrucktem Lobe das ubliche Quantum wohlwollen-
der Hoflichkeit zu subtrahieren versteht, zu der Meinung kommen:
hier wird in den paar vom anspruchsvolleren Publikum frequen-
tierten Theatern schlecht und recht Komodie gespielt; was ge-
leistet wird, geniigt provinzlerischen Grossstadtansprlichen; und eine
kunstlerische Gradmessung erilbrigt sich bei der geringfiigigen Dif-
ferenz der Leistungen. Erst in der allerjiingsten Zeit (muss der
Zeitungsleser annehmen) wird an einem Theater, dem Miinchner
Schauspielhaus, ein Niedergang bemerkbar. Aber erfreulicherweise
hat sich im rechten Augenblick im Lustspielhause ein Ensemble
etabliert, das unter dem Direktor Dr Robert und dem Namen
„der grosse Wurstl" Auffilhrungen bietet, die nicht nur Ersatz
schaffen filr das vom Direktor Stolberg vertane Gut, sondern weit
daruber hinaus den Munchnern endlich das ersehnte, alien weit-
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stadtischen Anforderungen genligende Theater aufzustellen verspre-
chen. Eine mittlere Einschatzung zwischen diesen beiden Anstalten
erfahren die noch ubrigen Schauhauser, die Hofbilhne und das
Volkstheater. Da das Urteil der Presse hierin vollig ubereinstimmt,
wird der unbefangene am Theaterbesuch verhinderte Leser nicht zwei-
feln, wie die Mlinchner Biihnen beschaffen sind. Er wird sich freuen,
dass die Kritiker auf der Wacht stehen, und sich damit abfinden,
dass der klerikale „Bayerische Kurier" und die ihr eng seelenverwandte
sozialdemokratische „Munchner Post" ihr Votum ausser von klinst-
lerischen auch vornehmlich von moralisch-sittlichen Empfindungen
abhangig machen.
Der glaubige Leser sei dahin belehrt, dass ihn die Herren (und
die Dame), die in Mlinchen Theaterkritiken schreiben, falsch un-
terrichtet haben. Die spate Erkenntnis, dass das Schauspielhaus
seit dem Fortgang der schonen und talentierten Lilly Marberg
an ktinstlerischer Bedeutsamkeit erheblich verloren hat, (trotz
mancher Vorzlige der Frau Fritzi Schaffer), stieg den Herr-
schaften erst auf, als das der Zunft an Kritik weit uberlegene
Publikum zornig erfuhr, dass nun auch Gustav Waldau Munchen
verlassen soil. Es fallt mir schwer, Herrn Direktor Stolberg, der
diesen prachtigen Kerl aus ilbel beratener Sparsamkeit gehen lasst,
in Schutz zu nehmen. Aber die geschatzten Herren (nebst einer
Dame) haben wahrlich wenig Ursache, die Fehler eines Mannes
zu begeifern, der in ihren Kritiken vergeblich einen Anhalt fiir
sein Walten als Direktor gesucht hatte. Gewiss: Ihr habt Gustav
Waldau stets gelobt; ihr habt seine Leistungen stets ausgezeichnet
und vortrefflich gefunden. Aber wen hattet ihr nicht gelobt? wen
nicht in wahlloser Zufriedenheit gehatschelt und gepriesen? — Wenn
Direktor Stolberg — was die Herrschaften jawohl verlangen —
ihr Urteil als Richtschnur seines Wirkens hatte betrachten wollen,
so hatte er noch kaum je ein Mitglied seiner Blihne entlassen diir-
fen, und wenn jetzt seine tuchtigste Kraft davongeht, so haben
die nicht zu greinen, die Waldau jahrelang dadurch beleidigt ha-
ben, dass sie jeden mittelmassigen Anfanger mit dem gleichen
Syrup wie ihn betraufelten.
Der — ach, so bequeme! — Enthusiasmus ist nun also aus
der Maximilianstrasse ausquartiert und ergiesst sich spritzend in
den „Grossen Wurstl". In diesem Unternehmen haben wir die
Errettung aus der Misere zu begrilssen. Hier ist der Tempel,
wo unsere Kunstsehnsucht Erfiillung findet! — Du grosse Gttte! Hein-
rich Mann kannte sein Interesse gut, als er sein „Variete" dem
auf die Routine eines einzelnen Stars gegrilndeten Theaterchen
nicht uberlassen wollte. Man rlihmt die exquisite Regie des Hrn.
— 12 —
Dr. Robert. Um die Wahrheit zu sagen: Ich habe noch immer
den Eindruck gehabt, als ob in diesem Theater lediglich mit den
Ellenbogen der Frau Ida Roland Regie gefiihrt werde. Die mehr
oder minder begabten Debutanten, die (seit Guido Herzfelds Ab-
reise) mit ihr auf der Btihne stehen, verkriechen sich scheu im
Hintergrund und wagen kaum, den Mund aufzutun; — aber in
den Pressekritiken bekommen sie allesamt das Pradikat „sehr gut",
„vorziiglich" und „ausgezeichnet". Der talentvolle Herr Pfanz kann
einem leid tun.
1st es traurig oder amilsant? Mit der Sicherheit eines er-
blindeten Kunstschtitzen trifft die Munchner Kritik Schuss fur Schuss
ins Blaue. Man entschuldige die Herren (und die Dame) nicht
mit der Minderwertigkeit des ganzen ihrem Urteil unterstellter«
Theaterbetriebes. Man glaube nicht, dass die gutherzige Sehnsucht,
nur irgendetwas loben zu diirfen, ihnen den „grossen Wurstl" als
Festhalle edler Kunst vorgegaukelt hat. Dass in der Tat eine
Buhne da ist, die Lob, Anspornung, Dank verdient, die — vor-
erst nur in Einzelfallen — Aufflihrungen geliefert hat, die die ver-
wohntesten Ansprilche befriedigen konnten, und dass es nur der
frohen Anerkennung und der einsichtigen Ermutigung bedlirfte, um
ihre Entwicklung zu einer der wertvollsten Schaubilhnen Deutsch-
lands zu fordern, das entgeht den bestallten Hlitern des offent-
lichen Urteils. Ich spreche vom Residenztheater — seit Albert
Steinrilcks Mitwirkung. Steinrilck hat, an Max Reinhardts genialer
Regiekunst geschult, am Max-Josephplatz Inszenierungen gezeigt, die
das Niveau der Hofblihne hoch iiber das aller anderen Theater
gehoben haben. Er hat Aufflihrungen geleitet, wie sie die Wie-
ner und Berliner nur an Festtagen zu sehen bekommen; und gleich-
zeitig mit dem Regisseur hat Mlinchen in Steinrilck einen Schau-
spieler gewonnen, auf den es sehr stolz sein dilrfte. Die Herren
(und die Dame) von der Presse haben denn auch Herrn Steinrlick,
sowohl als Regisseur wie als Darsteller stets die Note „sehr gut",
„vorzliglich" und „ausgezeichnet" gegeben. Aber wenn die Regie
des Herrn Dr. Kilian Herbert Eulenbergs sublime Dichtung „Alles
um Liebe" in Grund und Boden haut, dann erhalt auch er die
Note „sehr gut", „vorzilglich" und „ausgezeichnet", und das Stuck
war nichts wert; denn das Publikum, das bei der Premiere lachte
und zischte, darf vor alien Dingen nicht unrecht haben. — Un-
terschiede werden nicht gemacht: ob Steinrilck Ibsens „Baumeister
Solness" und Shaws „Casar und Cleopatra" inszeniert oder Dr. Kilian
Blumenthals „Weisses Rossi" ist Jacke wie Hose. Ob Fraulein
Terwins grazile Geschmeidigkeit und temperamentvolle Naturlich-
keit das leibhafte Leben auf die Bretter stellt, oder ob ein traditio-
nelles Hoftheater-Requisit in der vergilbten Takelage krampfhafter
— 13 —
Aufgeschminktheit dahersegelt, ist fiir die Vorbeter der offentlichen
Meinung ohne Belang.
Verehrte Herren (und gnadige Frau), der Jammer, Sie am kriti-
schen Werk zu sehen, ist grenzenlos. — Das Lob, das Sie guten
Leistungen spenden, degradiert die Klinstler, die es sich zugezogen
haben. Denn es kommt nicht aus vollem Herzen, sondern aus hohlem
Schadel. Und das Lob, mit dem Sie schlechte Leistungen be-
tunchen, betrugt die Armen, die es trifft. Denn es falscht das
Spiegelbild, aus dem sie lernen konnten, wo es ihnen fehlt. Ver-
bieten es Ihnen Ihre Auftraggeber, das Publikum vor den Kopf
zu stossen, so sollten Sie sich in Ihren Theaterreferaten auf Re-
portage beschranken; und dttnkt Sic das zu gering, so lassen Sie
die Finger lieber ganz von dem Geschaft. Vermissen wird Sie nie-
mand. Denn eine Lucke hinterlasst nur das Fordernde. Forderlich
aber kann eine Tatigkeit nicht sein, die, in Rucksichten geknebelt,
aus der Mittelmassigkeit erwachsen, sich der Mittelmassigkeit auf
Kosten der Hochwertigkeit verbriidert und das Bild der Kultur
vor den Blicken der Mitwelt falscht.
Bemerkungen.
Bayerische Freiheitlichkeit. Die Milnchner Polizeibehorde hat in
ihrem Eifer, mich und meine Freunde an unserer agitatorischen Tatigkeit
fur die Befreiung der Gesellschaft zu hindern, nach vielen Schlagen
ins Wasser einen Schlag ins Gesicht der Menschlichkeit getan. Sie
hat sechs Auslander, zwei Schweizer und vier Oesterreicher, darunter
eine Frau, des Landes verwiesen, weil sie im Seelenleben der Betrof-
fenen Sympathien fur die von mir empfohlenen anarchistischen Ideen
witterte. Die amtliche Mitteilung der Polizei erklart, dass die Aus-
weisung „im Anschluss an die polizeiliche Aufhebung der Mlihsam-
schen Anarchistengruppe Tat, deren Anhanger die Genannten waren",
erfolgt sei. Die Mlinchner Polizeibehorde scheint von ihrer eigenen
Macht etwas phantastische Vorstellungen zu haben. Wenn sie sich
namlich anmasst, von einer Aufhebung der Gruppe Tat zu sprechen,
so sei ihr mitgeteilt, dass solche Aufhebung ihrer Willkilr durchaus
entzogen ist. Dass die Gruppe in Wahrheit trotz der Aufhebung am
Leben und recht gesund ist, weiss die Polizei ja selbst, die mitunter
genotigt ist, auch nach der Aufhebung noch zu offentlichen Veran-
staltungen, die die Anarchisten ihr ganz legal vorher anzeigen, ihre
offiziellen Vertreter zu entsenden. Der Oeffentlichkeit seien einige
Daten geliefert, die einer Revision der landesiiblichen Legende
von der bayerischen Freiheitlichkeit als Unterlage dienen mogen.
Der im Jahre 1908 von Gustav Landauer in Berlin ins Leben
gerufene „Sozialistische Bund" bezweckt die Ersetzung der kapitali-
stischen Gesellschaft durch staatlosen Sozialismus. Mittel zum Zweck
ist die Schaffung werktatiger Gruppen, die ihre Arbeit statt fur den
Unternehmer und den Markt fur den eigenen Bedarf verrichten. Der
— 14 —
Bund begann seine Tatigkeit mit der Sammlung von Menschen in
statutenlosen Gruppen, die sich im Anfang naturlich wesentlich auf
propagandistische Aufklarung beschranken mtissen. Der Gruppen-
kalender unseres Organs „Der Sozialist" weist zur Zeit 19 derartige
Gruppen auf (14 in Deutschland, 5 im Ausland) Meine Agitation in
Miinchen bewirkte auch hier im Frlihjahr 1909 die Konstituierung
einer Gruppe, der „Gruppe Tat" . . . Da sich die Arbeit der Gruppen
des Sozialistischen Bundes ganz in gesetzlichen Grenzen halt, haben
die ausserbayerischen Polizeibehorden unsre Schwestergruppen bis
jetzt immer in Ruhe gelassen. Die Mlinchner Polizei aber lieferte
vom ersten Tage an, seit wir uns rlihrten, Beweise ihrer Nervositat,
Staatstreue und Ungeschicklichkeit. Zuerst kam man uns mit dem
Vereinsgesetz. Der Gruppenwart wurde wegen Unterlassung der
Anmeldung der Gruppe mit einer Polizeistrafe bedacht. Das zur
Entscheidung angerufene Gericht stellte fest, dass die Gruppe Tat
als Statuten- und beitragsloses Gebilde nicht als Verein im Sinne des
Gesetzes anzusehen ist Der Mann wurde freigesprochen. Die Kosten
trug die Staatskasse. — Jetzt wurde das Strafgesetzbuch nach Para-
graphen abgewalzt, die gegen uns zu brauchen waren. Da es der
polizeilichen Einsicht geheim blieb, was sozialistischer Geist eigent-
lich fur ein Geist sei, und da sich das Wort „Bund" in unseren
offentlichen Ankiindigungen deutlich vorfand, wurde aus der Gruppe,
die ja gerichtsnotorisch kein Verein war, ein „Geheimbund". Die
Teilnahme von Sollergasten an unseren Zusammenkunften, die ich
mir gestattet hatte, als Menschen zu betrachten und zu behandeln,
musste die Gemeingefahrlichkeit der Gruppe Tat dem blodesten Auge
erkennbar machen So stieg der Prozess. Der Ausgang ist bekannt:
die Kosten trug die Staatskasse.
Die bis dahin der weiteren Bevolkerung ganz unbekannte
Gruppe Tat war infolge der behordlichen Bemilhungen zu einer Publi-
zitat gelangt, die uns die Werbung fur unsere Ideen sehr erleichterte,
zumal wir zwei Gerichtsurteile in der Tasche hatten, die
uns die Legalitat unseres Beginnens ausdriicklich bestatigten. Unsere
Gruppenveranstaltungen erfreuten sich nach dem Prozess des stetig
wachsenden Interesses in revolutionar gestimmten Kreisen. Dass
das Interesse, das die Polizei vom Anfang her an uns genommen
hatte, trotz der trliben Erfahrungen, die das Institut mit unserer
Bekampfung gemacht hatte, gleichfalls nicht ermlidet war, erwies sich
uns daran, dass wir eines Tages bei unseren privaten Vortragsabenden
geheime polizeiliche Ueberwachung wahrnahmen. Ein Polizeibeamter
qualifiziert sich in dem Moment als Polizeispitzel, wo er seine Zuge-
horigkeit zur Behorde leugnet. Dies tat ein Munchner Schutzmann,
dem aus unserer Mitte heraus seine amtliche Stellung auf den Kopf
zugesagt wurde. Ich sah mich veranlasst, den Polizeiprasidenten,
Herrn v. d Heydt, in einem Briefe darauf aufmerksam zu machen,
dass wir nicht verpflichtet seien, einen Beamten in unserem Kreise
zu dulden, und mir die Belastigung von dieser Seite energisch zu
verbitten. Jetzt fuhr die Polizei ganz grobes Geschiitz auf. Sie iiber-
fiel namlich die Gruppe Tat bei ihrem nachsten Zusammensein und
verhaftete alle Teilnehmer, etwa 30 an der Zahl. Der Zweck dieser
Gewaltsiibung war zunachst nicht recht durchsichtig. Erst jetzt wissen
wir, dass die bayerische Freiheitlichkeit es gestattet, Dutzende in
erlaubter Aussprache versammelte Menschen einen halben Tag lang
in dem schmierigen Polizeigefangnis in der Weinstrasse einzusperren,
— 16 —
um die paar Auslander zu ermitteln, die zufallig dazwischen sind,
und sie, unbehelligt von unbequemen gerichtlichen Einmischungen
liber die Landesgrenze zu treiben. Es muss der Munchner Polizei
bestatigt werden: die Schadigung einzelner ist ihr vortrefflich geglilckt.
Sie hat Leute, denen es unendlich schwer wird, wo anders ihren
Unterhalt zu finden, von ihrer Arbeitsstatte vertrieben, und sogar
solche waren dabei, die jahrelang in Munchen in festem Lohn standen
und hier ihre Familie gegrtindet haben. — Was die amtlichen Herren
als nachste Nummer gegen uns im Programm haben, entzieht sich
heute noch meiner Kenntnis. Die Leser dieser Zeitschrift sollen
jeweils unterrichtet werden, www eint neue Rakete steigt.
Was ergibt sich aus der Betrachtung des Freundschaftsverhalt-
nisses zwischen der Munchner Polizei und der Gruppe Tat? Dass
die Schneidigkeit der bayerischen Behorde bisher weniger von der
eigenen Gemutlichkeit als von der der Bayern geziigelt war. Das
erstemal, wo es die Polizei mit einer wirklich radikalen Bewegung
zu tun bekommt, langt sie hilflos nach den Paragraphen, die helfen
konnten, wenn sie nur verletzt wiirden. Die preussischen Polizei-
behorden haben ihre Uebung, mit Anarchisten umzugehen. Die wissen,
dass man revolutionaren Bewegungen nur vorwarts hilft, wenn man
sie ohne grosse Sachkenntnis chikaniert. Ob die Munchner Polizei
je so klug werden wird, wie sich die 13 Verwaltungen gezeigt
haben, die ausser ihr mit Gruppen unseres Bundes zu tun haben?
Uns wird sie nicht viel anhaben konnen. Wir kennen die Gesetze
und hiiten uns, sie zu verletzen. Die Rigorositaten der Polizei werden
wir aber — darauf mogen sich die Herren verlassen — in unserer
prinzipiellen Bekampfung der bestehenden Staatseinrichtungen als
sehr wirksamen Schalltrichter zu benutzen wissen.
Die voile Mass. Wir Menschen sind recht verschieden organisiert.
In des einen Brust gart der Plan, der Welt durch Umsturz und Neu-
erung Schonheit und Freude zu schaffen. Der andere giesst alle Glut
und Inbrunst seiner Seele in die Formen eines erhabenen Kunst-
werks. Noch einer sehnt sich in heiligem Gram nach einer geliebten
blonden Frau. Der Vierte aber lebt sein Inneres aus, indem er sich
in den Lowenbraukeller setzt — neben den Schanktisch - und lange
Feierstunden hindurch acht gibt, wie oft der Schenkkellner zu wenig
Bier in den Masskrug fiillt und um wieviel Grade schrager er das
Gefass halt, wenn ein Stammgast sein Teil begehrt. Dieser Vierte
ist Munchner und daher Mitglied des Vereins gegen betrugerisches
Einschenken. Er hat vor Gericht seine Wahrnehmungen beschworen
und da in tagelangem Aufmarsch noch viele Zeugen bekundeten, dass
im Lowenbraukeller systematisch geschnitten werde, wurde der Pachter
nebst einigen seiner Angestellten zu Gefangnisstrafen verknallt Man
sage nicht, dass die Miinchener leidenschaftslos seien. Haben wir
nicht eine voile Woche lang die ganze Bevolkerung, soweit sie von
sozialen und kulturellen Drangen nicht bedrilckt ist. wie einen Mann
gegen das Heer schaumender Masskrugfuller aufstehen sehn ? Haben
wir es nicht erlebt, dass die Zeitungen taglich in vielen Spalten die
ausfilhrlichsten Berichte ilber den „Kampf um die voile Mass" brachten ?
— 16 —
noch etwas zurttck und zumeist geht es nicht ganz schnell, bis ein
Funke der Begeisterung das treue Mlinchner Bierherz entztindet.
Aber, wo es um die heiligsten Gliter der Volkheit geht, da wird der
Gutmutigste zum Belastungszeugen. — Der Kampf um die voile
Mass ist gewonnen. Herr Erwig muss 6 Wochen nach Stadelheim
und 3000 Mark an den Staat bezahlen. Das siegreiche Mitglied des
Vereins gegen betrilgerisches Einschenken aber lenkt seine Schritte
in die Neuhauserstrasse und wendet sein Interesse schwimmenden
Auges dem dort promenierenden Hosenrock zu.
Oeffentlicher Dank. Kurzlich begegnete mir nachts um 1 Uhr
in einem Cafehaus eine junge Dame, die mir schon lange sehr be-
gehrenswert erschienen war. Da sie allein war und ein ungliickliches
Gesicht machte, sprach ich sie an. Sie klagte mir ihr Leid, das darin
bestand, dass sie ihren Hausschlilssel nicht bei sich hatte und nun
nicht wusste, wie sie heimkommen sollte. Ich bot natlirlich sogleich
meine Wohnung an, was freundlich aber sehr bestimmt abgelehnt
wurde Die Dame erklarte, sie wolle bis morgens um 7 Uhr durch-
bummeln. Auf meine Bitte erlaubte sie mir, ihr Gesellschaft zu
leisten. Um 3 Uhr erklarte der Wirt, es sei Polizeistunde. Wir
mussten hinaus. Da wir nirgends ein offenes Lokal fanden, gingen
wir an den Bahnhof, wo wir uns an einer Tasse Kaffee erfrischen
wollten. Aber vor dem Eingang zu den Empfangsraumen war eine
Barriere errichtet, die von einem Bahnbeamten, einem Nachtwachter,
einem Schutzmann und einem Polizeihund bewacht wurde. Alle vier
rollten horbar die Augen, sodass ich mit meiner Begleiterin eiligst
wieder ins Freie fltichtete. Es war frostig und regnete. Da sagte ich
zu der Dame: „Es ntttzt nichts. Miinchen hat ilber sechshundert-
tausend Einwohner und ist eine beruhmte Klinstler- und Fremden-
stadt. Wenn alien Klinstlern und Fremden und der halben Million
Mlinchner Einwohner von Polizeiwegen die Moglichkeit entzogen ist,
nach 3 Uhr noch in einem offentlichen Lokal zu sitzen, so werden
gewiss sehr ernste sittliche Griinde dafur massgebend sein. Wenn
Sie um diese Zeit ohne Gepack an einer Hotelglocke zogen, wiirden
Sie sich wahrscheinlich grosse Unannehmlichkeiten zuziehen. Bleiben
wir in diesem Wetter draussen stehn, so haben wir morgen beide die
Lungenentzlindung. Es bleibt nichts anderes iibrig, als dass Sie mit
zu mir kommen." Da errotete die junge Dame und kam mit. — Ich
fiihle mich gedrangt, der Munchner Polizei fllr die ausserst genuss-
reichen Stunden, die ich ihrer Fursorge zu danken habe, offentlich
meinen Dank auszusprechen. Meine eigne Erfahrung hat mich belehrt,
eine wie sinnreiche Einrichtung die konsequent durchgeftihrte Polizei-
stunde ist.
NB. Einige Beitrage, darunter die Buchbesprechungen, mussten mit
Rlicksicht auf den beschrankten Raum fur die zweite Nummer zurlick-
gestellt werden.
Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9.
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Miinchen. Baaderstr. la.
Don
eridt) muftfatn
rrfdmnen folgendc Kurtirr.
DlC tt)Uft£* Cedldite. 1904. Derlag des
Sozialiflifrtirn Bundes. Berlin.
(faR oerortlTcn.)
Dtt KtdtCt* eedldjte.
1909. morgen<Derlag. Berlin.
Die ftod)itapler. umu.
1906. R. Pipers Derlag. mundien.
flscona.
Brofdilire. 1905.
Die lagd auf ftarden.
Brofdilire. 1908.
Zu brzir bru (lurrt) ireir Budjbandlung und dm
KaiivDerlag.
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Jahrgang I. No. 2. Mai 1911.
KAlN
Zeif/chriftfur
rien/chlichfeif
Herau/cjeben
(richriuh/&m
Inhalt: Appell an den Geist. — Tagebuch aus dem Gefangnis. —
Biicher. — Bemerkungen. — (Schonherrs Plagiat. — Krawall, Revoke,
Revolution. — Jagow und Kerr. — Humor). — Correspondenz.
Kain-Verlag Miinchen.
Preis 30 Pfg.
$ ^ ^ Inseraten-Teil. V # ^
D/e sexuelle Frage von Professor August Forel, ein
vielumstrittenes Werk, das aber trotz vieler Angriffe von jedem
Gebildeten gelesen wird, und in keiner Bibliothek fehlen sollte. Das
Buch gilt als das beste, wenn nicht einzig gute seiner Art und hat sich
trotz der ins Uferlose angewachsenen Literatur iiber Gesundheitspflege
und alle Fragen des Geschlechtslebens an der Spitze gehalten.
Die Versandbuchhandlung Fritz W. Egger in Miinchen 19 legt
der heutigen Ausgabe einen Prospekt mit Inhaltsbeschreibung bei, und
erklart sich bereit, das aktuelleWerk, wie auch jedes andere Buch
gegen bequeme Teilzahlungen zu liefern. Bei Bestellung ersuchen wir,
auf diese Zeitschrift Bezug zu nehmen. Kataloge stehen Interessenten
auf Verlangen postfrei zu Diensten. Sollte jemand den Prospekt nicht
erhalten haben, wolle derselbe direkt verlangt werden.
Jahrgang I. Miinchen,
No. 2. Mai 1911.
KAIN
Zeitschrift fiir Menschlichkeit.
Herausgeber: Erich Miihsam.
i| n„ n t T1 I P II mmi J .H.W4*JJ*l*.|-. I H* ^tli*II.JI*l'l***il»M *M*M»>**^*|ll»4l4l . <.|-.|''llfc»
„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt
ittr das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne-
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene
Nonparaillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag",
Miinchen, Baaderstrasse la.
Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber.
Mitarbeiter dankend verbeten.
Appell an den Geist.
Wir Menschen sind geschaffen, in Gesellschaft mit-
einander zu leben; wir sind aufeinander angewiesen, leben
voneinander, beackern miteinander die Erde und verbrau-
chen miteinander ihren Ertrag. Man mag diese Einrich-
tung der Natur als Vorzug oder als Benachteiligung ge-
geniiber fast alien anderen Tieren bewerten: die Abhangig-
keit des Menschen von den Menschen besteht, und sie
zwingt unsem Instinkt in soziale Empfindungen. So-
zial empfinden heisst somit, sich der Zugehorigkeit zur
Gemeinschaft der Menschen bewusst sein; sozial handeln
heisst im Geiste der Gemeinschaft wirken.
Dies ist der Konflikt, in den die Natur uns Menschen
gestellt hat: dass die Erde von unseren Handen Arbeit
fordert, um uns ihre Friichte herzugeben, und dass unser
Wesen bestimmt ist von Faulheit, Genusssucht und Macht-
hunger. Wir wollen Nahrung, Behausung und Kleidung
haben, ohne uns dafiir anstrengen zu miissen; wir wollen,
fern von der Pein qualender Notwendigkeiten, beschau-
lich gemessen; wir wollen Macht ausiiben iiber unsere
Mitmenschen, um sie zu zwingen, uns unsre heitere Not-
— 18 —
entriicktheit zu sichern. Den Ausweg zu finden aus dieser
Diskrepanz: das ist das soziale Problem aller Zeiten.
Nie hat sich eine Zeit klaglicher mit dem Problem
abgefunden als unsere. Der kapitalistische Staat, das trau-
rigste Surrogat einer sozialen Gesellschaft, hat im Na-
men einer geringen, durch keinerlei geistige oder mensch-
liche Eigenschaften ausgezeichneten Minderheit die Macht
iiber die gewaltige Mehrzahl der Mitmenschen okkupiert,
indem er sie von der freien Benutzung der Arbeitsmittel
ausschliesst. Sein einziges Machtmittel ist Zwang; ge-
zwungene Menschen beschiitzen in gedankenloser Knecht-
schaffenheit Faulheit und Genuss der privilegierten Macht-
haber. Wild, sinnlos, roh, von keinem Brudergefuhl ge-
bandigt toben die Menschen gegeneinander. Was sie
als Macht erstreben, ist niichterner Besitz an materiellen
Giitem. Der Kampf aller gegen alle ist kein Ringen um
den Preis der Schonheit, der inneren Freiheit, der Kultur,
— sondern eine groteske Balgerei um die grosste Kar-
toffel. Auf der einen Seite Hunger, Elend, Verkommen-
heit; auf der anderen Seite geschmackloser Luxus, plumpe
Kraftprotzerei, schamlose Ausbeutung. Und all das cha-
otische Getummel verstrickt in einem stahlernen Netz von
Gesetzen, Verordnungen, Drohungen, die die bevorzugte
Minderheit schuf, um ihrer Gewaltherrschaft das Ansehen
des Rechts zu geben.
Eine verlogene Ethik hat das Wissen um Wahrhaftig-
keit und RechtUchkeit vergiftet. Rabulistische Advokaten-
logik hat den guten, reinen und wahren Begriff der Frei-
heit zum Popanz autoritarer Marktschreier verdreht. Die
Verstandigung der Menschen geschieht im Kauderwelsch
der Politik; der Wille der Menschen beugt sich unter
abstrakte Paragraphen; das Ruckgrat der Menschen passt
sich verkriimmten Uniformen an.
Geknebelt ist der Gedanke, das Wort und die Tat,
— geknebelt selbst die Sehnsucht nach Gerechtigkeit
und Menschlichkeit. Die Seele des Menschen ist dem
Staate beamtet, und der Geist der Menschen schlaft im
— 19 —
Kein Knirschen der Wut stort die Hast der Geschafte.
Der Larm geht um den Profit; kein Stohnen der Verzweif-
lung iibertont ihn. Wer aber warnend seine Stimme hebt,
wer Menschen sucht, um mit ihnen zu bauen, aufzurichten
das Werk der Freiheit, der Freude und des Friedens, dem
gellt das Lachen ins Ohr derer, die sich nicht storen
lassen wollen, derer, die Tritte empfangen und um sich
treten, das Hohnlachen der Philister.
Welche Ansicht der Mensch von den Dingen der Men-
schen haben darf, ist vom Staate abgestempelt. Einzelne
Einrichtungen des Staates, besondere Massnahmen darf
er kritisieren, benorgeln, beschimpfen. Aber wehe dem,
der der Faulnis der Gesellschaft in die Tiefe leuchtet.
Er ist verfehmt, geachtet, ausgestossen. An Mitteln fehlt
es den Philistem nicht, ihn unschadlich zu machen: sie
haben ihre „6ffenliiche Meinung", sie haben die Presse.
Wohl eifem auch die Organe der verschiedenen Parteien
gegeneinander; wohl tuten auf der Jagd nach dem Profit
in den Gefilden der offentlichen Meinung die Horner am
lautesten und am schrillsten. Aber darin sind sie einig:
der freie Gedanke, das freie Wort, die freie Sehnsucht
darf keine Statte haben in ihrem Revier. Fin breiter Gra-
ben zieht sich durch ihrer aller Lager; und in dem fliesst
der Strom, mit dem wir schwimmen miissen.
Hoch iiber den Ebenen, in denen die Philister einander
in die Seiten puffen, ragt die Burg, darin der Geist wohnt.
Der Literat und der Kiinstler wenden den Blick degoutiert
ab vom Gewimmel der Menge. Was schert es sie, wie
Hinz den Kunz iibers Ohr haut! Dem Bettler, der am
Weg die Drehorgel leiert, gibt man mildtatig einen Gro-
schen und geht seines Weges. Zu ihnen hinauf, in die
Domanen der Kultur darf der Dunst des AUtags nicht
steigen. Die Nase zu vor den Ausdiinstungen des Volks!
Den Blick empor zu den reinen Hohen der Geistigkeit.
Lachelnd spottet man bei den asthetischen Gelagen
iiber den Snob, der auf die Tribune steigt und die Massen
aufruft zum Kampf gegen Gewalt und Ausbeutung, fur
Recht und Freiheit. Ein Sensationshascher und Reklame-
— 20 —
held, — im besten Falle ein verrannter Narr, dem es
schon recht geschieht, wenn man inn ignoriert und boy-
kottiert. Was geht inn die soziale Not des Volkes an ?! . . .
Der Kiinstler, der sich allem, was die Umwelt angeht,
so hoch iiberlegen diinkt, ist ein Philister. Seine bequeme
Zufriedenheit hat nichts Erhabenes, sondern nur etwas
Verachtliches. Er verschliesst die Augen vor dem Elend,
in dem er selbst bis an die Knochel watet, und macht
sich damit fur die Behorden zum Erwiinschtesten aller
Staatsbiirger.
Aber gerade der Kiinstler hatte tausendmal Grand,
wiitend aufzubegehren gegen die Schandlichkeiten unse-
res Gesellschaftsbetriebes. Sein Werk steht — und das
muss so sein — jenseits der Marktbewertung. Unter
den Zustanden, die uns umgeben, ist es daher iiberfliissig,
wertlos, unniitz und mithin lacherlich oder gefahrlich. Der
Kiinstler selbst gilt — sofem er nicht als Kapitalist an-
dere Menschen fur sich arbeiten lasst — als Schmarotzer,
als Schadling, als Verkehrs stoning. Soil inn seine Kunst
ernahren, so muss er sie dem verrotteten Geschmack des
Banausentums unterordnen, und er verkommt menschlich
und kiinstlerisch. — Hat er aber die Mittel zum Le-
ben, produziert er, wozu es inn treibt, so bleibt sein
Werk den Mitmenschen fremd, und die hochste Freude
des Schaffenden, mit seiner Arbeit Menschenseelen zu er-
frischen und zu erhellen, bleibt ihm versagt.
Aber er ist ja Esoteriker. Dim geniigt ja die Anerken-
nung der Wenigen, derer, die „reif ' sind fur seine Kunst,
die gleich ihm dem Spektakel des Lebens feme stehen.
Ach, Schwatzerei! — Das ist eine matte, blutleere, diirftige
Kunst, die nicht getrankt ist vom warmen roten Zustrom
der lebendigen Wirklichkeit. Nur das sind noch immer die
Zeiten der Kultur gewesen, in denen Geist und Volk
eins waren, in denen aus den Werken der Kunst und
des Schrifttums die Seele des Volkes leuchtete.
Hir torichte Einsame, die ihr wahnt, oben in euern
Ateliers andre, freiere Luft zu atmen, als die Masse auf
den Platzen der Stadte! Auch ihr esst auf euerm Ko-
— 21 —
thurn das Brot, das Menschenhande gesaet, Menschen-
hande gebacken, Menschenhande euch gereicht haben. Tut
nicht, als waret ihr Besondere! Seid Menschen! Habt
Herz !
Und besinnt euch auf die Unwiirdigkeit eurer Exi-
stenz! — Ihr, die Ihr Werke schaffi, aus denen der Geist
unsrer Zeit in die Zukunft flammen soil, sorgt, dass Eure
Werke nicht liigen! — Helft Zustande schaffen, die wert
sind, in herrlichen Taten der Kunst und der Dichtung
gepriesen zu werden! Tauscht der Nachwelt nicht Bil-
der vor, die das jammerliche Grau unsrer Tage in Gold
malen! Seid keine Philister, da Ihr alien Anlass habt,
Rebellen zlu sein!
Paria ist der Kiinstler, wie der letzte der Lumpen!
Wehe dem Kiinstler, der kein Verzweifelter ist! Wir,
die wir geistige Menschen sind, wollen zusammenstehen,
— in einer Reihe mit Vagabunden und Bettlern, mit Aus-
gestossenen und Verbrechern wollen wir kampfen gegen
die Herrschaft der Unkultur! Jeder, der Opfer ist, ge-
hort zu uns! Ob unser Leib Mangel leidet oder unsre
Seele, wir miissen zum Kampfe blasen! — Gerechtigkeit
und Kultur — das sind die Elemente der Freiheit! — Die
Philister der Borse und der Ateliers, zitternd werden sie
der Freiheit das Feld raumen, wenn einmal der Geist
sich dem Herzen verbiindet!
Tagebuch aus dem Gefangnis.
(Fortsetzung).
Lieschen machte ein gleichzeitig verwundertes und erschrockenes
Gesicht und sagte vor lauter Konsterniertheit garnichts. Auf der
Treppe gab ich ihr noch rasch ein Geldstilck, damit sie bei den
Laufereien und Fahrereien, die sie meinetwegen zu machen hatte,
nicht in Verlegenheit kame. Ich eroffnete den Beamten, dass ich
Droschke fahren wolle, und da am Savignyplatz kein Auto stand,
suchte ich einen offenen Einspanner aus, dessen Rlicksitz verdeckt
war. In diesen Verschlag setzte ich mich, meine beiden Hascher
mit Wauwaugesichtern mir gegenilber. Der eine Polizist — einer
mit langem hangendem blondem Schnauzbart und sehr wlirdiger
Miene - nannte die Adresse des Polizeigefangnisses, hatte es aber
— 22 —
kaum notig; denn auch der Droschkenkutscher erkannte offenbar
das Amt an seinen Tragern, ubersah sofort die Sachlage und nickte
schon im Voraus verstandnisvoll mit dem Kopf. Wahrend der
ganzen Fahrt wurde kein einziges Wort gesprochen. Ich dachte
aber: Jetzt sollte ich eigentlich mit Lieschen nach der anderen
Seite Berlins — zum Habsburger Hof — fahren. Am Ziel zahlte
ich dem Kutscher, gab ihm noch 10 Pfennige Trinkgeld und ging
meinen Haschern nach ins Polizeigebaude hinein. Man kann mich
totschlagen: Ich weiss nicht mehr, ob ich dort Treppen steigen
musste, ob ich in Hinterhauser geflihrt wurde oder wie die Bau-
lichkeit beschaffen war. Diese nlichternen Bliro- und Qualhauser
haben genau wie Polizeibeamte Visagen von stereotyper Aehnlichkeit,
fur deren Einzelheiten man sich nicht im geringsten interessiert.
Es war mir zunachst auch gleichgiltig, was man mich fragte; ich
war nur etwas traurig. Jedenfalls wurde ich bei den ersten No-
tierungen nicht respektlos behandelt. Der Beamte, der mich emp-
fangen hatte, verliess den Raum, und ich sah mich allein mit
zwei Beamten, von denen einer blond und vollig uninteressant aussah.
Ich fragte mich, ohne auf eine Antwort zu kommen: 1st das nun
eigentlich einer von den Herren, die mich von Hause abgeholt haben
oder nicht? — Der andre dagegen wird mir in Erinnerung bleiben.
Ganz niedrige Stirn; schwarze, pomadisierte, gescheitelte, das Ge-
sicht, besonders die Stirn eng umgrenzende Haare; gelbe Augen;
kleine, aber abstehende Ohren; graue Hautfarbe; tiefe, lange Backen-
falten; ein schwarzer Schnurrbart ilber einem schiefen Mund. Ich
ging, die Hande auf dem Rucken, nervos in der Blirostube umher.
Ein Junge kam, der bestatigen sollte, ob zu dem ihm gestohlenen
Fahrrad eine Satteltasche gehort hatte, die ihm vorgelegt wurde.
Der Junge verneinte und ging wieder. Es wurde festgestellt, dass
der Dieb also zwei Fahrrader gestohlen haben musste. Ich sah
ohne irgendeine Absicht, nur mit dem dumpfen Gedanken: was
wird nun eigentlich aus alledem? — die Polizeimenschen an. Da
verzog sich plotzlich das eben beschriebene Gesicht zu einem Grin-
sen, so hohnisch und schadenfroh, dass ich es ganz erstaunt an-
blicken musste, wie man gerade am Interessiertesten und Gespannte-
sten dahin zu schauen pflegt, wo sich dem Auge etwas unsagbar
Schaudervolles zeigt. Das Kinn zog sich schief nach einer Seite.
Die Backenfalten verbreiterten sich. Die ohnehin lacherlich ge-
ringfilgige Stirn wurde von den sich hinaufziehenden Augenbrauen
vollig verdeckt. Die hiigelige Nase wackelte, und unter dem Schnurr-
bart wurden grosse, schiefgestellte, stockige Zahne sichtbar, die
mich anfletschten. Als ich mich von dem Schrecken liber seinen
Anblick einigermassen erholt hatte, das Grinsen aber noch immer
nicht aufhorte, fuhr ich den Menschen plotzlich so laut an, dass
— 23 —
der andere Beamte erschrocken die Hacken zusammenklappte: „Was
haben Sie zu lachen!?" — Die Visage verrunzelte sich zu einer ver-
legenen Grimasse: „Ich kann doch lachen, wenn ich will." „Wenn"
sagte er. Ich schrie auf ihn ein: „Sie haben kein Recht mich aus-
zulachen. Wollte ich Sie angrinsen, wurden Sie mich wegen Be-
amtenbeleidigung anzeigen. Sie haben mich genau so anstandig
zu behandeln, wie Sie es von mir verlangen. Ich lasse mich nicht
von Ihnen verhohnen." Meine Worte bewirkten, dass sich das Ge-
sicht wieder in den gewohnten Faltenwurf auseinanderrollte, sodass
der Mann bei meinen letzten Worten wieder genau so dastand wie
vor seiner Teilnahmsausserung. Nach diesem Intermezzo kam, wahr-
scheinlich durch meine laute Stimme herbeigelockt, der Kommissar
— ich vermute, dass er so etwas war — wieder herein und liess
mich abfiihren. Man — wer, weiss ich nicht mehr, wusste es auch
wohl kaum, wahrend es geschah — , man brachte mich eine Eisen-
stiege hinunter und ilbergab mich einem Aufseher. — Ich vergass
zu berichten, dass ich oben alles aus meinen Taschen herausnehmen
musste. Das Geld wurde nachgezahlt. Ich hatte 171 M. 45 Pf.
nebst einem alten dicken russischen Kopekenstuck aus dem 17.
Jahrhundert, das mir Clare mal als Glucksmunze geschenkt hatte
und einer ungebrauchten bayerischen 10-Pfennig-Briefmarke. Dann
kramte auch noch der Beamte in meinen Taschen nach, sogar die
Weste musste ich dazu aufknopfen. Aber ich hatte schon alles
selbst herausgelegt, die vielen Papiere und Papierchen — es waren
allerdings seit der Haussuchung am Mittwoch nicht mehr halb-
soviel in den Taschen wie vorher — , die Brieftasche, die viele
Visitenkarten von mir und anderen enthielt, auch Heftpflaster und den
Kontrakt mit Henry; mein Notizbuch, meinen Bleistift, Und was sonst
noch in meinen zahllosen Rock-, Westen-, Hosen- und Manteltaschen
gewesen sein mag. Man brachte mich also dem Gefangenenaufseher
des Charlottenburger Polizeigefangnisses, nicht ohne mir auch noch
den dicken Spazierstock und sogar den Kneifer abgenommen zu ha-
ben. In dem Aufseher, in dessen Gewahrsam ich mich nun befand,
lernte ich an diesem Abend den ersten Menschen kennen, der mich
weder mit schadenfroher Bosheit, noch mit beamtenmassig korrekter
Starrheit behandelte, sondern der mir wirklich menschlich entgegen-
kam. Ich machte seitdem die Beobachtung, dass alle Gefangnisauf-
seher, mit denen ich zu tun hatte und habe, bestrebt scheinen,
denen, die ihrer Macht unterstellt sind, als Menschen zu begegnen
und womoglich eine dem Polizeicharakter gegensatzliche Natur her-
vorzukehren. Das wird daran liegen, dass der Polizist gewohnt ist,
in seiner amtlichen Tatigkeit im Menschen nur den Verbrecher zu
suchen, wahrend sich der Gefangnisbeamte gerade in seiner amt-
lichen Tatigkeit daran gewohnt, im Verbrecher den Menschen ken-
— 24 —
nen zu lernen. Die personliche Freundlichkeit des Mannes fiel mir
um so sympathischer auf, als es ihm oblag, mich der allerunange-
nehmsten Prozedur zu unterziehen. Er nahm mir namlich zu allem
ilbrigen auch noch Hosentrager, Stiefel, Kragen und Krawatte ab.
Aber den silbernen Ring mit dem Mondstein durfte ich an der Hand
behalten. Dann musste mir der Aufseher noch einmal den Anzug
durchsuchen, wobei er den ganzen Korper abtastete, selbst die
Stellen, deren Berilhrung ich mir weit lieber von schonen Frauen-
handen gefallen Hesse. Diese Untersuchung nahm er aber mit
soviel Rucksicht vor, wie sie eben zuliess, namlich mit fortgesetzten
Entschuldigungen, dass dies seine Pflicht sei und dass es im ilbri-
gen auch schnell erledigt sei. Inzwischen horte ich eine nahe Kirch-
uhr schlagen und stellte fest, dass es halb 9 Uhr war. Ich war also
gerade eine Stunde in Polizeigewalt und uberlegte, dass wir jetzt
im Habsburger Hof mit einem recht guten Essen fertig waren und
langsam ans Aufbrechen denken mussten. Dabei fiel mir ein, dass
ich eigentlich Appetit hatte und ich fragte, ob ich nichts zu essen be-
kame. Der Aufseher erwiderte, dass Linsensuppe da sei, da ich
die aber wahrscheinlich nicht moge, wolle er sehen, ob er nicht
etwas anderes beschaffen konnte. Nach einer Weile kam er mit
einem Teller Milchreissuppe an, die er mir als sehr gut pries. Ich
nahm ein paar Loffel davon, ohne Gefallen an dem Souper zu fin-
den, und versicherte dem Aufseher aus Hoflichkheit, dass die Auf-
regung, in der ich sei, mir zu weiterem Essen den Appetit verlege.
Ich wurde nun in eine dunkle Zelle geleitet, deren ganze Einrich-
tung in einer schmalen Holzbank und einem kleinen Tisch daneben
bestand, auf dem ein Krug Wasser stand und einige Brotreste lagen.
Dort wurde ich zunachst eingeschlossen und sass auf der Holzbank,
ohne das Geringste sehen zu konnen. Es schlug drei Viertel, und ich
sah im Geiste den Zug aus dem Anhalter Bahnhof dampfen, in
dem ich von Rechts wegen hatte sitzen sollen. Ich sass auf mei-
ner schmalen Bank in meiner stockfinsteren Kellerzelle und dachte
an — Verschiedenes. Es schlug langsam, sehr vernehmlich, sehr
korrekt und etwas unheimlich 9 Uhr. Jetzt kam mir vor, werden
es die Bekannten allmahlich schon erfahren. Lieschen wird es ins
Cafe gebracht haben. Auf den Redaktionen werden sich die liberalen
Schmocke fragen, ob man filr oder gegen mich sein solle, ob man
mich als gemeingefahrlichen Verbrecher zum Gruseln oder als harm-
losen Wichtigtuer zum Belacheln den Lesern zum Frlihstuck servieren
solle .... Der Aufseher schloss mit klirrenden Schlilsseln die
Eisentiire auf und teilte mir beschwichtigend mit, dass ich jetzt ein
Nachtlager erhalten solle. Darauf weckte er jemand ,der in einer
benachbarten Zelle schlief und brachte nach kurzer Zeit mit dem
eine aus drei losen Strohkissen zusammenzusetzende Matratze herein;
— 25 —
darauf kam ein Tuch und dann zum Zudecken eine Pferdedecke.
Ich durfte noch ein meiner Zelle gegenuberliegendes Oertchen auf.
suchen, dann konnte ich mir's auf meinem Lager „bequem" machen.
Ich zog mich also im Dunkeln aus, tastete mich auf dem Steina
boden zu meinem „Bett" und versuchte zu schlafen. An dem mor-
derlichen Jucken, das ich am ganzen Korper empfand, und an der
Haufigkeit, mit der sich die nahe Kirchuhr meldete, die ganz
piinktlich Viertelstunde fur Viertelstunde anschlug, merkte ich, wie
wenig mir meine Absicht gelang. Ich sah mit der grossten Le-
bendigkeit eine Unmenge meiner Bekannten, beteiligte mich an
Gesprachen tiber letzte Wahrheiten und Weisheiten, filhrte juristische
Disputationen fiber den wahrscheinlichen Inhalt der Paragraphen 128
und 129, die ich fortgesetzt verletzt haben sollte, und von deren
Bedeutung ich keine Ahnung hatte, stand vor Gericht und iiber-
zeugte in einer forensischen Meisterleistung das Auditorium von
der Unsinnigkeit jeglicher Justiz, rief mit Lebhaftigkeit nach dem
Kellner, um filr mich einen Kaffee schwarz, fur Spela einen Cognak
zu bestellen, dankte nach der Premiere meines neuen Stlickes filr
den Applaus, riet den Genossen energisch ab, mit Bomben zu wer-
fen, bat Clare um einen Kuss und Herrn K. um 2000 M. Vorschuss
gestand Gertrud L. meine Liebe und widerlegte H. W. seine Exi-
stenzberechtigung, kurz: ich hatte tausend Wachtraume, die mir durch
die infame Kirchturmuhr alle Viertelstunde als Wachtraume besta-
tigt wurden Endlich ging ich auf Flohjagd, was bei der
unausgesetzten Bemerklichkeit des Jagdwildes, zugleich aber bei der
volligen Dunkelheit der Nacht ebenso kurzweilig wie ergebnislos
war. Wirklich: gelangweilt habe ich mich diese Nacht garnicht,
im Gegenteil wunderte ich mich bei jedem Anschlagen der Uhr,
dass wieder eine Viertelstunde vorbei ging. Besonders hiibsch war
es, wenn eine voile Stunde herum war. Dann zahlte ich ganz lang-
sam; mit. Erst vier Schlage: hell, schneidig, beamtenhaft, im ge-
messenen Abstand hinter einander her. Dann die Zahl der Zeit-
stunde, deren erster Anhieb nach einer Erholungspause erfolgte: ein
tiefer, ehrwurdiger, im Dienst ergrauter Ton, von langem Atem,
der ganz ausstromte. Erst dann folgte ihm ein gleicher, mit dem-
selben Anstand und demselben Wertbewusstsein. Jede Stunde aber
schloss sich ein neuer Ton den Kollegen an, der als letzter nach-
hallte wie das Sabelrasseln eines Wurdentragers, nachdenklich schlep-
pend, und doch blasiert und gebieterisch. Ich freute mich jedes-
mal, wenn es wieder einen Schlag mehr gab; es kam mir vor, als
sei das immer als eine Ueberraschung fur mich gemeint, obgleich
ich doch vorher wusste, wie oft es anschlagen wlirde. Ich kann mir
kaum eine grossere kindliche Vorfreude denken, als die, die ich
nach elf Uhr empfand, dartiber, dass ich das nachste Mai zwolf
— 26 —
Schlage zahlen durfte. Aber vor ein Uhr hatte ich eine formliche
Angst davor, nach den vier Subalternbeamten nur einen einzigen
grabartigen Herrn heranprusten horen zu sollen. Als es voriiber-
war, atmete ich auf, fand es aber ganz fad, dass es nun fiir viele
Stunden mit dem langen Aufmarsch der Honoratioren zu
Ende sei. Die zwei Schlage der nachsten Nachtstunde interessierten
mich schon garnicht mehr — und dieses Einschlafen meines Interesses
fiir die Kirchturmuhr mag es bewirkt haben, dass sich aus dem
Wulst von Eindriicken, Vorstellungen, Merkwiirdigkeiten und Emp-
findungen ein Netz wob, das meine Glieder zu schwerem Schlaf
auf die Matratze niederzwang.
(Fortsetzung folgt.)
Biicher.
Max Reinhardt von Siegfried Jacobsohn. Erich Reiss Verlag
Berlin 1911.
Siegfried Jacobsohn will dieses Buch nicht als Kritikensamm-
lung betrachtet wissen, obwohl es aus einer Aneinanderreihung Ja-
cobsohnschen Kritiken besteht. — In der Tat bedeutet das Werk
weit mehr als eine Artikelzusammenstellung. Es bedeutet eine Cha-
rakteristik Reinhardts als Regisseur und als Kulturwert, die als
theatergeschichtliches Dokument Anspruch auf die ernsteste Beach-
tung hat. Maximilian Harden hat Jacobsohn vor Jahren den besten
Berliner Theaterkritiker genannt. Jedenfalls ist er der, der mit
der grossten Liebe, mit der strengsten Sachlichkeit dabei ist. Er
schreibt iiber Theater weder als Kiinstler wie Kerr, noch als Philo-
soph wie Julius Hart, sondern weil ihm die Schaubiihne das Wich-
tigste auf der Welt ist. Das ist fast riihrend an Jacobsohn, dass
man ihm zutrauen muss, er sieht alles Geschehen der Welt, alles,
was das wirkliche Leben bietet, aus der Perspektive einer vor-
derer! Parkettreihe, sozusagen durchs Opernglas. Bei dieser steten
Einstellung der Augen auf den Buhnenrahmen sieht er kritischer
als andere, was auf den Brettern vorgeht. Sein Urteil ist
sicher, ruhig und im ehrlichen Willen gerecht. Umso zufriedener
kann Max Reinhardt mit dem Buch sein, aus dem immer unter
dem niichternen Bemiihen um objektiv kritische Beurteilung der
einzelnen Leistungen die helle Verehrung, die freudigste Zustim-
mung hervorquillt. Jacobsohns Liebe zu Reinhardt hat etwas Wun-
derschones. Er vergleicht sich selbst mit dem getreuen Horatio,
der das Werk des Meisters der Nachwelt zu erklaren hat. So baut
er dem Theatermann, der in noch hoherem Masse als Laube die
Buhnenkunst kiinstlerisch reorganisiert hat, ein Denkmal, das nicht
nur schon und schmeichelhaft ist, sondern dazu auch portratahnlich.
Reinhardts Bedeutung fur das moderne deutsche Theater wird scharf
sichtbar. Die Liebe des Jiingers hat sein Werk in das strahlende
Licht gestellt, in das es gehort . . . Dass Jacobsohn aus den
Kritiken, die fiir den Augenblick geschrieben waren, und nun der
Zukunft iibergeben werden, Harten, besonders gegen Schauspieler,
gestrichen hat, ist zu loben. Doch hatte er da noch strenger gegen
sich vorgehen konnen. Es darf nicht sein, dass ein Kiinstler von
der uberragenden Bedeutung Albert Steinriicks in einem Buch, das
— 27 —
den Spateren eine Handhabe fiir die Beurteilung unserer zeitgenossi-
schen Theaterkunst bieten soil, um einzelner Leistungen willen, die
Jacobsohn missfallen haben, schlecht behandelt wird. Ich wiinsche
dem Werk — um Jacobsohns und um Reinhardts willen — weitere
Auflagen, in denen dann auch dieser Schaden kuriert werden mag.
Das Madchen mit den drei Unterrocken von Paul de Kock. Ueber
setzt von E. Scharf - Somssich. Verlag Dr. R. Douglas. — Miin-
chen 1910.
Eine amiisante Belanglosigkeit. Sehr biirgerlich, manchmal
albern und etwas sentimental. Warum aus den zahlreichen Wer-
ken Paul de Kocks gerade dieses Buch ubersetzt werden musste,
ist schwer einzusehen. Sollte der deutschen Familie gezeigt wer-
den, dass der verponte Franzose zu Unrecht im Rufe der Frivoli-
tat steht ? Da tate man dem Dichter Unrecht. Es ist zwar lange her,
seit ich von Paul de Kock zuletzt ein Buch las, auch hat mir
nichts von allem, was mir von ihm unter die Finger kam, einen
bemerkbaren Eindruck hinterlassen; soviel aber weiss ich noch, dass
ich ihn nach der Lektiire anderer Biicher als einen Schriftsteller
beurteilte, der es darauf anlegte, in der Art zu zoten, wie an
kannegiesserischen Stammtischen gezotet wird: ohne echte Derb-
heit, aber mit dem stillen Feixen, das den Burger ziert, wenn er
verbotene Wege wandelt. In dem vorliegenden Roman fehlt das
Element der Zote ganz, und es ist nicht zu leugnen, dass dadurch
hier und da ein Gefuhl der Oedigkeit erweckt wird. Immerhin
aber: man lachelt auch mal, und freut sich schliesslich, dass das
Madchen mit den drei Unterrocken die ganzen 244 Seiten hin-
durch brav bleibt und dass ihre Tugend iiber die Luste der unter-
schiedlichen Herren, die nach ihren Reizen gieren, — und es
sind uberfuhrte Gewissenlose! — leuchtend siegt. Uebersetzt ist
das Buch vortrefflich, auch die Ausstattung ist recht gut. Doch
hatte der Herausgeber nicht zulassen sollen, dass der Verlag dem
Roman ein Vorwort beigab, bei dem man nicht umhin kann, das
Maul zu verziehen und „wie neckisch !" zu sagen.
Bemerkungen.
Schonherrs Plagiat. Die triefende Seligkeit der liberalen
Feuilletonisten iiber das Theaterstiick des Herrn Karl Schonherr,
osterreichischen Heimatkiinstlers, worin die ultramontane Grausam-
keit dialektecht in drei Akten gestaupt wird, ist gekitzelt worden und
hat sich in flammende Gesinnungstiichtigkeit gewandelt. Man zeigt
sich in hohem Masse emport dariiber, dass die mit dem Grillparzer-
preis belohnte Arbeit nicht bios mehr in ihrer dichterischen Bedeut-
samkeit von manchen angezweifelt wird, sondern selbst hier und
da als — sagen wir: bedenklich beeinflusst gilt. Ein Stuck,
in dem das „Inwendig" des Protestanten iiber die rohe Gewalt
der Katholischen siegt! Mussen nicht die Aufgeklarten, die Frei-
geister, die Atheisten (solange keine Oster- oder Pfingstnummer zu
redigieren ist) auf Seiten der Ketzer stehen, die der gar harte Reiter
um des Glaubens willen aus der Heimat jagt? Sie mussen. Und
— 28 —
wenn es samtlichen evangelischen Pastoren noch so unangenehm
sein mag, die Liberalen und Monisten, die Freidenker und Atheisten
flihlen sich ihnen treu verbrlidert, wenn — den katholischen Fanati.
kern der Gegenreformation? ach wo: wenn dem Zentrum von heut-
zutage eins ausgewischt wird.
Mit Rott fiir Glauben und Vaterland! Wer das Stichwort ge-
geben hat, ist ein begnadeter Dichter; wer seine Genialitat bestreitet,
ist ein Idiot; wer ihm Abschreiberei vorhalt, ist ein Schurke!
Ich nehme mir heraus, Herrn Schonherrs „Glaube und Hei-
mat. Tragodie eines Volkes" als einen larmoyanten Schmarrn zu
bezeichnen. Eine melodramatische Birch-Pfeiferei ist das, an der
nichts echt ist, ausser dem Dialekt. Ein sentimentaler Reisser,
zusammengebraut aus Schmalz und Erdgeruch .... Dazu haben
wir den ganzen naturalistischen Sturm und Drang durchgemacht,
dazu haben wir Hebbel, Grillparzer, Kleist, Ibsen in unsaglicher
Mlihe dem Verstandnis der Zeit erkampft; dazu hat Frank Wedekind
mit seiner rebellischen Dramatik das Gespott eines Jahrzehnts zum
Schweigen gebracht, dass das erstbeste rtihrselige Bilderbogen-Drama,
wenn es nur Gesinnung zeigt und btihnentechnisch geschickt ge-
macht ist, die ganze Gilde der deutschen Literaturkundigen platt
auf den Bauch schmeisst! — Man sehnt sich nach Sudermann. Dessen
tappisch-routinierte Matzchen sind uberall noch tausendmal ertrag-
licher als die taufrischen Schmachtlappigkeiten dieses Herrn Schon-
herr. Nie ist die schlappengewohnte Jury der dramatischen Dichtkunst
blamabler reingefallen als bei der Preiskronung dieser kulissenttichti-
gen Drehorgelromanze.
Nun stellt sich aber zum Ueberfluss auch noch heraus, dass
der Preistragodie eine Anzahl von Eigenschaften fehlen, die notig
waren, um der Arbeit die Anerkennung als selbstandige Leistung
zu sichern. Zuerst wies in der „Schaubiihne" Lion Feuchtwanger
darauf hin, dass Schonherrs „Glaube und Heimat" abhangig ist
von den beiden Romanen der Handel-Mazzetti: „Jesse und Maria"
und „Die arme Margaret". „Wer naher zusieht," schrieb Feucht-
wanger, „merkt bald, dass Schonherr eigentlich sein Bestes seinen
Quellen verdankt." Es folgt dann eine kritische Gegenuberstel-
lung der Art, wie die Original-Dichterin den Stoff anfasste, und wie
ihn Schonherr behandelte, und der Empfanger des Grillparzerpreises
schneidet recht ttbel dabei ab. — Frau Handel-Mazzetti selbst pro-
testierte dann offentlich gegen die Ausschlachtung ihres Werks.
Ein stiddeutsches Zentrumsblatt unternahm es, Zitate aus beiden
Autoren einander gegenuberzusetzen, und da zeigte sich, dass die
Abhangigkeit Schonherrs von seiner katholischen Landsmannin, was
auch Feuchtwanger schon behauptet hatte, bis zur Uebernahme von
Worten ging; und zwar nicht zufallig irgendwann einmal, sondern
— 29 —
wiederholt und so auffallig, dass man zur genaueren Kennzeichnung des
von Schonherr geiibten Verfahrens kaum wird auf das Wort Plagiat
verzichten konnen.
Die liberale Presse war genotigt, zu dem Vorwurf, dem der
sonst vor ihr verhatschelte Pater Expeditus Schmidt in offentlichen
Vortragen Ausdruck gab, Stellung zu nehmen. Ihre Haltung war
von vornherein gegeben: sie musste schiitzend ihre Fittiche iiber
ihren bedrangten Liebling ausbreiten, wie die Gluckhenn' bei Schon-
herr: „i breit' mich iiber enk; i lass' euch nix g'schehen an Seel'
und an Leib." So Hess sie sich zunachst vom Dichter selbst be-
statigen, dass er nicht plagiiert habe; alsdann druckte sie einige
von den belastenden Zitaten ab, aus denen denn auch zu ersehen war,
dass der sowohl bei der Handel-Mazzetti wie bei Herrn Karl Schon-
herr vorfindliche Gedanke immer nur in einzelnen Worten, nie-
mals aber im ganzen Satzgefiige iibereinstimmte. Nachdem man
erstaunt die durch einen vertikalen Strich getrennten Parallelstellen
gelesen und kopfschiittelnd festgestellt hatte, dass es doch wohl
fur Herrn Schonherr sehr schwer sein miisse, sich zu rechtfertigen,
stiess man dann auf das redaktionelle Resume Das aber erklarte
mit schoner Unbefangenheit: Na also. Jetzt ist die Be-
hauptung, Schonherr habe plagiiert, doch wohl ein fiir allemal
widerlegt. Aus solchen einzelnen zufalligen Aehnlichkeiten kann
nur boser Wille bewusste Beeinflussung herleiten wollen. — Dass
die einzelnen zufalligen Aehnlichkeiten dutzendweise auftreten, wird
um der guten Sache willen nicht naher beachtet. Die gute Sache
ist namlich langst keine literarische und kulturelle mehr, sondern
eine politische. Es ist die Sache des Liberalismus gegen das Zen-
trum. Einer, der die Aufkliirung iiber den klerikalen Zwang siegen
lasst, darf kein Plagiator sein. Das geht nicht.
Wie ich hore, ist das bisher veroffentlichte Material noch
lange nicht alles, was als Beweis fiir Schonherrs literarische Frei-
beuterei vorliegt. Allerlei Ueberraschendes steht noch in Aussicht.
Eines Tages werden auch in den liberalen Zeitungen die Fanfaren
plotzlich schweigen, und es wird eine beklommene Stille sein. Aber
nachher, wenn sich die ausverkauften Hiiuser entleert haben, dann
wird man schon immer vor der Ueberschatzung eines Werks gewarnt
haben, das man von vornherein als die plumpe Mache eines senti-
mentalen und unselbstiindigen Stumpers erkannt hatte.
Krawall, Revolte, Revolution. In der Pfalz haben in der jiingsten
Zeit Krawalle stattgefunden, weil die bayerische Regierung die Wein-
stocke der bauerlichen Winzer durch Gendarmerie gewaltsam ein-
reiben liess. Die Erfahrungen, die die Bauern bisher mit den ihnen
von oben aufoktroyierten Schutzmitteln gegen die Reblaus gemacht
haben, miissen recht triibe sein, wenn sie sich zu gewaltsamem
Widerstand gegen den behordlichen Eingriff entschliessen. Es ge-
— 30 —
gehort schon ein betrachtliches Mass von Verzweiflung dazu, bei
der Entsetzlichkeit der Aufruhrparagraphen im deutschen Reichs-
Strafgesetzbuch, die Justiz herauszufordern. — Jedoch: die Reb-
laus-Schutzmassnahmen sind ja zum Besten der Pfalzer Winzer an-
geordnet worden. Was dem unter Weinreben aufgewachsenen Pfal-
zer taugt, ist im Miinchner Parlament per Majoritats-Abstimmung be-
schlossen worden. Straubt er sich gegen die Wohltat, die ihm
geschieht, so fliegt er in den Kerker. Es ist doch hiibsch, dass
Vater Staat sich seiner Kinder annimmt I
Die bayerische Regierung wird die Rechtsprechung mobil ma-
chen. Es wird kraftige Freiheitsstrafen geben, und die Beschlusse
der Gesetzmacher werden Geltung erlangen, ob auch die von der
Wohltat Betroffenen flirchten, daran zugrunde gehen zu mlissen.
Weit schwieriger gestaltet sich fur die franzosische Regierung die
Widersetzlichkeit der Winzer des Marne-Bezirkes gegen die Aus-
filhrung des Beschlusses, ihnen die Vergiinstigung des Namensschutzes
fiir ihren Champagner zu entziehen, mit der sie vor wenigen Jahren
kummerlich Katastrophen der Verzweiflung vorbeugte. Diese Cham-
pagner-Bauern sind rabiate Kerle. Sie kampfen ohne Rlicksicht
darauf, dass durch ihr Monopol die Nachbarn in Not und Elend ge-
raten, filr ihre Existenz. Ihre Wut richtet sich gegen die kapitalisti-
schen Sektfabrikanten, denen sie die Lager zerstorten, deren Weinvorrate
sie vernichteten. Gerade dieses Loswliten gegen die, die aus ihrer
Arbeit den reichsten Nutzen Ziehen, beweist den Charakter der Un-
ruhen als Hungerrevolten. Die franzosische Regierung aber ist in
einer bosen Zwickmilhle: Gewahrt sie den Marne-Winzern was sie ver-
langen, so ist die ganze iibrige Champagne benachteiligt, und der
Brand, der in Epernay notdlirftig geloscht ist, flackert an etlichen
anderen Orten auf. — Wer aber an der Vortrefflichkeit der kapi-
talistischen Wirtschaftsordnung zweifelt, ist ein Hallunke.
Mexiko steht seit Monaten in Revolution. Weiss irgend ein
deutscher Zeitungsleser, worum es sich handelt ? Man liest von
Schiessereien, Zusammenstossen, Erfolgen und Misserfolgen bald der
Regularen, bald der Aufstandischen. Was aber das Volk rebellisch
gemacht hat, danach wird man Morgenblatt und Abendblatt ver-
gebens um Auskunft bitten. Zur Orientierung diene folgendes:
Die wesentlichste Veranlassung zu der mexikanischen Revolution
war ein Gesetz, nach dem ein Jeder beliebige Landdistrikte fiir
sich begehren durfte, sofern der Besitzer nicht einen „vollkomme-
nen Rechtsanspruch" auf das Grundsttick geltend machen konnte.
Da das Land stets gewohnheitsrechtlich in den Handen der Bauern
war, die es vom Vater und Grossvater ubernommen hatten, konnte
das kaum einer. Das neue Landgesetz war eben in Kraft, da
bildeten sich Landgesellschaften, die durch Agenten ermitteln lies-
sen, wo schone und fruchtbare Landereien seien, deren Inhaber
keinen „vollkommenen Rechtsanspruch" darauf hatten. Der Be-
sitzer, der keine Urkunde vorzeigen konnte, wurde dann durch ge-
setzliche Gewalt von der Scholle getrieben, die seine Familie viele
Generationen lang bebaut hatte. Natlirlich ging das nicht immer
ganz glatt vonstatten. Die Bauern leisteten Widerstand, Militar
riickte an, Maschinengewehre knallten, — die Revolution war im
Gange. Der Vater der neuen Landgesetze heisst Porfirio Diaz
und ist President der Republik Mexiko. Der Vater der Landgesell-
schaften und unternehmendste Grundstilcksexpropriateur heisst Ro-
mero Rubio und ist der Schwiegervater des Prasidenten. — Ich
— 31 —
teile die Tatsachen, iiber die der „Sozialist" nach dem ,. American
Magazin" ausfiihrlicher berichtet hat, den Lesern mit, weil ihnen von
den Tageszeitungen zugemutet wird, sich fiir das diplomatische Ver-
halten der Vereinigten Staaten zu den Vorgangen in Mexiko zu
interessieren.
Jacp/v und Kerr. Das Ehepaar Cassirer-Durieux scheidet aus. Denn
die Historie, die dem immer noch larmenden Literaten-Disput zu-
grunde liegt, ist veraltet. Man brauchte sich iiber das spasshafte
Verhalten des Herrn Polizeiprasidenten v. Jagow nicht iiber die
Massen aufzuregen. Er hatte, ahnlich wie seinerzeit der Haupt-
mann von Coepenick, den Stoff zu einem ausgezeichneten Schwank
geliefert, bios mit dem Unterschiede, dass der Sieger von Moabit
als Leidtragender, der Schuster Voigt aber als Held aus seinem
Abenteuer hervorging. Tragisch zu nehmen war das Ausrutschen
aus dem Objektiv-Amtlichen ins Subjektiv-Mannliche keineswegs. Im-
merhin aber war es wertvoll zu wissen, dass der Huter der Polizei-
zensur, die jawohl bestimmt ist, uns die Geschlechtlichkeit der
Menschen als etwas Unzuchtiges bewusst zu machen, sein Zensur-
patent als geeignete Visitenkarte ansah, um sich den Zutritt zum
Boudoir einer Dame zu verschaffen. Man durfte erwarten, dass
ringsum ein drohnendes Gelachter ausbrache, und dass jeder, den
sein Beruf in Gefahr bringt, gelegentlich von der synodalen From-
migkeit der Zensur um den Ertrag seiner Arbeit gebracht zu wer-
den, sich der Publikation des Jagow-Briefes redlich freute. Aber
der Herr Polizeipriisident fand da Freunde, wo er sie gewiss am
wenigsten vermutete: in den Literaturcafes. Aufrechte Kulturhiiter
setzten ihre ernsthaftesten Mienen auf und verteidigten beweglich
den Mann, der unter der Uniform steckte. Als Objekt der Ent-
riistung aber warfen sie einen der ihren der Menge vor, den, der
den Brief der Oeffentlichkeit zum Lesen gezeigt hatte, Herrn Al-
fred Kerr. Wieder einmal das alte Schauspiel: Wo einmal die
deutsche Geistigkeit Gelegenheit hat, Solidaritat zu zeigen, fallt
sie ubereinander her. Alle Veriirgerten, die durch den Witz, die
Kritik, die Aggressivitat Kerrs einmal mitgenommen wurden, fiihlten
den Augenblick der Vergeltung gekommen. Jagows Brief wurde
als harmlos, unanstossig .gentlemanlike erklart, — oder, weil man
doch modern und vorurteilsfrei ist, argumentierte man: wenn der
Polizeichef an einer schonen Kunstlerin Gefallen findet, so ist das
genau so Privatsache, wie wenn ein Kasehandler eine Eierfrau um
ihre Gunst bittet. Zunachst stimmt schon das nicht: das Innen-
leben des Mannes, der die Sittlichkeit einer ganzen Millionenstadt
kontrolliert, der jede Frau, die aus ihren Reizen ein Geschaft macht,
unter seine Kontrolle bringt; der jede private Liebesbezeigung zwi-
schen zwei Miinnern, sobald er davon erfahrt, zu einer offentlichen
Angelegenheit macht, indem er die Betroffenen dem Strafrichter
zufiihrt, — das Innenleben dieses Mannes muss die Oeffentlichkeit
im hochsten Grade interessieren. Die Polizei lebt davon, dass sie
das personliche Verhalten jedes Einzelnen bewacht, beschniiffelt
und registriert, und dem Prasidenten dieser Institution solle man
ein Privatleben zubilligen?! — Im akuten Fall aber hat der Herr
sich noch ausdriicklich auf seine Amtsstellung berufen und sich
damit der Adres satin selbst im Gliinze seines Schutzmannshelms
prasentiert. Der Vorwurf, Kerr habe roh die Hulle von einem
zarten Gefiihl gerissen, ist daher ganz unberechtigt. Das Gefiihl
kann noch so zart gewesen sein, die Hulle war offentliches Eigen-
— 32 —
rum. Kerr hatte das Recht, sie vor aller Augen um und um zu
wenden. Jeder von denen, die heute in heiliger Emporung iiber
Kerr herfallen, hatte den Brief Jagows an Desdemona unbedenklich
veroffentlicht — und wahrscheinlich weniger geistreich glossiert als
Kerr es tat. Ich werfe den Herren, die aus dem Falle Jagow einen,
Fall Kerr gemacht haben, keine Unehrlichkeit vor. Es liegt in der
schwachen Natur der Menschen, im Groll nicht gerecht wagen zu
konnen. Aber man hatte das Bediirfnis, die Wut gegen einen ver-
hassten Kritiker auszuspritzen, wirklich bis zu einer passenderen Ge-
legenheit zuriickstellen diirfen. Es beriihrt iiberaus schmerzlich, bei
dem Konflikt zwischen einem, der geistige Werte schafft, und einem,
der bestellt ist, geistige Werte in die Fasson loyaler Wohlanstandig-
keit zu kneten, die Kulturellen an der Seite der Staatsautoritat zu
finden: Aber fiir die Beschaffenheit des deutschen Geisteslebens ist
der Vorgang symptomatisch.
Humor, Ich ubersandte einmal einem bekannten deutschen Witz-
blatt folgenden Beitrag:
„Auch ein Grund. A. Warum kommen sie denn gar nicht
mehr in den „Schwan" an unseren Stammtisch? —
B. Meine Olle erlaubt's nicht."
Darauf erhielt ich folgenden handschriftlichen Brief:
„Sehr geehrter Herr!
Den uns freundlichst eingesandten Scherz miissen wir Ihnen
zu unserem Bedauern zuriickgeben, da er sich fiir unser Blatt nicht
eignet. Wir wiirden uns jedoch sehr freuen, wenn Sie uns bald
wieder einen Beitrag aus Ihrer geschatzten Feder zukommen liessen.
Mit vorziiglicher Hochachtung
Die Redaktion."
Correspondenz.
Die reichliche und teilweise enthusiastische Zustimmung, mit der
die erste Nummer dieses Blattes begriisst wurde, ermutigt mich sehr
zur Fortfiihrung der begonnenen Arbeit. Leider entspricht aber
bis jetzt die tatkraftige Unterstiitzung meines Versuchs, mir Gehor
zu schaffen, nicht entfernt der platonischen Sympathie, die mir
bezeigt wird. Ich danke alien, die mich zu meinem Unternehmen
begliickwunscht haben, herzlich; aber ich wiederhole dringend die
Bitte, dem „Kain" auch die praktische Forderung angedeihen zu las-
sen, ohne die er nicht existieren kann. Ob die dritte Nummer noch
erscheinen kann, wird ganz davon abhangen, ob eine geniigende
Zahl von Abonnements bestellt und eine geniigende Zahl von Ein-
zelexemplaren verkauft wird. Wer das Weiterbestehen der Zeit-
schrift wiinscht, der sorge dafiir, dass seine Buchhandlung sie fiihrt,
und dass seine Bekannten sie lesen. — Wer geneigt ist, das Un-
ternehmen durch einen Geldzuschuss soweit zu fordern, dass das
Erscheinen gesichert ist, bis die Unkosten sich von selber decken,
setze sich mit dem Unterzeichneten in Verbindung.
Mil nc hen, Akademiestr. 9. Erich Miihsam.
Verantwortlich fiir Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9.
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Manchen, Baaderstr. la. Tel. 2355.
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I n h a 1 1 : Aufruf zum Sozialismus. — Tagebuch ans dein Gefangnis. ■
Miinchner Theater. — Bemerkungen. — Der unziichtige Marquis.
Georg Hirth. — Die nervenschwache Polizei.
Kain-Verlag Miinchen.
30 Pfg.
Friiher erschienen:
KAIN, Heft 1. Inhalt: Kain (Gedicht). — Die Tode s s traf e .
— Tagebuch aus dem Gefangnis. — Bemerkungen: ( M u n c h n e r
Theater. — Bayerische Freiheitlichkeit. — Die voile Mass. —
Oeff entlic her Dank.)
KAIN, Heft 2. Inhalt: Appell an den Geist. — Tagebuch
aus dem Gefangnis. Biicher. — Bemerkungen: (Schonherrs
Plagiat. — Krawall, Revolte, Revolution. Jagow und Kerr. —
Humor). — Correspondenz.
Preis je 30 Pfg. Zu beziehen durch jede Buchhandlung
oder direkt vom Kainverlag, Miinchen, Baaderstrasse 1 a.
Empfehlenswerte Bticher
aus demVerlageMaxSteinebach in Miinchen, Baader-
strasse 1 a. Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder
direkt vom Verlag.
Geschichte des deutschen flrbeiferstondes Mk, 1 ,--
von S t aatsarchivar Dr. Christian Meyer.
Die vorliegende Schrift behandelt nach einer kurzen Einleitung
iiber die geschichtliche Entwicklung des Verhaltnisses zwischen Arbeit
und Besitz, die Geschichte des deutschen Arb e iter stan de s von der
altesten Zeit der unfreien Frohnhofwirtschaft an bis herab in unsere
Tage der Grossindustrie mit Maschinenbetrieb. Namentlich das alte
Handwerksgesellentum mit seinen merkwiirdigen, zuletzt vielfach ver-
schnorkelten und grotesken Einrichtungen und Gewohnheiten hat eine
sorgfaltige Darstellung erfahren.
Geschichte des deutschen Bauernstandes Mk, 1 ,-_
von S taatsarchi var Dr. Christian Meyer.
Eine gedrangte Geschichte des deutschen Bauernstandes von
der Zeit der altesten festen Siedelungen nach dem Schluss der grossen
Wanderungen an bis herab in das 19. Jahrhundert, das in den Stiirmen
des Jahres 1848 auch die letzten Reste der alten Grunduntertanigkeit
unseres Bauernstandes beseitigt und die vollige staatsrechtliche
Gleichstellung desselben mit den ubrigen Gesellschaftsklassen des
Staates proklamiert hat.
Geschichte des deutschenAdelstandes Mk, 1,50
von Staatsarchi var Dr. Christian Meyer.
Eine gedrangte, ubersichtliche Geschichte des deutschen Adels
ist bisher ein Bediirfnis des gebildeten Lesepublikums gewesen. Die
vorliegende Schrift versucht diese Liicke auszufiillen. Neu und eigen-
artig ist die durch alle Phasen der geschichtlichen Entwicklung als
Grundinhalt des Adelsbegriffs festgehaltene und konsequent dure h-
gefiihrte Definition des Adels als einer politischen Machtinstitution.
Jahrgang 1. Miinchen,
No. 3. Juni 1911.
KAIN
Zeitschrift fiir Menschlichkeit.
Herausgeber: Erich Miihsam.
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,,KAIN erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt
tilr das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne-
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene
Nonparaillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag",
Miinchen, Baaderstrasse 1 a.
Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber.
Mitarbeiter dankend verbeten.
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Aufiuf zum Sozialismus.
,JDer Staat sitzt nie im Innern der Einzelnen, er
ist nie zur Individualeigenschaft geworden, nie Frei-
willigkeit gewesen. Er setzt den Zentralismus der
Botmassigkeit und Disziplin an die Stelle des Zentrums,
das die Welt des Geistes regiert: das ist der Schlag
des Herzens und das freie, eigene Denken im lebendi-
gen Leibe der Person. Friiher einmal gab es Gemein-
den , Stammesbiinde, Gilden, Briiderschaften Korpo-
rationen, Gesellschaften, und sie alle schichteten sich zur
Gesellschaft. Heute gibt es Zwang, Buchstaben, Staat."
„Sozialismus ist Umkehr; Sozialismus ist Neubeginn;
Sozialismus ist Wiederanschluss an die Natur, Wieder-
erfullung mit Geist, Wiedergewinnung der Beziehung."
Das sind Satze aus einer Schrift von Gustav Landauer,
die eben erschienen ist und den Titel fuhrt: ,Aufruf zum
Sozialismus", *) und in diesen Satzen ist in nuce enthalten,
woher uns, die wir werbend auf die Tribune treten,
*) Aufruf zum Sozialismus. Ein Vortrag von Gustav Landauer.
Berlin 1911. Verlag des Sozialistischen Bundes.
— 34 —
die Verzweiflung kommt, und wohin unsere Sehnsucht
will
Gesetze, Reglementierungen, Zentralisationen, Zwangs-
gebilde sind den Menschen der Gegenwart so selbstver-
standliche Faktoren der geseUschaftlichen Organisation,
dass ihnen jedes Bekenntnis zur Dezentralisation, zur Staats-
und Herrschaftslosigkeit narrisch oder verbrecherisch vor-
kommt. Anarchie, das Wort der Freiwilligkeit, meinen
sie, sei Verwirrung. Polizei aber scheint ihnen Ordnung,
Kapitalismus Ausgleich, Justiz Gerechtigkeit. Den Begriff
Sozialismus haben sie in den Bestand der Dinge eingereiht
und nehmen inn als Flagge einer demokratischen Reform-
partei.
Nur an den kleinen Symptomen der geseUschaftlichen
Wirrnis wird Rednerei und Kritik geiibt, wird gebastelt und
gemodelt. Das heisst man Politik; und um das Parlamen-
teln und Schachern, um die Flickerei und Pflasterei am
kranken Korper der Gesamtheit erregen sich die Leiden-
schaften. Von dem andern, von der Seuche selbst, von
all dem Furchtbaren, das die Menschen zu Betriigern und
Mordern aneinander, das Unrecht zu Recht, Liige zu Wahr-
heit, Heuchelei zu Ehrlichkeit, Diebstahl zu Eigentum, Aus-
beutung zu Lohn, Knechtung zu Vertrag, Gewalt zu Liebe
macht, wird nicht gesprochen. Selbst da, wo sich die Not
der Zeit am traurigsten fuhlbar macht, in den Schichten
der arbeitenden Bevolkerung, gibt es keinen Kampf, der
von innen kommt, der verzweifelt hinausdrangt aus der
kapitalistischen Sklaverei, sondern nur einen vorsichtigen
Eiertanz im Dunkeln und Dumpfen und angstliche Scheu
vor radikalen Wandlungen und vor frischer Luft.
Die trockne Kathederweisheit des Marxismus hat es
vermocht, im unterdriickten Volk jeden frohen Willen zu
lahmen. Die entsetzliche Theorie, dass sich die Zeit nach
naturnotwendigen Gesetzen wandeln muss, in der Rich-
tung wandeln muss, die Karl Marx und seine demagogi-
schen Spiessgesellen anweisen, hat in Millionen Menschen
— 35 —
den Wahnsinn kultiviert, sie diirften nur zusehen, wie sich
der Kapitalismus selbst auffrisst. Man muss inn nur nahren
und pflegen und ihn auswachsen lassen, bis er sich uber-
schlagt, platzt, stinkt und sich an seine Stelle der Sozialis-
mus, vielmehr die komisch-philistrose Zwittergestalt eines
sozialdemokratischen Zukunftsstaates prasentiert. — Seit
einem halben Jahrhundert ist der Marxismus EvangeUum
des deutschen Proletariats. Seit einem halben Jahr-
hundert ist eine These dieser pseudo - wissenschaft-
lichen Sozialprophetie nach der andern von den Tat-
sachen der Wirklichkeit ad absurdum gefuhrt wor-
den. Und heute noch winselt die Sozialdemokratie bei
den Inhabern der Macht um Beteiligung an der Verwal-
tung des Staats, den sie angeblich bekampft. Heute noch
sammelt sie in untatiger Geschaftigkeit Stimmen, hun-
derttausende, Millionen Stimmen zum Bekenntnis zu Marx'
Lehren.
Die angekundigte und umfanglich bewiesene Akkumu-
lation des Kapitals ist ausgeblieben: es gibt heute mehr
Kapitalisten als vor 50 Jahren. Die Verelendung der Mas-
sen die „naturnotwendig" zur Katastrophe fiihren sollte,
ist ausgeblieben: denn der Staat, der ebenso schlau war
wie Marx, hat — mit Hilfe der „Sozialisten" — durch eine
Arbeiterschutzgesetzgebung ein Ventil geschaffen, das das
Aeusserste verhiitet, also geeignet ist, den Kapitalismus
zu verewigen. Die wirtschaftlichen Arbeiterorganisationen,
die — von den Marxisten anfanglich keineswegs willkom-
men geheissen — sich aus den Zeitumstanden wirklich
„naturnotwendig" entwickelten, drehen sich innerhalb der
kapitalistischen Wirtschaft im Kreise herum, erzielen als
Produzenten bessere Bezahlung und miissen sie als Kon-
sumenten ihrer Waren selbst wieder hereinbringen; sie
schaffen den Kapitalismus sowenig ab, wie sie den Sozialis-
mus herbeimhren, und sie haben das Unternehmertum
gelehrt, das starkste Bollwerk gegen die Gefahrdung des
Kapitalismus durch wirtschaftUche Kampfe dadurch zu
— 36 —
schaffen, dass sie selbst sich zu Interessenorganisationen,
zu Arbeitgeberverbanden, zu Ringen und zu Trusts zu-
sammengeschlossen haben.
So stellen sich unter der Herrschaft der marxistischen
Dogmen die Aussichten des Sozialismus dar. Die
Sozialdemokraten aber predigen noch immer die ma-
terialistische Geschichtsentwicklung, das Hineinwachsen
in den Sozialismus als Kronung des Baus, dessen
Grundlagen sie selbst schon als brockelhaft auf den Keh-
richt geworfen haben. Derm die Verelendung der Massen
behaupten selbst die Frommsten der Marx-Jiinger nicht
mehr, und die Konzentration des Kapitals mitsamt der
Krisentheorie wird zumindest von den Revisionisten schon
stark in Zweifel gezogen, die ja nachgerade kaum mehr
etwas andres scheinen wollen, als reformerische Realpoliti-
ker, und die das Wort Sozialismus, wenn sie es bei Wahl-
reden oder andern Reprasentationsgelegenheiten mal aus-
sprechen miissen, nur unter Aechzen und Wiirgen aus
dem Halse bringen.
Miissen wir denn nun, nachdem wir die gewaltige
Bewegung, die unter dem Namen Sozialdemokratie seit
einem halben Jahrhundert triibe, fauhg und unendhch breit
stagniert, als Charlatan-Wissenschaftlhuberei erkannt ha-
ben, — miissen wir denn nun darauf verzichten, jemals
aus der qualvollen KnechtschafTenheit des kapitahstischen,
militaristischen, klerikahstischen Polizeistaats heraus- und
in eine menschenwiirdige, freiheithche, im Volke gefligte
und auf Gegenseitigkeit gegriindete Gesellschaft hineinzu-
kommen? Das miissen wir wahrlich nicht, sofem der
Wille zur Freiheit, zur Gerechtigkeit und zum SoziaUsmus
in uns lebendig und zur Tat bereit ist.
Marxens leblose, ertiftelte und erkliigelte Theorieen
sind an den Tatsachen der Wirklichkeit jammervoll ge-
scheitert. Jede einzelne seiner Aufstellungen ist als falsch
erwiesen. Wollen wir zum SoziaUsmus kommen, so diir-
fen wir an keinen der Versuche, die — auch mittelbar,
— 37 —
wie der Syndikalismus, der Anarchosozialismus etc. — von
seinen Ansichten ausgingen, anschliessen. Wir miissen
den Mut finden, zuriickzugreifen. Wir miissen den Karren
dahin zuruckfiihren, wo er, von Marx geschoben, in den
Dreck fuhr, in dem er jetzt erbarmungslos drinsteckt. Wir
miissen da anfangen, wo Marx' grosser Zeitgenosse Pierre
Joseph Proudhon anfangen wollte.
Der sah die Dinge der Welt nicht mit den Augen
des politisierenden Philosophasten, sondem mit denen des
freiheitlichen Enthusiasten: und darum sah er sie, wie sie
wirklich waren. Er sah das Elend und die Verworrenheit
und wusste, dass man dagegen nicht mit theoretischen
Systemen kampft, sondern mit der zugreifenden Hand.
Und so riet er zum Anfang, zur Tat, zur Arbeit.
Das ist der Unverstand der kapitalistischen Produk-
tionswirtschaft: es wird gearbeitet ohne Riicksicht auf die
Nachfrage. In den Speichem haufen sich die Waren, man
redet von Ueberproduktion, aber die, die Waren brauchen,
bekommen sie nicht. Mancher Arbeiter fertigt sein Leben
lang Hemdstoffe an; sein Auftraggeber jammert iiber die
Krise in der Textilindustrie, die ihm mit seinen Vorraten
an Hemdstoffen den Markt verschliesst; aber der Arbeiter,
der unermiidlich weiter webt, kommt nie in den Besitz
der hygienisch und aesthetisch notwendigen Zahl Hemden.
— Diese Absurditat erkannte Proudhon, und so empfahl
er die Griindung der Tauschbank, d. h. einer Institution
zur Regelung des Austausches der Produkte unter den
Arbeitern selbst.
Heute ist eigentlich die Fabrik Arbeitgeber, und es
sollte so sein, dass die Kundschaft Arbeitgeber ware. Ar-
beitet der Produzierende nur noch fur den Bedarf, stellt
er also seine Arbeit ausschliesslich in den Dienst des
Verbrauchs, dann hat er von selber die Kundschaft, die
fur inn Geld, oder — was dasselbe ist — Kredit bedeutet.
Die Griindung von Produktiv-Konsum-Genossenschaften,
die unter Vermeidung des kapitalistischen Marktes mit-
— 38 —
und fureinander schaffien und anschafften, ware der erste
entscheidende Schritt auf dem Wege zum Sozialismus.
Zur Griindung solcher Genossenschaften ruft Gustav
Landauer auf. Gruppen sollen sich bilden, in denen sich
Menschen vereinigen, die zu gemeinsamem Tun bereit
sind. Vorerst ist nur Werbung und Verstandigung Auf-
gabe dieser Gruppen, deren etliche schon bestehen und
die sich Gruppen des „Sozialistischen Bundes" nennen.
Ehe sie ans Werk gehen konnen, an den Beginn, bedarf
es noch mancher Vorarbeit. Der Staat, die Parteien, der
sinnlose Konkurrenzkampf haben vieles zerstort, was als
verbindender Geist unter den Menschen war und unter
den Menschen sein muss, die Gemeinsames wirken wollen.
Briiderlichkeit, Gerechtigkeit, Nachstenliebe sind Eigen-
schaften, die nur mit sehr viel gutem Willen, mit sehr viel
Aufopferung und mit sehr viel Nachsicht unter den
Menschen unserer Zeit wieder geweckt werden konnen.
Solidaritat, die iiber das gemeinsame materielle Interesse
hinausgeht, muss erst wieder in die Menschen hineinge-
tragen werden, — das Mittel, Solidaritat, Entschlossenheit,
Opfermut und Rechtsgefuhl zu beleben, ist die Idee, die
zur Ueberzeugung wird, zur Ueberzeugung, dass das Neue
das Richtige ist, dass es kommen soil und kommen muss,
weil das Alte als schlecht erkannt und nicht mehr ertrag-
lich ist.
Sind die rechten Menschen beieinander, solche, deren
Wille sich nicht bandigen lasst, Verzweifelte, die keine
Materialisten sind, sondern Draufganger, Unbesonnene,
Idealisten, dann wird die neue, die sozialistische Gesell-
schaft von innen heraus von selbst erwachsen. Dann wer-
den die Gruppen, die zur Arbeit drangen, in eigenen Sied-
lungen das herstellen, was sie notig haben. Die verschie-
denen Siedlungen werden mit einander in Tauschverkehr
treten; der Ertrag der Arbeit wird denen gehoren, die
sie geleistet haben, und aus den Gemeinschaften, Biinden,
Siedlungen, Kommunen wird die neue sozialistische Ge-
— 39 —
Seilschaft erstehen, die gewiss anders aussehen wird als
wir sie traumen, und die ganz gewiss besser, menschlicher,
schoner, kulturvoller sein wird, als der Staat mit seinen
Kasernen, Gefangnissen, Zuchthausern, Bordellen, Poli-
zeiwachen, Zwangsschulen, Kirchen und Parlamenten.
Was ich hier skizziert habe, ist der diirftige Extrakt
dessen, was Landauers „Aufruf zum Sozialismus" enthalt.
Was da Kritisches iiber den Staat und iiber den Marxis-
mus steht, ist ebenso iiberzeugend, wie das, was Landauer
Positives vom Sozialismus und vom Sozialistischen Bunde
sagt, begeisternd ist. Wen Theorieen, Kritiken und national-
okonomische Spekulationen nicht interessieren, der lese das
Buch um der warmen, starken Leidenschaft willen, mit
der es geschrieben ist. Wer aber bei der Lektiire kalt
bleibt und nicht selbst zum Eiferer wird, der bleibe ja
bei seinem Leisten oder bei seiner Politik; aus ihm soil
beileibe kein Proselyt gemacht werden.
Tagebuch aus dem Gefangnis.
(Fortsetzung).
Die Freude der Ruhe dauerte nicht lange. Das Schlussel-
bund in der eisernen Tiir weckte mich. Der Aufseher rief: Auf-
stehen ! — und ich konnte konstatieren, dass meine jammervolle
Zelle in den verwaschenen Konturen der Fruhdammerung sichtbar
wurde. Ich musste mich ankleiden: ohne Hosentrager, ohne Kra-
gen und Krawatte, ohne Kneifer, ohne Stiefel, an deren Stelle
mir Hauslatschen gebracht wurden. Meine Knochen taten mir von
dem harten Liegen uberall weh, und die Haut juckte an alien Enden
entsetzlich. Ich krempelte den Aermel des Hemdes hoch und be-
merkte zahllose Flecken und Stiche, aber noch heute weiss ich nicht,
ob mir diese Nacht Flohstiche, Wanzenstiche, Kratze oder ner-
vose Nesseln eingetragen hat *) und noch heute bin ich die ver-
flucht juckenden Blasen nicht los. Inzwischen wurde ich gewahr,
dass es 6 Uhr in der Frlihe war, eine Zeit also, die mir zum Zubett-
gehen vertrauter ist als zum Aufstehen. Aber was will man als
einsamer Gefangener gegen die Gewalt der Obrigkeit anfangen?
*) Spater stellte sich heraus, dass ich mir auf dem Strohsack
des Polizeigefangnisses allerlei Stiche zugezogen hatte, und wenige
Tage nachdem ich diese Satze geschrieben hatte, trat dann auch eine
widerliche Scabies in die Erscheinung, die ihr Entstehen ebenfalls
dem Auf enthalt dort unten verdankte.
— 40 —
Ich durfte mich nun in einem hasslichen Raum waschen und
erhielt einen Topf mit frischem Wasser und dazu ein grosses
klitschiges Stuck Brot. Mit diesem Frtihimbiss wurde ich wieder
allein gelassen, sah es langsam heller werden und hatte nicht die
geringste Moglichkeit, mich mit irgend etwas anderm als mit mei-
nen Gedanken zu beschaftigen, die nicht eben die trostlichsten wa-
ren, und die sich jetzt ziemlich teilnahmslos von dem viertelstiindi-
gen Kirchturmsgruss unterbrechen liessen. Gegen 7 Uhr kam der
Aufseher, der nicht mehr so nett war, wie am Abend vorher, holte
die Matratze aus der Zelle und erwiderte auf meine Frage, was
denn nun eigentlich mit mir geschehen solle, mittags gegen 7,1 Uhr
wlirde ich wohl dem Untersuchungsrichter vorgefuhrt werden. Das
war keine erfreuliche Aussicht, jetzt fiinf Stunden lang ohne jede
geringste Tatigkeit in diesem schandhasslichen Kellerverliess auf
der schmalen Holzbank sitzen zu mlissen, denn das Herumlaufen
in den Straflingslatschen fiel mir schwer. So legte ich mich also
auf die harte Bank und schlief wirklich in kurzer Zeit ein. Plotzlich
aber kam der Aufseher, der mir verkiindete, am Tage liegen dilrfe
ich nicht; dann verschwand er wieder. Die Gedanken, die ich ihm
nachschickte, waren nicht eben zartlich, obwohl er sein Verbot
mit der Entschuldigung vorgebracht hatte, wenn die Aufsicht kume,
wilrde man ihm Krach machen. Ich setzte mich also auf die Bank,
liess den Kopf auf die Knie hangen und versuchte, in dieser Stel-
lung von neuem einzuschlafen. Nach einer bis zwei Stunden, wah-
rend derer wieder abenteuerliche Ideen und Spekulationen um mein
Gehirn geflogen waren wie die Aasgeier um den Galgen, siegte endlich
auch wieder die Mudigkeit, und ich schlief trotz der unbequemen
Stellung, trotz des Juckens, trotz der traurigen und aufgeregten
Gedanken wiederum ein. Eitle Hoffnung, endlich ungestort aus-
ruhen zu konnen. Kaum waren mir die Augen zugefallen, als mich
der Aufseher anrief und mir befahl, ihm sogleich zum Kommissar
zu folgen. Auf meine Bitte wurde mir zu diesem Gange wenigstens
der Kneifer bewilligt.
Am Ende des Kellers, in dem die Gefangenenzellen lagen,
ilbergab mich der Aufseher einem Polizeimenschen, und so -uninteres-
sant dieser Herr an sich war, so fiel mir doch in dem Moment, wo
er anfing, mich die Treppen hinaufzukommandieren, wieder der
Charakterunterschied zwischen Polizisten und Gefangenenwartern auf.
Ich kam in einen Saal, wo etwa acht jiingere Leute an einem lan-
gen Tische sassen, immer je zwei einander gegentiber, und schrie-
ben: lauter Polizeiakten, dachte ich mir, die da gefiillt werden. Wie
fremd muss den armen Menschen, die sie vollgeschrieben haben, die
lebendige Wirklichkeit bleiben, die fur sie ewig nur „Material" ist.
In einer Ecke dieses Biirosaals stand ein Aktenschreibtisch, vor dem
— 41 —
ein beleibterer Polizeimensch sass, der mich ins Verhor nahm. Die-
ses Verhor bestand darin, dass er mich fragte, ob ich Erich Mlihsam
heisse, bisher in der . . . Strasse 84 gewohnt habe und gestern abend
von dort abgeholt sei. Das bestatigte ich ihm. Hierauf fragte er
mich, ob ich denn nun mit dem eben derart geschilderten Erich Muh-
sam identisch sei, worauf ich antwortete: „Ich vermute." — Diese
Antwort setzte den Polizeikommissar offenbar in einige Verwirrung.
Nachdem er wiederholt hatte: „So ? — Sie vermuten das nur ?" —
besann er sich eine Weile, nahm dann einen Bogen Papier her und
verfasste darauf ein Protokoll, das besagte: „Ich bin mit dem Schrift-
steller Erich Muhsam, mosaisch, geboren etc., wohnhaft etc., iden-
tisch." Hierunter ersuchte er mich, meinen Namen zu schreiben,
was ich zu seiner grossen und deutlich bemerkbaren Beruhigung tat.
Eigentlich kitzelte es mich in dem Moment, die Unterschrift nicht
zu geben, wozu mich keiner hatte zwingen konnen. Aber ich war
doch schon zu miirbe, um etwa unangenehme Wirkungen eines
letzthin schlechten Witzes noch auf mich nehmen zu mogen. Also
um zu bestatigen, dass ich mit mir identisch sei, hatte ich den end-
lich gewonnenen Schlaf abschlitteln miissen.
Jetzt durfte ich wieder hinuntergehen. Der Aufseher nahm
mir den Kneifer ab, und ich wurde von neuem in die unwirtliche
Zelle bei Wasser und Brot eingeschlossen. Weitere Versuche, den
Schlaf zurtickzubeschworen, misslangen vollig, und ich uberliess mich
nun meinen Betrachtungen, Erinnerungen und Erwagungen. Ich
verglich diese Verhaftung mit der, die ich vor anderthalb Jahren mit
Johannes Nohl zusammen in Ascona erfuhr, und stellte fest, dass,
obgleich die ausseren Formen damals grober waren: Fesselung, fast
einstundiger Transport zu Fuss mit den schweren Handschellen,
Aufstoberung aus dem Bett nach vier schlaflosen Nachten und erst
einer halben Stunde Schlummer, Puffe und Gewalt bei der Fest-
nahme — obgleich alle diese Rohheiten diesmal nicht dabei waren,
doch meine jetzige Lage unendlich weniger erfreulich sei als die da-
mals. Damals waren wir zwei Freunde, die ein gleiches traf; die
ganze Affare hatte die Romantik des Sudens; die Beamten, die
uns fortfuhrten, wirkten nicht wie diese Norddeutschen als exakte
Mechanismen, sondern als rohe italienische Schlingel; dann kam dort
die verwanzte, dreckige, stinkige Zelle zu zweien in dem herrlichen
alten „antico castello", von dem man — und gerade von meiner Zelle
aus — den prachtigsten Ausblick auf den See und auf die wun-
dervollen Berge hatte, die mit Tagesanbruch immer goldiger in
unsre verlausten Kafige schauten; schliesslich die Verstandigung zwi-
schen dem Freund und mir durch lautes Schreien von einer Zelle
in die andere, in einer Sprache, die die groteske Hexe von italieni-
scher Beschliesserin nicht kannte. — Hier hingegen ich allein, ohne
— 42 —
einen Menschen bei mir, der sich um mich sorgt, und um den ich
mich zu sorgen hatte. Alle elementare Brutalitat ersetzt durch eine
geschaftsmassige, funktionelle Nuchternheit. Und nur ein Umstand,
der hier wie dort die Situation komplizierte: die vollige! Unkennt-
nis gegeniiber den Grtinden, die die Verhaftung veranlassten. Aber
auch darin welcher Unterschied zugunsten Asconas! Dort wussten
wir, es liegt nichts vor, und wir haben die Advokaten, den Arzt und,
den Friedensrichter des Orts zu Freunden, deren Wink zu unsrer
Befreiung genugen wiirde. Das zeigte sich dann auch: als wir
nach achtzehnstilndiger Haft trotz unsres lebhaften Verlangens dem
„Procuratore" nicht vorgeftihrt wurden, schickten wir vier gleichlau.
tende Telegramme zur Beforderung nach Ascona an die Cara-
binien, die uns in Gewahrsam hatten: „Senza cosa arrestati: Prego
da noi liberare. *) Mtthsam. Nohl." Die Telegramme wurden gar
nicht abgesandt. Zehn Minuten, nachdem wir sie aufgesetzt hatten,
waren wir frei. — (Fortsetz. folgt )
Munchner Theater.
(„Ratten." — „Die Spielereien einer Kaiserin.")
Gerhart Hauptmann war in Miinchen lange arg vernachlassigt
worden. Es ist kaum verzeihlich, dass ausser „Kollege Crampton",
dessen Inszenierung eine der ersten Taten Steinrucks am Hoftheater
war, Jahre hindurch keines seiner Stticke auf dem Repertoire der
Miinchener Buhnen erschienen ist. Seine letzten Dramen sind hier
iiberhaupt nicht gespielt worden. Es ware sehr zu wlinschen, dass
einiges von dem Versaumten noch nachgeholt wiirde. Mindestens
sollte man das Glashuttendrama „Und Pippa tanzt" spielen, dessen
hoher dichterischer Wert lange nicht geniigend geschatzt wird. —
Die Auffiihrung der „Ratten" im Residenztheater hat ja wieder
bestatigt, wie stark immer noch die Durchschlagskraft der Haupt-
mannschen Dramatik ist, und mit wie grossem Unrecht man ihn
der Vergangenheit zurechnet.
Man hat der Berliner Tragikomodie in der offentlichen Be-
urteilung schweres Unrecht getan. Das ist ein Stuck von erschlit-
ternder Wucht und von machtigem Ethos. Ob die Bezeichnung
„Tragikomodie" vor der Pedanterie exakter Philologen standhalt,
scheint mir wenig betrachtlich. Meinetwegen soil man gern ein-
wenden, dass es sich um eine Tragodie handelt, in die eine neben-
herlaufende Komodie fliichtig hineinspielt Wesentlich ist nicht der
Titel, sondern die Gestaltung. Wesentlich ist, dass die schauerliche
Tragik, die aus der verzweifelten Sehnsucht eines enterbten mtitter-
*) Grundlos eingesperrt. Bitte uns zu befreien.'
— 43 —
lichen Herzens erwachst, Sinn und Geftihl vollig gefangen nimmt,
dass Personen, Umstande, Milieu und Handlung von einem Dich-
ter gesehen und erfasst und mit folgerichtiger Grausamkeit zur
Tragodie gefiigt sind, und dass das komodienhafte Nebenher be-
freiend und versohnend wirkt: wie denn auch in Wahrheit uberall
Tragisches und Komisches nebeneinander geht, und eines dem an-
dern vor die Fiisse lauft.
Die Figur des Theaterdirektors Hassenreuther, der in sehr amli-
santer Weise die Rolle des Raisonneurs in dem Stuck spielt, ist
mit der gleichen treffsicheren Wahrhaftigkeit gezeichnet, wie die
Trager des eigentlichen Dramas, und wie die ganze Fulle der Haupt-
und Nebenpersonen, die unmittelbar oder mittelbar in die Verwick-
lungen der Kindesunterschiebung hineingezogen werden. Die Charakte-
ristik der unglilcklichen Frau John selbst ist meisterhaft. Mit
einer Notwendigkeit, die keinen Ausweg lasst, ftigt sich ihr
Schicksal aus ihren Handlungen. Der gutgemeinte Betrug, ihrem
Mann das in seiner Abwesenheit in ihrer Obhut heimlich geborene
Kind der polnischen Magd, das sie in Pflege genommen hat, als
ihr eignes vorzutauschen, hetzt sie von einer Angst in die andre.
So hauft sie Luge auf Luge gegen den Mann, Rohheit und Arglist
gegen die richtige Mutter des Kindes und uberlasst schliesslich
ihrem verwahrlosten Bruder Bruno die Entwirrung des schreck-
lichen Knauels ihrer Aengste, der sie so rabiat wie moglich be-
wirkt: durch die Ermordung des Polenmadchens, das der gehetzten
Frau wie das bose Gewissen zusetzt. — Der biedere Maurerpolier
John, die getretene Polin Pauline Piperkarcka, die Familie des
Theaterdirektors, sein Hauslehrer, der verliebte Theologiekandidat
Erich Spitta, nicht zuletzt der gewalttatige Bruder der Frau John —
das alles sind Gestalten von ungeheurer Plastik und Sichtbarkeit.
Die neue Arbeit darf sich neben den besten Dramen Hauptmanns
zeigen.
Herrn Basils sehr tuchtige Regie brachte eine im ganzen recht
gute Darstellung zustande. Die typisch berlinische Atmosphare kam
vorzliglich zur Geltung und auch die meisten Einzelleistungen stan-
den auf der Hohe ihrer Anforderung. Die ilberaus schwierige
Rolle der Frau John (deren restlose Ausfullung natilrlich einzig
Else Lehmann vorbehalten ist) fand in Frl. Schwarz eine Inter-
pretin, die in Sprache und Gebarde echt war und in Momenten
starke Wirkung ilbte. Auch Basils Maurerpolier John uberzeugte
durchaus. Die Piperkarcka gab Frl. Terwin, deren reiche Begabung
sich hier in der Rolle des misshandelten Proletariermadchens in
neuer Beleuchtung zeigen konnte. Gut waren auch Herr v. Jacobi
als Erich Spitta, dem er zur ausseren Demonstration seiner Auf-
fassung die Maske Gerhart Hauptmanns gab, und Frau von Hagen
in einer Episodenrolle. Leider versagten die Trager der komi-
— 44 —
schen Rollen. Den Theaterdirektor hatte man sich keineswegs
als den weltmannischen Causeur gedacht, als der er hingestellt wurde,
sondern als stets feierlichen Pathetiker, der mit grossen Schmieren-
gesten toternst seine Phrasen schmettert. Vollig unmoglich war
der erste Schauspielschuler. Das ungraziose Herumhantieren dieses
Theaterjilnglings war qualvolle Karrikatur statt komischer Unbehol-
fenheit. — Dagegen ist von zwei hervorragenden Leistungen be-
sonders zu sprechen. Steinrilck spielte den verkommenen Bruder
der Frau John. Er stand nur kurze Zeit auf der Buhne — aber
in diesen paar Minuten stockte einem das Blut im Halse. Dieser
rabiate Patron mit der tonlosen uninteressierten Stimme, der ge-
wissenlosen Entschlossenheit und dem gelinden Stich ins Sentimen-
tale — das war einer der starksten Buhneneindrlicke, die ich noch
erlebt habe. — Nachst Steinrilck gab das Beste Frl. Pricken Diese
Schauspielerin ist schon mehrfach aufgefallen, wenn sie Kinder-
rollen zu spielen hatte: in der „Buchse der Pandora", in „Alles
um Liebe" und in „Casar und Cleopatra" wirkte ihr kleiner Wuchs
und ihr gutes Spiel vortrefflich zusammen. In den „Ratten" hatte
sie ein kleines Berliner Madel zu gestalten, das im Hause der John
ihr kleines Bruderchen betreut. Frl. Prickens Selma Knobbe war
eine Meisterleistung. Wie die plarrende Nutte schon aussah! Wie
von Zille entworfen, und in Sprache, Haltung, Gebarden und Mimik
traf sie vollig die Berliner Johre. Hier ist ein spezialistisches Ta-
lent, das ganz bedeutende Qualitaten hat. Betrachtet man die Mlinch-
ner Auffuhrung der „Ratten" im ganzen, so darf man den Dichter,
das Residenztheater und die Darsteller begluckwiinschen .
Einerr sehr interessanten .Theaterabend verdankten wir dem
„Neuen Verein", der am 15. Mai „Die Spielereien einer Kaiserin",
von Max Dauthendey zur Urauffuhrung brachte. Das Versdrama
behandelt in sechs Bildern die Geschichte der russischen Kaiserin
Katharina I. Vielmehr: es zeigt in sechs Bildern die Geschichte
der Liebe Katharinas zum Feldmarschall Menschikoff. Vielmehr: es
stellt sechs Bildern, in denen Katharina sich gleich bleibt, und in
einem Zeitraum von 25 Jahren, als Dragonerweib, als Maitresse
des Feldmarschalls, als Gattin des Zaren und als Selbstherrscherin
mit ihrem Schicksal und ihrer Liebe spielt und aus ihrem Spiel
— naiv und raffiniert zugleich — ihr Schicksal und das ihrer Liebe
fligt. Die grosse Verskunst Dauthendeys schafft eine Sprache von
blendender Schonheit, die grosse Bildpracht seiner Phantasie, die
wir aus seinem prachtvollen Novellenband „Lingam" kennen, schafft
Szenen von grosser Lebendigkeit und Konzentration. Ein Drama
— so nennt der Dichter sein Werk — ist aus den „Spielereien einer
Kaiserin" nicht geworden, aber eine Aneinanderreihung von Mo-
menten aus dem Leben Katharinas, deren jeder zu einem fein zise-
lierten Kabinettstlick verarbeitet ist.
— 46 —
Als Darstellerin der Katharina war Tilla Durieux von Berlin
gekommen. Es ist nicht denkbar, sich die Figur der schonen
Frau, die ein Gemisch von unschuldigem Volksweib, Kurtisane, Heldin,
Abenteuererin und Idealistin ist, vollkommener verkorpert vorzu-
stellen, als die Durieux sie spielte. Sie war strahlend schon, Iiber-
legt und sicher, leidenschaftlich und zurilckhaltend — und in jedem
Augenblick bezwingend. Die Durieux verfligt ttber die starksten
ausseren Wirkungsmittel, die sie imponierend bandigt. Sie ist zu
klug, um der Gefahr des Virtuosentums zu verfallen, zu stark und
gesund, um ihre Kunst an Nebensachlichkeiten zu zersplittern. (Man
vergleiche sie nicht mit der Eysoldt. Die ist intuitiv, wo die Durieux
bewusst ist. Die Durieux steht mit beiden Flissen auf dem Boden,
die Eysoldt lasst sich von ihrer Eingebung tragen. Meine tiefere
Liebe gehort Gertrud Eysoldt. — In der Gestalt der Katharina
konnte Frau Durieux ihr ganzes fabelhaftes Konnen zeigen; der
Eindruck ihrer Personlichkeit war machtig.
Es ist in der Rolle begrundet, dass neben der Figur Katharinas
alle anderen in den Hintergrund treten. Selbst ihr Geliebter, der
Feldmarschall Menschikoff, ist eigentlich Nebenperson. Albert Stein-
riick konnte nur manchmal zwingend wirken. Er bewegte sich
weniger sicher, als wir es von ihm gewohnt sind und gab keinen
einheitlichen Charakter. Der Zar Peter wurde von Herrn Basil
kraftig und glaubhaft gestaltet. Sehr anmutig war Frl. Terwin
als Prinzessin Sascha und auch Herr Schwanneke, der einen gecken-
haften franzosischen Grafen spielte, tat sein Bestes.
Hoffentlich wird das Stuck, das bei dieser privaten Aufflihrung
sich als sehr wirksam bewahrt hat, und das schon mehrere
Jahre alt ist, nun endlich auf den standigen Btihnen Eingang finden.
Bemerkungen.
Der unzuchtige Marquis. Einem Milnchner Staatsanwalt (er hort auf den
Namen Dr. Hass, womit an und filr sich ja wenig gesagt ist) ist es ge-
lungen, einen Gerichtsbeschluss herbeizuflihren, der geeignet scheint,
dem schamhafteren Teil der bayerischen Biirgerschaft das begluckende
Geftihl erhohter Moralsicherheit leinzuflossen. Es handelt sich um
Zeichnungen des Marquis de Bayros, und der Dr. Hass wurde geradezu
lyrisch, als er seinem Abscheu vor diesen Erzeugnissen Ausdruck gab.
Der Maler hatte sich vor dem Schwurgericht verantworten sollen,
war aber nicht gekommen, weil er, wie ihm von osterreichischen
Aerzten bestatigt wurde, nervenleidend ist. Herr Dr. Hass schloss
aus seinem Fernbleiben, dass er sich „dem beschamenden Schau-
spiel, das ihn erwartete, durch die Flucht entzogen" habe und
beantragte und bewirkte die Erlassunng eines Haftbefehls gegen
den Marquis de Bayros und die Beschlagnahme seines in Deutsch-
land befindlichen Vermogens. Sein nacktes Leben hat der Ktinst-
ler, da er sich im Ausland befindet, glilcklich aus den Fingern der
Justiz gerettet; die Beschamung bleibt also uns iibrigen.
— 46 —
Marquis de Bayros ist beschuldigt, „im Dezember 1907 in Mlin-
chen 16 von ihm selbst gefertigte unzilchtige Zeichnungen dem
Dr. Semerau *) zur Verbreitung mit dessen Werk „Die Geheimnisse
am Toilettentisch" iibergeben und ein Mappenwerk „Die Purpur-
schnecke" angefertigt, feilgehalten und verkauft zu haben, das gleich-
falls unzilchtige Bilder enthalte." — Der Staatsanwalt fand die Seele
des deutschen Volkes dadurch bedroht, dass der Angeklagte seine
graziosen Laszivitaten einem kleinen Kreise von Bekannten zugang-
lich gemacht hat (an denen wahrscheinlich doch nichts mehr zu ver-
derben war), und dass besagtes deutsches Volk Gelegenheit er-
hielt, bei Anlegung eines Vermogens von etwa 100 M. aus seiner
Unschuld und Harmlosigkeit roh aufgeschreckt zu werden. Der
Herr Staatsanwalt musste sich hollisch anstrengen, um seinen Zweck
zu erreichen. Er musste Schiller und Goethe zitieren und sich auf
den von ihm „hochverehrten Michelangelo" berufen, um die Ver-
worfenheit des Angeklagten ins rechte Licht zu stellen. Da er
sich auf das Zeugnis des Professors Stuck stiitzen konnte, der er-
klart hat, dass ihm die Zeichnungen des Herrn de Bayros „trotz ihrer
kilnstlerischen Ausfiihrung, infolge der dargestellten Vorgange aus-
serst widerwartig" seien, so verfolgt jetzt (wir schreiben 1911) einen
anerkannten Kilnstler um seiner Produktion willen ein Steckbrief.
Die Anstrengungen des Staatsanwaltes Dr. Hass, in dem Mar-
quis den Verbrecher zu entlarven, und der Gerichtsbeschluss, in
dem die Auffassung recht behalt, dass man einen Kilnstler vom
Range de Bayros' nicht frei herumlaufen lassen darf, sind zwar wert-
volle Beitrage zum Kapitel Justiz und Leben, — viel interessanter
aber scheint mir das kollegiale Gutachten des Herrn Professors
Stuck. Wir haben uns zu vergegenwartigen: Stuck erbietet sich,
vor Laien — man lese es in Oscar Wildes Lebensgeschichte nach,
wie Schwurgerichte gegen Kulturmenschen zusammengesetzt werden
— die Meinung zu vertreten, dass Kunstwerke nicht nach ihrem
Ausfilhrungswert, sondern nach den dargestellten Vorgangen zu be-
urteilen sind. Damit begibt sich der Herr Professor unzweideutig
auf den Standpunkt der Pornographenjager Kausenschen Kalibers.
Ausgerechnet Stuck, dessen harmlos-damonische Leibermalerei ihn
ehedem in den Geruch der Hypermodernitat brachte, und iiber
dessen Modernitat man heute milde zu lacheln geneigt ist.
Will man das Wort „Pornographie", mit dem ein heilloser
Unfug getrieben wird, iiberhaupt gelten lassen, so darf es nur die
Bedeutung haben: unkunstlerische Darstellung geschlechtlicher Si-
tuationen. Besser ware es schon, man verzichtete ganz auf Aus-
drlicke, die in sich selbst eine moralische Betonung haben. Wenn
aber jetzt Kilnstler selbst antreten und sich moralisch iiber Werke
entrtisten, deren objektiven Wert sie anerkennen mttssen, dann ent-
steht die ttble Begriffsverwirrung, die die Beurteilung asthetischer
Werte dem Kadi und gar den Geschworenen ubertragt.
Strafte der § 184 einfach den, der geschlechtliche Vorgange dar-
stellt mit Gefangnis, den, der sexuelle Spezialitaten im Bilde zeigt,
mit Zuchthaus, so ware seine Anwendung ebenso trocken, gemiitlos
*) Nach Fertigstellung dieses Heftes kommt die Nachricht
von der im Ausland erfolgten Verhaftung des Dr. Semerau. Die
ungeheuerliche Tatsache dieser Verhaftung kann hier leider nicht
mehr gebiihrend gewiirdigt werden. Man gedulde sich einen Monat.
Ich hole inzwischen aus.
— 47 —
und ungerecht wie die eines jeden andern Gesetzparagraphen, aber
immer noch weitaus ertraglicher als das Operieren mit dem vagen
Begriff „unsittlich" oder „pomagraphisch" oder gar die Diskussion,
vor der Richterbarre, ob einem Werke ktinstlerische Bedeutung
beizumessen sei oder nicht. Die Verhandlung liber das Werk des
Marquis de Bayros hat ja gezeigt, wohin die Handhabung des ge,
lenkigen Paragraphen heutzutage fuhrt: der Staatsanwalt ktimmert
sich um den klinstlerischen Wert der Zeichnungen und der Kunst-
sachverstandige um ihr Thema. Der Hass wird lyrisch und der
Stuck ethisch, — der Angeklagte aber hat sich dem beschamenden
Schauspiel durch die Flucht entzogen.
Georg Hirth wird in diesen Tagen siebzig Jahre alt. Man
wird ihn in Festartikeln und beim Wein feiern, wie es sich am
Ehrentage eines um den Geschmack unsrer Tage sehr verdienten
Mannes gehort. Ich mochte nicht zuruckstehen, und ich glaube,
Herr Doktor Hirth wird den Gllickwunsch zu achten wissen, der
sich nicht am Weihrauchstreuen genug tut, sondern kritisch wertet,
wie sich das Lebenswerk eines ehrlichen Kulturwillens heute dar-
stellt. Als die „Jugend" gegriindet wurde, wirkte sie wie ein Freu-
denschuss in der Nacht. Das deutsche Lesepublikum, an die
kitschigen Bilderdrucke der „Gartenlaube" und des „Daheims" ge-
wohnt, wurde plotzlich gewahr, dass es ilber die Genremalerei hinaus
eine Kunst gibt, die in Ausdruck, Farbe und Geste jugendliche
Lebendigkeit hat. Es wurde erinnert, dass der Mensch nackt auf
die Welt kommt, dass er frohliche Sinne hat, und dass die bisher
ilberall muckerisch verhiillten Formen des menschlichen Korpers schon
genug sind, um sie zur Freude des Auges und des Gteistes auch
ausserhalb der Museen im Bilde zu zeigen. In lustigen Karikaturen
wurde der pfaffische Feigenblattgeist verulkt; in Skizzen, No-
vellen und Versen sagten von der Wohlanstandigkeit angstlich ge-
miedene Dichter ketzerische Bekenntnisse, und munterer Witz er-
schtitterte den fundierten Respekt vor alien traditionellen Dogmen.
Trotz ihrer patriotischen Richtung — die „Jugend" war ein revo-
lutionares Blatt, ein Blatt der Neuerung und Hoffnung, das seinem
famosen Titel Ehre machte. Bildende und schreibende Klinstler,
von denen die Menge nichts gewusst oder die sie spottisch und ar-
gerlich belachelt hatte, wurden popular, und Georg Hirth war der
Mann, dessen Energie, Opfermut und fortschrittlicher Geist, un-
beirrt durch Kabalen und Ranktinen, durch Angriffe und Sittlich-
keitsgezeter, der heiteren Festlichkeit der „Jugend" zum Erfolg ver-
half. Das beste Zeugnis, das man einem Menschen ausstellen kann,
Georg Hirth hat es verdient: er hat gewirkt. Ihm danken wir eine
Lauterung des Geschmacks bei der grossen Masse, die vor 15 Jah-
ren noch unmoglich schien. Man vergegenwartige sich nur die
Variationen des Werlbegriffs „Jugendstil". Als das Wort aufkam,
war es das Kampfgeschrei der „Modernen". Den Vielen galten
die Linienarabesken der neuen Ornamentik als ubelste Geschmack-
losigkeiten — bis sie sich durchsetzten; bis sie in alien Massen-
artikeln der Warenhauser prangten, — bis sie — so ist es heute —
uns als uberlebter Kitsch zum Speien zuwider geworden sind. Der
„Jugendstil" gehort der Vergangenheit an, und das ist uberaus
erfreulich, denn es zeigt, dass sein Aufkommen der Entwicklung
einen so kraftigen Stoss nach vorwarts gab, dass er selbst sich nicht
— 48 —
so lange festsetzen konnte, wie der Gute-Stuben-Stil der drei Jahr-
zehnte vorher. Hirth's Verdienst. Und Hirth's Verdienst ist es
auch, dass der Anstoss, den die „Jugend" selbst der kiinstlerischen
Einsicht des deutschen Volks gegeben hat, so stark war, dass der
Geschmack der Zeit das, was die „Jugend" im Anfang bot und
heute noch bietet, langst iiberholt hat. Dass die „Jugend" nicht
schrittgehalten hat mit der Zeit, ist nicht Hirts Verschulden. Er
hat deutlich gezeigt, was er wollte: die Jungen an der Spitze mar-
schieren lassen. Hirth hat so lange wie wenige zu den Jungen ge-
hort. Heut aber sieht er wohl nicht mehr, dass die Jugend schon:
ganz woanders ist wie die „Jugend". Der ist das Publikum nach-
gertickt, und die Zeitschrift, die einst die Standarte im frohlichen
Kampfe war, hat ihr garend Drachengift zur Milch der frommen
Denkart gerinnen lassen und ist heute ein Familienblatt, das in
keinem besseren Haushalt fehlt. Das aber ist das Schlimmste, dass
ihr der Charakter als Familienblatt bewusst geworden ist, dass sie
Riicksichten nimmt auf den Spiesser, der ihr Abonnent ist, und dass
sie das Draufgangertum, das Junge, das Kraftige und Neue jetzt
Schulter an Schulter mit dem Philister bekampft. Hirth ist nicht
verantwortlich dafilr, dass die Mitarbeiter an seinem Blatt heute
nicht mehr nach Talent und frischem Wollen gefragt werden, son-
dern nach bravem Lebenswandel und loyaler Gesinnung. Moge er
die „Jugend" eines Tages wieder von neuem, freiem, kampferischem
Geist belebt sehen, der sie ihres Namens wert mache! Das ist
mein Wunsch fur den Siebzigjahrigen.
Die nervenschwache Polizei. Ein weitverbreitetes Vorurteil meint,
dass es der Polizei vor gar nichts graust. Erinnert man sich der abge-
schlagenen Hand in Breslau, des Totschlags an dem Arbeiter Her-
mann oder des Selbstmords des Studenten Dubrowsky in Berlin, so
konnte diese Ansicht berechtigt erscheinen. Sie ist es aber nicht. Die
Mlinchner Polizei namlich, die klirzlich an der Leiche eines gesturzten
Gauls Strassenschlachten schlug, hat jetzt ihr empfindsames Gemlit ent-
deckt. — Der Wiener Maler Max Oppenheimer veranstaltet gegen-
wartig in der „Modernen Galerie" bei Thannhauser eine Ausstel-
lung seiner Werke. Eines der Bilder wilnschte der Klinstler Bis
Vorlage zum Plakat der Ausstellung zu verwenden. Es stellt einen
nackten Mann dar, der sich mit den Handen die Brust aufreisst, aus
der das Blut stromt. Die Polizei hat den offenflichen Anschlag des
Plakats verboten mit der Begrundung, dass es ihr obliege, fur die
Wahrung des guten Geschmacks zu sorgen. Die Nacktheit des dar-
gestellten Mannes kann filr die Polizei kein Grund zum Einschreiten
gewesen sein. Denn das, worauf sich bei Aktbildern das Konfis-
kationsinteresse der Behorde zu konzentrieren pflegt, ist auf dem
Oppenheimerschen Plakat nicht sichtbar. Es bleibt nun also keine
Annahme ilbrig als die, dass es dem Mlinchner Zensor vor dem
roten Farbfleck auf der Brust des Junglings gegraust hat. Leute,
die etwas davon verstehen, finden die Ausstellung Oppenheimers
ausserordentlich schon; die Munchner Polizei besinnt sich auf ihren
Beruf als Huterin des guten Geschmacks und bewahrt das Publi-
kum vor dem Anblick der blutigen Aftiche. Die Mlinchner Polizei
kann offenbar kein Blut sehen, — wenigstens kein gemaltes.
Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9.
Druck von Max Steinebach. Miinchen, Baaderstr. 1 u. 1 a. Geschaftsstelle: Miinchen, Baaders«-, la. Tel. 2355.
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der „Kain" ohne Preiserhohung in grofierem Umfange erscheinen.
Die zahlreichen Zuschriften, die ich erhalte, und die teils die zweite
Nummer auf Kosten der ersten, teils die erste auf Kosten der zweiten
loben, bestatigen mir, dafi ich in der Redigierung der Zeitschrift so
fortfahren soil, wie es mir richtig scheint. Wem meine Art gefallt,
der werbe fiir das Blatt.
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Erich Muhsam.
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OlC ItJUftC* CedUfcte. 1904. m. 2.-W.
Dft KtdtCt* 0emo)tc. 1909. m. 2.-
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„KAIN", Jahrgang 1911/12. (Kain-Verlag Munchen, Baader-
strasse 1 a.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark.
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Soil durch Nachnahme erhoben werden.*)
Genaue Adresse:
Name:
*) Nichtgewiinschtes bitte zu durchstreichen.
Jahrgang I.
No. 4. Jul* 19H-
KMN
Zeif/chrffffur
hen/chd'chM
HemuJgeber;
(jr ichfluhiojn
I n h a 1 1 : Widmung. — Menschlichkeit. — Tagebuch ans dem Gefang-
nis. — Bemerkungen. — Fur Wedekind. — Tariftreue. — Ken-
tucky und Berlin. — Der Herr Rektor. — Semerau.
Kain-Verlag Miinchen.
30 Pfg.
Empfehlenswerte Biicher
aus dem Verlage Max Steinebach in Miinchen, Baader-
strasse 1 a. Zu beziehen durch jede Buchhandlung oder
direkt vom Verlag.
Geschichte des deutschen Arbeiterstandes Mk. 1. —
von Staatsarchivar Dr. Christian Meyer.
Die vorliegende Schrift behandelt nach einer kurzen Einleitung
iiber die geschichtliche Entwicklung des Verhaltnisses zwischen Arbeit
und Besitz, die Geschichte des deutschen Arbeiterstandes von der
altesten Zeit der unfreien Frohnhofwirtschaft an bis herab in unsere
Tage der Grossindustrie mit Maschinenbetrieb. Namentlich das alte
Handwerksgesellentum mit seinen merkwiirdigen, zuletzt vielfach ver-
schnbrkelten und grotesken Einrichtungen und Gewohnheiten hat eine
sorgfaltige Darstellung erfahren.
Geschichte des deutschen Bauernstandes Mk. 1. —
von Staatsarchivar Dr. Christian Meyer.
Eine gedrangte Geschichte des deutschen Bauernstandes von
der Zeit der altesten festen Siedelungen nach dem Schluss der grossen
Wanderungen an bis herab in das 19. Jahrhundert, das in den Stiirmen
des Jahres 1848 auch die letzten Reste der alten Grunduntertanigkeit
unseres Bauernstandes beseitigt und die vollige staatsrechtliche
Gleichstellung desselben mit den iibrigen Gesellschaftsklassen des
Staates proklamiert hat.
Beschichte des deutschen Adelstandes Mk. 1.50
von Staatsarchivar Dr. Christian Meyer.
Eine gedrangte, ubersichtliche Geschichte des deutschen Adels
ist bisher ein Bediirfnis des gebildeten Lesepublikums gewesen. Die
vorliegende Schrift versucht diese Liicke auszufiillen. Neu und eigen-
artig ist die durch alle Phasen der geschichtlichen Entwicklung als
Grundinhalt des Adelsbegriffs festgehaltene und konsequent durch-
gefiihrte Definition des Adels als einer politischen Machtinstitution.
Die Kunst und unser Leben Mk. — .60
von Privatdozent Dr. Artur Kutscher.
Grundlage zu einer kritischen Wiirdigung von Kunstwerken.
Die Schrift bildet eine Polemik gegen Proffessor Max v. Gruber.
Jahrgang I. Miinchen,
No. 4. Mi 1911.
KAIN
Zeitschrift fur Me ns chlichkei t .
Herausgeber: Erich Miihsam.
fr |..| 1,11, | < .|,,H..,M. >■■>. <■<< It 4-1 l-l ■* ■ I 1 >i 1. 1 .l.l.l I i.l J-l J, ■ ,., I.,.,,!, 1..1.I, I ,1, 1 ,1, I ,1, I .I.mFTOT.1 .|,.|.1„1,..
„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einraal. Der Preis betragt
fur das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne-
raent 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene
Nonparaillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an ,,Kain-Verlag",
Miinchen, Baaderstrasse la.
Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber.
Mitarbeiter dankend verbeten.
j.u.i.1 i i ni l.i 1 1 i. i . i -i.i.ijM i .t.jjimj.iJi, i-i,.i.i,.i..j.i.j...j..,i.,l,t,ii-i. | ,l.f ■.)..iM.i...i...i .i .ii I i.
W idmung.
Tin alien friichten unbedenklich lecken;
■* * vor G ott und Teufel nie die W affen strecken;
Kiinftiges miBachten; friiheres nicht bereuen;
den Augenblick nicht deuten und nicht scheuen;
dem leben zuschau'n; A ndrer G Kick nicht neiden;
stets S pielkind sein, neugierig noch im Leiden;
am eignen S dicksal unbeteiligt sein:
Das heiftt genieBen und geheiligt sein.
— 50 —
Menschlichkeit.
Der Untertitel dieser Zeitschrift hat zu Missverstand-
nissen Anlass gegeben, was mir durch mehrere Besuche
und durch mehrere Briefe, die ich empfing, deutlich
geworden ist. Ich halte es daher fur angezeigt, ehe mein
Blatt in den von mir durchaus nicht erstrebten Ruf einer
Wohltatigkeitsanstalt kommt, den Lesern mitzuteilen, was
ich unter Menschlichkeit begreife.
Die Tatsache, dass ich plotzlich Herausgeber einer
Zeitschrift geworden bin, muss — trotz der ehrlichen
Mitteilungen ans Publikum, wie die Finanzlage des Unter-
nehmens bei seiner Griindung beschaffen war — bei
manchen Leuten den Verdacht erweckt haben, ich sei
Kapitalist. Einige von ihnen traten an mich heran und
wollten mich anpumpen, wobei sie sich darauf beriefen,
dass ich als offentlicher Verkunder der Menschlichkeit
doch zu allererst zur charitativen Betatigung dieser Eigen-
schaft verpflichtet sei.
Die mit solchen Ansichten und Absichten zu mir
kamen, waren in zwei Irrtumern befangen: erstens tauschten
sie sich darin, dass sie mich fur einen beguterten Herrn
hielten, zweitens darin, dass sie meinten, das Fremdwort
Menschlichkeit heisse auf deutsch Charitas.
Um vorweg eine eindeutige Definition zu geben:
Menschlichkeit bedeutet die unverdorbene, naturliche,
wechselseitige Einstellung der Menschen zueinander; auf
ehrlichem Urteil und anstandiger Gesinnung ruhende
Beziehungen; Wille zu Gerechtigkeit und Nachstenliebe
und Kampf auf bis zur Geistigkeit erhohtem Niveau.
Mit dem Titel dieser Zeitschrift habe ich ausdriicken
wollen, dass ich es mit den Schlechtweggekommenen halte,
die keine Duckmauser sind, sondern Selbstandige, Starke,
zur Rebellion Bereite, und die gewillt sind, Zustande
reinlicher Menschlichkeit, da sie bis jetzt nirgends vor-
handen sind, schaffen zu helfen. Mit Humanitat im Sinne
— 51 —
von Mildtatigkeit hat die Menschlichkeit, die ich meine,
garments zu tun.
Die Tatsache, dass Humanitat und Menschlichkeit
nach allgemeinem Sprachgebrauch und nach den lateinischen
und franzosischen Vokabularien Synonyme sind, ist mir
allerdings bekannt. Mir ist aber auch bekannt, dass die
Romer das Wort humanitas hauptsachlich gebrauchten,
um damit eine freundlichere Behandlung der Sklaven aus-
zudriicken, als sie allgemein ublich war. Und ferner ist
mir aufgefallen, dass die deutsche Sprache die Anwendung
fremdlandischer Bezeichnungen besonders da liebt, wo
eine Entwertung und Herabwurdigung des deutschen Be-
griffs beabsichtigt ist. Es wird niemand leugnen wollen,
dass es z. B. weitaus hoflicher ist, von dem Gesicht einer
Dame zu sprechen, als von ihrer Visage. Wer seine
Geliebte hochachtet, wird sie ungern als seine Maitresse
bezeichnet horen. Der Besitzer eines neuen Hutes oder
Regenschirmes wird wenig erfreut sein, wenn man seine
schonen Dinge zum Chapeau und Parapluie erniedrigt,
und ein Ritter ist ein viel mannlicherer Kerl als ein
Kavalier, den man sich bios im Smoking vorstellen kann.
Gradeso ist die Humanitat eine verwaschene, korrum-
pierte, unbeseelte Abart der Menschlichkeit, und dass man
dieses Wort kaum mehr anders als in der Bedeutung der
Humanitat gebraucht, beweist nur, dass alle wirkliche
Menschlichkeit iiber Politik und Geschaft verloren
gegangen ist.
Heutzutage glaubt man, es wer weiss wie weit in all-
gemeiner Menschlichkeit gebracht zu haben, und preist
diese Zeiten des Fortschrittes und der Kultur als himmel-
hoch erhaben iiber jene fluchwiirdige Vergangenheit, in
der unzahlige Menschen ihresgleichen als Sklaven horig
waren. Es sei hier nur nebenbei die Frage aufgeworfen,
ob die Einrichtung der Sklaverei denn wirklich aufgehort
hat. Ich glaube: nein. Der Unterschied ist nur der, dass
ehemals der Arbeiter als Sklave nur einem einzigen Herrn
— 52 —
gehorte; jetzt gehort er demganzen Stande der Herren, den
man das Unternehmertum nennt. Ob dieser Zustand viel an-
genehmer ist fur den Exploitierten als der fruhere, muss da-
hingestellt bleiben. Freiheitlicher ist er ganz gewiss nicht.
Aristoteles ist der Ansicht, dass die Sklaverei durch
die Naturordnung bedingt sei, da das Niedere dem Hoheren
dienen musse. Die in unseren Tagen das Wort Sklaverei
emport von sich weisen, den Kapitalismus aber — das
ist das Recht auf den Arbeitsertrag der „Niederen" —
ebenfalls als durch die Naturordnung bedingt hinstellen,
sind nicht lauter klugere, freiere und menschlichere Leute
als Aristoteles.
Man mag mich gemutlos schelten, wenn ich den Ver-
gleich zwischen den Zeiten der Sklaverei und denen der
Menschlichkeit noch ein wenig fortfuhre. Stirbt heutzu-
tage einem Gutsbesitzer ein Pferd oder eine Kuh, so ist
das ein Verlust, der recht empfindlich ist. Im Viehstall
wird daher auf gute Versorgung des Bestandes viel Miihe
gewandt. Stirbt ein Knecht — diese Wurde steht viel
hoher als die eines Sklaven — so ist das sein eigenes
Missgeschick. Fur den Gutsherrn ist er schnell und ohne
Unkosten zu ersetzen. Als die Wohlhabenden noch
Sklaven hielten, war es anders. Da reprasentierte jeder
Arbeiter fur seinen Herrn einen positiven Wert — wie
heute das Pferd und die Kuh — , sein Tod war schmerz-
lich fuhlbar. Daher lag es sehr im Interesse des Brot-
gebers, dem Arbeiter lebenerhaltendes Unterkommen und
auskommliche Verpflegung zu sichern. Ebenso wurden
die leibeigenen Frauen vorsichtig und in aller hygienischen
Sorgfalt gehalten, damit sie im Stande blieben, gesunde
und arbeitsfahige Sklaven zu gebaren, und die Kinder,
die einmal diese Sklaven werden sollten, wurden naturlich
erst recht gehutet und vor Unterernahrung und schwachen-
den Einflussen angstlich bewahrt.
Heute schutzt dieser rohe Sklavenhalter-Egoismus die
Kinder nicht mehr vor Not und Hunger. Skrophulose
— 53 —
und ahnliche Symptome mangelhafter Lebenshaltung kenn-
zeichnen die Entwicklung der Menschlichkeit am Korper
der Kinder. Vater Staat, dessen Interessen mit denen
seiner besitzenden Sachw alter identisch sind, hat wich-
tigere Dinge zu tun, als sich um die Proletarierbalge
anders zu qualen, als durch Zufuhrung religioser Zuver-
lassigkeit und vaterlandischer Begeisterung. Gottseidank
finden aber alternde Damen Musse genug, sich des Jam-
mers der Hungernden zu erinnern, deren Ausdunstung
ja nicht in die Bezirke ihrer Villen dringt. Und sie
arrangieren Wohltatigkeitsbazare mit Orchideen und
Pommery, vergnugliche Maskenballe, Gartenfeste oder
gar Dilettanten-Auffuhrungen.
Kurzlich trug man die Menschlichkeit sogar auf die
Strasse. Jedermann musste Margeriten kaufen, damit den
nicht auf dem Wege uber das Standesamt gezeugten
Kindern das Elend der ersten Lebensjahre erleichtert
werde. In Munchen kamen gegen hunderttausend Mark
dabei heraus, und der gute Burger, der an jenem Tage
auch ein Blumchen im Knopfloch trug, kann frohen
Herzens ein Lied summen, da er zu dem Werk der
Menschlichkeit sein Scherflein beigetragen hat. Wirwerden
namlich nun wohl nachstens lesen, dass fur das Geld ein
Fursorgeburo fur uneheliche Kinder errichtet wird, zu
dem soundsoviele Beamte engagiert werden und dessen
Instandhaltung soundsoviele tausend Mark jahrlich kostet.
— Auch werden gewiss manche Kinder ihren lockeren
Muttern abgenommen und frommen Familien zu einer
Erziehung zugefuhrt werden, die die hereditaren Einflusse
der bedauerlichen Herkunft in der Seele des Kindes zu
verwischen geeignet ist. Ob nicht in mancher dieser
frommen Familien die Sorge um das Kostgeld grosser
sein wird als die um das Kind, wird im einzelnen Fall
wohl schwer zu kontrollieren sein.
Dieser der hoheren Menschlichkeit gewidmete Mar-
geritentag war fur mich ein Tag der Qual. Die aller-
— 54 —
liebsten jungen Madchen, die im besten Glauben an ihre
menschenfreundliche Mission mit leuchtenden Augen und
frohen Gesichtern uberall auf einen zukamen und in
wirklich ruhrender Erfulltheit zum Kauf von Margeriten
zuredeten, abweisen zu mussen, war nicht immer ganz
leicht, und ich sah oft in Mienen, die ob meiner Lieb-
losigkeit ganz traurig wurden. Aber mein Knopfloch blieb
leer. Ich konnte mich nicht dazu entschliessen, auch nur
mit einem Groschen den frivolen Unfug zu unterstutzen,
als der sich mir der Versuch darstellt, die grauenvollste,
furchterlichste Schmach unserer unmenschlichen Zustande,
die Hungersnot unter den Kindern, mit der Arrangierung
eines charitativen Sportfestes zu ubertunchen.
Nichts will ich mit dieser Art Menschlichkeit gemein
haben, die die Bevorzugten gegen die Unglucklichen iiben,
um die seltenen schwachen Regungen eines schlechten
Gewissens zu beruhigen. Nichts mit einer Menschlich-
keit, die sich in dem unverfrorenen Sprichwort spreizt,
dass Armut nicht schande. Als ob nicht Armut in diesen
Zeiten das einzige ware, was in Wahrheit schandet! Wen
unverschamte Ausniitzung einer zufalligen Macht zum
Milliardar gemacht hat, der gilt unter den Menschen
als ein hoheres Wesen. Man feiert, ehrt und beglotzt ihn,
und wenn er gar noch eine wohltatige Stiftung zur Be-
lohnung fur Lebensretter macht, preist man ihn als Vor-
bild edelster Menschlichkeit. Der Arme aber wird uber-
all und ganz unverhullt als Mensch zweiten Grades
gewertet. Die Gesellschaft dessen, die keine gestarkte
Wasche tragt, ist anruchig; die Umgangsmoglichkeit ent-
scheidet sich nach der Vollkommenheit der Garderobe.
— Dem armen Kinde schon ist die Moglichkeit ver-
schlossen, die moderne Konversationsbildung aufzunehmen.
Dem vermogenslosen Jungling sind alle Wege zu den
eintraglichen Pfrunden des Erwerbslebens versperrt. Er
ist zum Opfer der Ausbeutung bestimmt — ohne Riick-
sicht auf Charakter, Veranlagung und Neigung, und um
— 55 —
ihm seine Minderwertigkeit noch deutlicher fiihlbar zu
machen, wird er gezwungen, durchaus gegen seinen Wunsch,
gegen seine Einsicht und gegen sein Interesse, langer als
die Besitzenden und in niedrigeren Chargen die Mord-
instrumente zu tragen, mit denen er das Kapital, das sein
Blut saugt, zu schutzen hat. Alles das unter Berufung
auf Ideal, Christentum und Menschlichkeit.
Somit haben alle humanitaren Bewegungen und Be-
strebungen, soweit sie innerhalb des Staates, des Kapitalis-
mus, der Knechtschafts-Einrichtungen sanftigend und ver-
sohnend wirken sollen, keine Beriihrung mit der Mensch-
lichkeit, die ich fordern mochte. Diese Menschlichkeit
will Menschenbewusstsein, Solidaritat, Freiheit, Gerech-
tigkeit und Erfulltheit vom heiligen Berufe Mensch zu
sein; will Liebe unter den Menschen, die auf Gleichheit
und Geselligkeit fusst; will Kraft und Schonheit, und will
hitzigen Streit, emporte Abwehr gegen jede Art Unter-
driickung, Luge, Vergewaltigung, Unrecht und Tartufferie.
Die Menschlichkeit, von der ich rede, besteht noch
nicht, sowenig wie Gerechtigkeit oder Kultur besteht.
Sie soil erkampft werden mit den Mitteln, die dereinst
ihre Fundamente sein werden; durch Bund und Aus-
lese, durch Klarheit, Wahrheit, Festigkeit und seelische
Freiheit. Menschlichkeit ist Hass und Abwehr gegen
Durftigkeit und Gemeinheit, ist Liebe zum Schonen,
Wahren und Ewigen und Wille zum Wesentlichen.
Tagebuch aus dem Gefangnis.
(Fortsetzung).
Und jetzt? Die Tage vor meiner Verhaftung waren, veran-
lasst durch die Haussuchung, die die Berliner Polizei im Auf-
trage der Mtinchner bei mir vornahm, Notizen durch die Blatter
gegangen, wonach ich an der grotesken Mlinchner Bombenaffare be-
teiligt gewesen sein sollte. In der Tat wurde mir von den Be-
amten, die mein Zimmer und meine Taschen durchstoberten (in
— 56 —
Uebereinstimmung mit der Wahrheit)*) gesagt, ich solle mit den
Verhafteten, die (dieses Unternehmens beschuldigt wurden, ofters
gesehen worden sein. Da fur Leute, die keinen Einblick in mein
Tun haben konnen, der Eindruck entstehen musste, diese Zeitungs-
notizen kompromittieren den Miihsam schwer in der Angelegenheit,
erliess ich im „Berliner Tageblatt" und im „Lokal-Anzeiger" Erkla-
rungen, in denen ich die Unsinnigkeit solcher Kombinationen nach-
wies. Danach glaubte ich alien Gefahren uberhoben zu sein und
ohne Geheimniskramerei in die Schweiz abreisen zu konnen. Und
nun doch die Verhaftung: wegen fortgesetzten Vergehens gegen
§§ 128, 129, 73. ) Zwar hatte ich bei der Protokollierung meiner
Identitat den Polizeikommissar ersucht, mir den Inhalt dieser Para-
graphen anzuvertrauen, aber der hatte sie mir so schulerhaft vor-
gelesen, dass ich nur den Sinn des § 73 des Strafgesetzbuches
verstand, der nichts wie Strafausfuhrungsbestimmungen enthalt, die
namlich, dass bei Verletzung zweier Paragraphen das Strafmass des
schwerer zu suhnenden Vergehens in Anwendung zu bringen sei.
Was das eigentliche Delikt anlangt, so war ich in den Stunden,
die ich eben beschreibe, noch vageren Kombinationen uberlassen
als vorher. § 130, das wusste ich, betrifft die Aufreizung zu Gewalt-
tatigkeiten verschiedener Bevolkerungsklassen gegen einander. Da-
fur bin ich schon mal bestraft worden. 128, 129 konnten nicht sehr
Unahnliches betreffen, da sie so dicht danebenstehen: Aber wel-
ches potisiche Verbrechen konnte ich „fortgesetzt" begangen ha-
ben? Ich war mir keines bewusst. Nur soviel gestand ich mir doch,
dass deutsche Behorden nicht so rasch zur Verhaftung eines Men-
schen schreiten, der, wie ich, einen bekannten Namen hat, wenn
sie nicht mindestens starke Grilnde fur ihr Vorgehen zu haben
meinen, und dass die Freilassung — mogen die gegen mich er-
hobenen Vorwlirfe noch so falsch sein — nicht mit einem Feder-
strich und in ein paar Stunden zu erzielen sein wurde. —
Solche Ueberlegungen beherrschten etwa die Stimmung, in der
ich mich nun in der Kellerzelle des Charlottenburger Polizeigefang-
nisses am Vormittage des 30. Oktober befand. Ich erhielt in-
dessen den Besuch eines beleibten, vollbartigen Herrn mit Kneifer
und Zigarre, der sehr von oben herunter auftrat und mich in schnei-
digem Beamtenton nach Namen und Stand fragte. Er kicherte
dabei und verschwand wieder. Dann kam noch ein sehr ernst schauen-
der, offenbar hoherer Beamter, der mich nur musterte. Ich hatte bei
beiden die Empfindung: die wollen sich das rare Tier mal ansehen,
*) Als ich dies schrieb, war mir der Name des Hauptbeteiligten
noch unbekannt. Den sah ich zum ersten Mal vom Zuschauerraum
des Gerichtssaals aus, in dem er abgeurteilt wurde.
— 57 —
das man ihnen da hereingebracht hat. Inzwischen schlug die omi-
nose Uhr Mittag, und ich bekam eine greuliche dicke Graupensuppe,
wieder mit einem Riesenklumpen klebrigen Brotes. Da ich sehr aus-
gehungert war, zwang ich mich, moglichst viel davon zu essen.
Gegen 1 Uhr wurde mir endlich eroffnet, dass ich mich beredt ma-
chen solle zur Ueberflihrung. Ich hatte kaum Zeit, mir die Stiefel
anzuziehen und den Kneifer aufzusetzen. Die Hosentrager wollte mir
der Aufseher nur so in die Hand geben. Er empfahl mir, sie in
die Tasche zu stecken. Ich uberrumpelte ihn aber, indem ich —
eins, zwei, drei — Jacke und Weste auszog und die Hose sorgfaltig
befestigte, ehe ich mich bereit erklarte. Jetzt wurde ich einem
uniformierten Charlottenburger Polizisten attachiert, der mich zu eineim
Polizeiwagen begleitete, einem von alien Seiten geschlossenen dumpfi-
gen Kasten, vor den zwei Schimmel gespannt waren. Ich schlug
vor, auf meine Kosten eine Droschke zu nehmen, man bedeutete
mir aber, dass ich das vorher hatte sagen sollen (als ob ich dazu
Gelegenheit gehabt hatte, wo ich keinen Schimmer hatte, was mit
mir werden sollte). In dem Wagen sassen schon vier Personen
drin, alle ehrpusselig in einer Reihe. Ich setzte mich ihnen gegen-
iiber, ganz vorn, von wo ich durch eine Lilcke unterhalb des Kut-
schersitzes auf die Strasse sehen konnte. Der Schutzmann setzte
sich auf das gleiche Brett in die hintere Wagenecke, wo fur ihn
eine Decke lag, und ordnete die Packete, die meine und meiner
Leidensgefahrten Habe enthielten. Die Karre setzte sich also in
Bewegung, und ich hatte Zeit, wahrend der schweigsamen Fahrt
zum Gerichtsgefangnis meine Mitreisenden zu betrachten. Mir gegen-
ilber sass ein Mann von etwa 50 Jahren, eine Gestalt, wie man sie
in Herbergen, Warmehallen, Kaschemmen und ahnlichen Orten mas-
senhaft antrifft. Fur meine Gruppe „Vagabund" des Sozialistischen
Bundes, die ja leider nicht mal zustande kam, und filr deren Nicht-
verstehen durch Unbeteiligte ich anscheinend jetzt hier sitze, schien
mir der Mann indessen nicht zu taugen. Dazu sah er mir ncht ver-
zweifelt genug aus, auch nicht ingrimmig genug. Sein Gesicht hatte
eher einen sozusagen demiitig-verdrossenen Ausdruck. Neben die-
sem armen Teufel sass ein junger Mensch, sehr lang und blass und
von unintelligentem, fast stupidem Aussehen. Er hielt in der Hand
krampfhaft seine Hosentrager und schien seine Lage mit eineim
stumpfsinnigen Widerwillen zu ertragen. Die beiden anderen Wa-
geninsassen waren Madchen. Eine grosse, ziemlich uppige, nicht
hassliche, aber etwas verlebte Person, die ich filr eine Prostituierte
in mittlerer Preislage hielt, und ein nettes, junges, zartes, blondes,
verangstigtes Geschopfchen, das um, wer weiss was filr einen klei-
nen Ladendiebstahl die traurige Fahrt mitmachen musste. — Zuerst
fuhr der Wagen in die Kirchstrasse zum Krankenhaus, holperte dort
— 58 —
iiber die steinerne Hofschwelle durchs Portal, dass wir alle fast
durcheinandergefallen waren, und liess die grossere und altere der
Frauensleute dort aussteigen und vom Personal in Empfang nehmen.
Armes Wurm, das man nur gesund werden lasst, um es den Tor-
turen der „Gerechtigkeit" zu uberliefern! — So fuhren wir dann,
eine Person weniger, weiter zum eigentlichen Gefangnis. — —
Ich habe eben mein Abendbrot verzehrt. Gleich werde ich
ins Bett geschickt. So will ich fur heute schliessen, und die Be-
gebenheiten vom zweiten Tage meiner Gefangenschaft und \om
Betreten der zweiten Station an morgen weiterschildern.
(Fortsetzung folgt.)
Bemerkungen.
Fiir Wedekind. Die Kinderstube Deutschland, in der die Krabben
ihrer eigenen Zimmerreinheit so wenig zutrauen, dass sie das grobe
Kindermadchen Polizei bei keiner Verrichtung entbehren konnen,
scheint endlich Schauplatz einer kleinen geistigen Revolte werden zu
wollen. Einige Grossergewachsene wollen sich nicht mehr abhalten
lassen. Sie wollen ttber ihre Bilder und Leseblicher selbst bestimmen,
sie wollen sich die wlirdelose Beaufsichtigung ihrer Spiele durch die
tappische Magd nicht mehr getallen lassen und klindigen ihren Willen
zur Selbstandigkeit in einer erfreulich energisch gehaltenen Protest-
kundgebung an.
Die Zeitungen brachten einen Aufruf gegen das sinnlose, unge-
schickte, muckerische Vorgehen der Polizeizensur gegen die Werke
Frank Wedekinds. Eine Reihe sehr betrachtlicher Klinstler und Kunst-
freunde fordert zum Zusammenschluss aller derer auf, „denen das
Schaffen Frank Wedekinds wert erscheint, vor einer systematischen
Verdrangung au» der Oeffentlichkeit bewahrt zu werden." Ein Drittel
der gesamten dramatischen Kunst Wedekinds werde infolge Polizei-
verboten an keiner deutschen Bilhne zur Auffilhrung zugelassen. Alle
Anzeichen deuten darauf hin, dass bei der Polizei der Entschluss
feststeht, den Dichter von „Frilhlings Erwachen" mit seinen Ueber-
zeugungen, die er in zwanzig Tahren nach der Niederschrift der Kin-
dertragodie gewonnen hat, auf der Blihne nicht mehr zu Wort kommen
zu lassen. Durch sein Aultreten auf der Bilhne den Beweis zu er-
bringen, dass in seinen dramatischen Arbeiten ein tiefer sittlicher
Inhalt liege, sei dem Dichter, soweit es seine von der Polizei ver-
botenen Dramen betreffe, ein fiir allemal unmoglich gemacht. Es
stehe zu beftirchten, dass die Polizeibehorden entschlossen sind, auch
diejenigen Dramen allmahlich von der Blihne zu verdrangen, die bis
jetzt zur Auffilhrung freigegeben wurden. Die Unterzeichneten
— 59 —
bieten die Hand zur Wahrung des aus Wahrheitsliebe und
Schonheitsverehrung hervorgegangenen dramatischen Lebenswerkes
Wedekinds, „indem wir dem bald Flinfzigjahrigen den Weg ebnen
wollen, den er gehen muss, um sein Werk zur Geltung zu bringen.
Die Freunde Wedekindscher Kunst werden daher gebeten, ihren
Namen dem Verlagsbuchhandler Georg Mliller in Miinchen, Joseph-
platz 7, bekannt zu geben."
Unter den Unterzeichnern des Aufrufs befinden sich die aus-
gezeichnetsten Manner, die das kiinstlerische Leben Deutschlands und
Oesterreichs zu stellen hat. Ihnen geblihrt Dank und Anspornung.
Bei der Schlafmiitzigkeit, die das Verhalten der Geistigkeit gegen
das Herumwlihlen subalterner Seelen in kulturellen Werten allgemein
kennzeichnet, bedeutet der Aufruf fur Wedekind einen ersten mann-
lichen Vorstoss. Nur mochte man wiinschen, dass die Kundgebung
nicht in einer Namenstabelle mit lediglich statistischem Wert um-
kommt. So lohnend es ist, einmal zu erfahren, wer bis jetzt die da-
monische Kraft des genialsten lebenden Dichters erkannt hat, so wichtig
ware es doch auch, das Solidaritatsbekenntnis fur einen Dichter gegen
die Staatsgewalt zu einer kraftigen und dauerhaften Aktion derer,
die sich nicht mehr bevormunden lassen wollen, zu erweitern. Dazu
gehort freilich mehr als ein gelegentlicher Protest, wenn einem zufallig
einmal die Spitze eines Polizeihelms unter das eigene Kinn stosst.
Dazu gehort die Erkenntnis, dass die ganze Institution der Beauf-
sichtigung der Menschen in ihrem privaten Verhalten unwurdig und
fur selbstbewusste Naturen unertraglich ist. Wer sich willig von der
Polizei um drei Uhr nachts zu Bett schicken lasst, wer kritiklos zu-
sieht, wie die Polizei sich in jede privateste Privathandlung, etwa
ins erotische Leben, einmischt, der darf sich nicht beklagen, wenn sich
die Flirsorge der hohen Behorde auch mal bis in seine eigenen inner-
lichen Erlebnisse und Bedtirfnisse erstreckt. Die Macht, die die Poli-
zei ausubt, ist ihr von der Oeffentlichkeit zuerteilt worden. Schlimm
genug fllr den kultivierten Teil der Menschheit, dass er stets lang-
mtitig zusieht, wie die Oeffentlichkeit ausschliesslich vom unkultivierten
Teil reprasentiert wird. In Wedekinds Werk ist sozialer Drang, so-
ziales Bekennen und sozialer Protest genug — drum eben sucht ihn die
Offentliche Gewalt mit jedem Mittel mundtot zu machen. Wer auf
Freiheit des Worts und der Ueberzeugung halt, der stelle sich mit
der ganzen Breite seiner intellektuellen und seelischen Bedeutung
der Einrichtung entgegen, die auch in seinem Namen Freiheit, Selbst-
standigkeit und Eigenleben unterdruckt. Erst wenn die anmassliche
Vorherrschaft des Polizeisabels auf alien Gebieten des offentlichen
Lebens zuruckgedrangt sein wird, werden wir erwarten dttrfen, dass
Kunst und Kultur sich ungestort ausbreiten konnen, und dass kul-
turelle Vorstellungen vor kulturlosen Nachstellungen sicher sein werden.
— 60 —
Tariftreue. Die Art, wie die deutschen Arbeitergewerkschaften
um vorteilhafte wirtschaftliche und menschliche Existenzbedin-
gungen „kampfen", hat bei kritisch veranlagten Revolutionaren
schon immer arges Bedenken erregt. Da gibt es kein Losschlagen
im gunstig erscheinenden Augenblick, kein Streiken im Moment der
Hochkonjunktur, wenn die Arbeiter am notigsten gebraucht werden,
also am leichtesten Zugestandnisse von den niemals sentimentalen
Unternehmern erzwingen konnen, kein Sichverlassen aufEnergie, Ent-
schlossenheit und Opferwilligkeit der Einzelnen, sondern immer nur
ein behutsames Erwagen und Zogern, ein Abwalzen der Verantwor-
tung auf „Vertreter", ein Erlaubniseinholen und Direktivenem-
pfangen von den Zentralstellen. Im Gegensatz zu den radikalen,
selbstandigen Arbeitersyndikaten in den romanischen Landern (die
syndikalistische Bewegung der Lokalorganisationen in Deutschland
ist verhaltnismassig sehr schwach), die aggressiv vorgehen und
standig auf dem Qui vive ? liegen, verzichten bei uns die zentrali-
stischen Gewerkschaften mehr und mehr auf Angriffstreike, sie lassen
es auf Aussperrungen ankommen, jammern dem Unbeteiligten vor,
dass sie schuldlos seien an dem Konflikt und stehen der rucksichts-
loseren Arbeitgeberschaft in der Defensive und folglich im Nachteil
gegenuber. Aus dieser Unlust, dieser Bequemlichkeit und Saumigkeit
erklart sich das sehnslichtige Bestreben nach langfristigen Tarifver-
tragen. Man findet sich mit den Unternehmern in einer Tarifgemein-
schaft zusammen, ein aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu-
sammengetztes Tarifamt entscheidet in Streitfallen, man hat fur eine
Reihe von Jahren Lohnhohe und Arbeitszeit vertraglich gesichert,
und — nach Ablauf dieser Jahre, wenn man natilrlich mit neuen
Forderungen anruckt, tritt einem die Prinzipalschaft wohlvorbereitet,
gewappnet und geeinigt mit einem ktihlen Nein oder gar mit Ver-
schlechterungen der Arbeitsbedingungen entgegen.
Was es mit den grossen Vorteilen der Tarifgebundenheit fur
den Arbeiter auf sich hat, das illustriert ein in mehrfacher Hinsicht
uberaus bemerkenswerter Konflikt im Berliner Zeitungs Grossbetrieb.
In August Scherls Druckerei, in der der ,, Berliner Lokal-Anzeiger",
der „Tag", die „Berliner Abendzeitung" und etliche periodische Zeit-
schriften hergestellt werden, wurde 7 Maschinenmeistern gektindigt und
zugleich von den ilbrigen Arbeitern Uberstunden verlangt. Die Erbitte-
rung darliber flihrte zu Reibereien, die vom Tarifamt zu schlichten
waren. Der Spruch des Amts fiel nicht zur Zufriedenheit der Ar-
beiter aus, die zwei Vertrauensleute mit deutlich formulierten For-
derungen und mit Streikandrohung vorschickten. Neue Verhandlungen
vor dem Tarifamt, das — wohlgemerkt: es ist zur Halfte von Arbeit-
nehmern besetzt! — die Arbeiter abwies und der Firma anheimgab,
die beiden Vertrauensleute, weil sie den Auftrag ihrer Kollegen er-
fiillt hatten, zu entlassen. Das tat die Druckerei, und die — wie
man denken sollte: selbstverstandliche — Folge war, dass die ubrigen
Maschinenmeister sich mit denen, die nur ihren Willen ausgedruckt
hatten, solidarisch erklarten und die Arbeit niederlegten. Soweit
ware der Vorgang nicht weiter absonderlich; der Solidaritatsakt
war anstandig, — aber es ware unanstandig gewesen, wenn er
unterblieben ware. Scherl wandte sich nun an die Betriebe
von Mosse („Berliner Tageblatt") und Ullstein („Morgenpost")
mit der Bitte um Hilfe. In wohlverstandner Gemeinsamkeit der
Unternehmerinteressen wollten die ihr Personal der bedrangten
— 61 —
Firma zur Verfiigung stellen. Die Arbeiter der Konkurrenz weigerten
sich jedoch — wieder ganz naturlich und im Bewusstsein ihrer
Solidaritat, — die zugemuteten Streikbrecherdienste zu leisten. Da
die Scherischen Blatter infolgedessen nicht erscheinen konnten,
geschah das Unerwartete, dass Mosse und Ullstein sich mit der
Konkurrenz solidarisch erklarten und ihre Blatter ebenfalls nicht er-
scheinen liessen. Das war klug und anstandig gehandelt, und es ist
vom „Vorwarts" dumm und unanstandig, dass er die Solidaritat
unter den Arbeitgebern anders wertet, als die unter den Arbeit-
nehmern, und die Verleger der Zeitungen an ihre Lieferantenpflicht
den Abonnenten gegenuber erinnert
Soweit ist keinem der Beteiligten ein Vorwurf zu machen. Der
Vorgang zeigt einen Ausschnitt aus dem gewerblichen Klassenkampf,
wie er sich in sauberen Formen vollzieht. Schabig aber, erbarmlich
und ttber die Massen kummerlich war das Verhalten der beteiligten
Arbeiterorganisation, des Buchdruckerverbandes. Um der „Tarif-
treue" willen, zu deutsch: um der Buchstabentreue, der Paragraphen-
glaubigkeit, der Konfliktsangst willen, erklarte der Verband: dem
Spruch des Tarifamts ist unbedingt Gehorsam zu leisten. Hat das
Tarifamt entschieden, die Entlassung der Wortfuhrer der Maschinen-
meister sei zu Recht erfolgt, so haben die, deren Wort geflihrt
wurde, kein Recht mehr zur Solidaritat. Den Arbeitern der Firmen
Mosse und Ullstein wurde versichert, wenn sie sich von ihren
Prinzipalen an die verwaisten Maschinen der Scherischen Druckerei
kommandieren liessen, so begingen sie keinen Streikbruch, und zu
allem Uberfluss wurden die beiden Generalsilnder, dafur, dass sie
sich von ihren Kollegen hatten abordnen lassen, im frohen Ein-
verstandnis mit der Gewerkschaft aus der Tarifgemeinschaft aus-
geschlossen, und in den Extrablattern der Unternehmerorgane, die
an Stelle der ausfallenden Zeitungen erschienen, stand die Erklarung
der Verbands-Vertrauensmanner, dass die Arbeiter schwer geslindigt
haben, und dass die Arbeiterorganisation alles getan habe, um den in
Agitationsversammlungen ach! so geschmahten Unternehmern in ihrem
Recht auf tariftreue Ausbeutung der Kollegen beizuspringen.
Der groteske Fall ist deshalb so schauerlich ernst zu nehmen,
weil er in seltener Helligkeit die Konsequenz der sozialdemokratischen
Tarifmeierei zeigt. Die Organisation, die da ist, das Interesse der
Proletarier gegen ihre Exploiteure zu wahren, stellt sich bei Gelegen-
heit eines nicht bios begreiflichen, sondern durchaus gebotenen
Solidaritatsstreiks auf die Seite des Kapitals, fordert die Arbeiter
der Konkurrenzbetriebe zu heimtuckischer Verraterei auf und infamiert
die eigenen Kollegen, die fur die gemassregelten Genossen einstehen:
alles von wegen der „Tariftreue". Kommen sich vor wie Ethiker
und sind Schlappschwanze.
Kentucky und Berlin. Einer der Vereinigten Staaten von Nord-
amerika hat sich ein Gesetz dekretiert, wonach nur mehr iiberfuhrte
und rechtskraftig verurteilte Verbrecher filr das Verbrecheralbum
photographiert werden dlirfen. Das „Berliner Tagblatt", erschlittert
von einem solchen Grade freiheitlichen Edelmuts, interpellierte so-
gleich das Berliner Polizeiprasidium um Auskunft, wie es hierzulande
mit der Komplettierung des Verbrecheralbums gehalten werde. Oer
Gehilte des Herrn v. Jagow versicherte dem Gehilfen der offent-
lichen Meinung, ganz so leichtsinnig wie die amerikanische Republik
— 62 —
dilrfe man nicht verfahren. Immerhin bemlihe man sich auch in
Berlin um Zuruckhaltung. Ausser den schon abgeurteilten gemein-
gefahrlichen Verbrechern photographiere man nur noch solche, die
dringend verdachtig seien, gewerbsmassig Verbrechen zu begehen . . .
Als ich im Jahre 1906 zum ersten Male einen Prozess ange-
hangt bekam (wegen „Aufreizung"), wurde ich zur allerersten
Vernehmung — also ehe das Verfahren uberhaupt eroffnet war
— aufs Polizeiprasidium zitiert. Nach einem kurzen Verhor wurde
ich trotz meines Widerstandes und obgleich kein Haftbefehl gegen
mich erlassen war, unter Anwendung von Gewalt gezwungen, mich
im Atelier des Polizeigebaudes am Alexanderplatz photographieren
zu lassen. Unter meinen anarchistischen Genossen ist kaum einer,
dessen Konterfei und Fingerabdrucke noch nicht in Polizeiarchiven
festgehalten wtirden. Dass in Munchen nicht einmal die Einleitung
eines Strafverfahrens notig ist, um politisch verdachtige Leute einzu-
sperren, zu photographieren und zu daktyloskopieren, daftir habe ich
in Nr. 1 des „Kain" („Bayerische Freiheitlichkeit)" schon Material
geliefert.
Trotzdem fallt es mir nicht ein, dem Polizeiprasidenten wegen
seiner Auskunft ans,. Berliner Tageblatt" der Verbreitung unwahrer An-
gaben zu bezichtigen. Ich glaube die Psychologie polizeilicher Wurden-
trager genilgend zu kennen, um ihre Mitteilungen mit der Wahrheit
einigermassen in Einklang bringen zu konnen. Unsereiner, der die
Einrichtung der politischen Polizei nicht eben fur eine Kulturerrungen-
schaft halt, macht sich schon durch diese Ansicht dringend verdachtig,
gewohnheitsmassiger Verbrecher zu sein. Da die Dressur der Polizei-
hunde aber vorlaufig noch nicht soweit gediehen ist, dass die Tiere
auch verbotene Ansichten aufschnuppern konnten, so muss sich die
Behorde mit dem Verbrecheralbum behelfen, in das die Bilder solcher
Leute geklebt werden, die gewohnheitsmassigen selbstandigen Denkens
verdachtig sind. Ohne diese Sicherheitsmassregel glaubt das Berliner
Polizeiprasidium nicht auskommen zu konnen, und von ihrem Stand-
punkt hat sie sicherlich recht.
Der Herr Rektor. In dem widerlichen Handel des Rektors des
Mlinchener Luitpold-Gymnasiums, Oberstudienrats Dr. v. Orterer,
bayerischen Kammerprasidenten, gibt es einen versohnenden Moment.
Als der Beschluss des Lehrerkollegiums, die Gymnasiasten, die am
Tanzunterricht teilgenommen hatten, von der Schule zu jagen, den
Opfern solcher Padagogik drei Tage vor dem Abiturium mitgeteilt
wurde, versuchte einer der jungen Manner, sich auf den Herrn Rektor
zu stlirzen und personlich Rache zu nehmen. Das war die natilrliche
Abwehrgeste des lebendigen Blutes gegen die froscherne Schleimig-
keit eines Paragraph gewordenen Zelotenhirns. — Die Tagesschreiber
haben den Eltern der Schiller geraten, das Luitpold-Gymnasium zu
boykottieren, solange Herr Dr. v. Orterer daran als Rektor wirkt.
Ein solches gemeinschaftliches Vorgehen der Eltern wiirde freilich
den Etat der Schule herabdrilcken, es hatte aber zur Folge,
dass sich der Erziehungs-Fanatismus des Lehrerkollegiums mit
verdoppelter Intensitat auf die geringere Anzahl der Gymnasiasten
konzentrierte, deren Eltern mit dem Herrn Rektor der Ansicht
waren, Zweck jeglicher Belehrung sei, Individualitat zu vernichten
In Wahrheit ist dies der Zweck jeglicher Autoritat, der elterlichen
— 63 —
ebenso wie der padagogischen. Es scheint daher nicht immer rich-
tig zu sein, die Zucht des Elternhauses als Rettung vor der Zucht des
Schulhauses anzusehen. Der Versuch des Gymnasiasten, sich zu
rachen zeigt an, bei wem die Macht steht, auch ehe die Verzweiflung
da ist, schon abzuwehren: beim Schliler selbst. Stiesse der Herr
Rektor bei seinen schimpflichen und lacherlichen erzieherischen Gewalt-
ilbungen bei den jungen Leuten, die doch keine kleinen Kinder
mehr sind, auf rabiaten Widerspruch und bei Massregelungen auf
starke Solidarity, dann konnte kein Zentrum, keine Kirche und kein
Wehner ihn auf seinem Posten halten. Die Jungen zwangen ihn,
abzutreten und seine drakonische Frommigkeit fortan ausschliesslich
auf ihre Vater loszulassen, sofern die es bis zu Landtagsabgeord-
neten gebracht haben. Den Eltern aber kann nur ein Rat gegeben
werden: sie mogen so erziehen, dass jeder Zwang, der gegen ihre
Kinder versucht wird, ganz selbstverstandlich der rlicksichts-
losesten Ablehnung begegnet. Hatten sie selbst nicht ihre Spross-
linge von klein auf an Zwang und Autoritat gewohnt, dann bediirfte
es gewiss keiner Elternvereinigungen zum Schutz der Sonne gegen
Herrn Rektor Dr. von Orterer.
Semerau. Packt ihn, zwackt ihn, greift ihn, kneift ihn,
Fangt ihn, haltet ihn und schleift ihn
In des Kerkers Schauerbau, —
Den Herrn Doktor Semerau.
Ha! Schon setzt ihm nach die Menge.
Voll verletzter Sittenstrenge
Schmeisst man ihn ins Loch sogleich,
Fern im Lande Oesterreich.
Die in Arco, die in Milnchen
Mochten den Herrn Doktor lynchen,
Welcher, alles Anstands bar,
Kompagnon des Bayros war.
Wer sein Buch las, kennt das Grausen,
Und speziell Herr Doktor Kausen
Zahlte manchen goldnen Fuchs,
Dass ihm die Emporung wuchs.
In die Paragraphenschraube
Mit dem Daumen, dass ihm Glaube
Wiederkehre und Moral
Warnungsvoll furs nachste Mai.
Frau Justitia mach uns stark, oh!
Dass wir, kommt er erst aus Arco,
Ihn vertilgen langre Zeit,
Namens der Gerechtigkeit.
— 64 —
An die Leser!
Freundlich fur den „Kain" interessierte Leser mahnen mich, neue Er-
zeugnisse meiner Lyrik zu bringen und bei der Redaktion des Blattes die
Literatur mehr als bisherzu berucksichtigen. Ich kann versichern, dass
ich selbst die Vermehrung des Inhalts nach dieser Seite am meisten
wtinsche. Der ausserst enge Raum, der mir zur Verfilgung steht,
verhindert mich aber immer wieder, alles was ich zu sagen habe,
drucken zu lassen. Es ist schmerzlich genug, trotz aller Kunste der
Setzermeister, moglichst viel unterzubringen, aus jeder Nummer
schon gesetzte Beitrage wieder herausnehmen zu mussen. Ich hoffe
aber, dass bald Rat geschafft wird, wie die Zeitschrift ausserlich
ansehnlicher und innerlich reicher erscheinen kann. Die Vergrosse-
rung des Blattes, bezw. die schnellere Folge seines Erscheinens
wird bewirkt werden, sobald der Andrang der Abonnenten und Kaufer
dem des zu bewaltigenden Materials einigermassen entspricht.
Miinchen, Akademiestr. 9. Erich Muhsam.
Friiher erschienen:
KAIN, Heft 1. Inhalt: Kain (Gedicht). — Die Todesstrafe.
— Tagebuch aus dem Gefangnis. — Mtinchner Theater. —
Bayerische Freiheitlichkeit. — Die voile Mass — Oeffent-
licher Dank.
KAIN, Heft 2. Inhalt: Appell an den Geist. — Tagebuch
aus dem Gefangnis. — Blicher. — Schonherrs Plagiat. —
Krawall, Revoke, Revolution. — Jagow und Kerr. — Humor. —
Correspondenz.
KAIN, Heft 3. Inhalt: Aufruf zum Sozialismus. — Tage-
buch aus dem Gefangnis. — Mtinchner Theater. — Der un-
zuchtige Marquis. — Georg Hirth. — Die nervenschwache
Polizei.
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geber des Kain an, sondern jede Buchhandlung oder die
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geber: AkademiestraBe 9.
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Jahrgangl. No. 5. August 1911.
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Bayerische Freiheitlichkeit. — Die voile Mass. — Oeffent-
licher Dank.
KAIN, Heft 2. Inhalt: Appell an den Geist. — Tagebuch
aus dem Gefangnis. — Biicher. — Schonherrs Plagiat. —
Krawall, Revoke, Revolution. — Jagow und Kerr. — Humor. —
Correspondenz.
KAIN, Heft 3. Inhalt: Aufruf zum Sozialismus. — Tage-
buch aus dem Gefangnis. — Miinchner Theater. — Der un-
ziichtige Marquis. — Georg Hirth. - Die nervenschwache
Polizei.
KAIN, Heft 4. Inhalt: Widmung. — Menschlichkeit. — Tage-
bueh aus dem Gefangnis. — Fur Wedekind. — Tariftreue —
Kentucky und Berlin. — Der Herr Rektor. — Semerau.
Preis je 30 Pfg. Zu beziehen durch die Post, durch
jede Buchhandlung oder direkt vom Kainverlag, Miinchen,
Baaderstrasse 1 a.
Jahrgang I. Miinchen,
No. 5. August 1911.
KAIN
Zeitschrift fur Menschlichkeit.
Herausgeber: Erich Miihsam.
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„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt
fiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne-
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene
Nonparaillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag",
Miinchen, Baaderstrasse la.
Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vam Herausgeber.
Mitarbeiter dankend vettaeten.
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Sittlichkeit.
Die Sittlichkeit ist in diesem Lande in einem Umfang
ausgebrochen, dass energische Massnahmen schleunigst
geboten erscheinen. Leute, denen man eine gewisse Vor-
geschrittenheit glaubte zutrauen zu diirfen, sind plotzlich
mit Sittlichkeit geschlagen und setzen so bedrohliche Mie-
nen auf, dass man meinen mochte, es handle sich um
schlechtgefiillte Masskriige. Herrn Dr. Kausens Sieg ist
vollkommen; er hat sich bereits von Otto von Erlbach
eine pessimistische Betrachtung schreiben lassen. Herr
Dr. Hass empfing von dem gebiildetsten seiner Geschwo-
renen eine geharnischte Beschwerde wegen der Mangelhaf-
tigkeit des Strafgesetzbuches, worin eine Ausdehnung der
Bestimmungen des Viehseuchengesetzes auf die Porno-
graphen verlangt wurde. Der Staatsanwalt begluckwiinschte
das Schicksal zu der glucklichen Zusammenstellung der
Geschwornenbank, die sich ziemlich ausschliesslich aus
Bauern rekrutierte: man versteht, dass ein Staatsanwalt
es in einem Prozess, in dem es um die Beurteilung lite-
rarischer Produkte geht, nicht glucklicher treffen kann. Der
Hass redete den landlichen Richtern in ihrer eigenen Mund-
— 66 —
art und mit einer Derbheit zu, die er — ohne sich zu
allarmieren — nicht im Buchhandel vertreiben diirfte, und
die fur kraftige Aeusserungen sehr empfanglichen Bauern
quollen iiber von Sittlichkeit. Der angeklagte Dr. Semerau
wurde einerseits dieserhalb, andererseits, weil er sich von
zwei preussischen Anwalten verteidigen liess, zu acht Mo-
naten Gefangnis verurteilt. Die Sittlichkeit aber schlug
Wellen, die aus Sachverstandigen-Hirnen aufspritzten und
uns aus klerikalen und liberalen Annoncen-Gefilden ent-
gegenplatscherten.
Was tat der Angeklagte? Er nutzte die Konjunktur
und schrieb fiir begiiterte Lebemanner Bucher, die sexuelle
Dinge in deutlichen Kennzeichnungen behandelten. Ich
habe die Bucher nicht gelesen, weil ich fiir wahrschein-
lich literarisch unbetrachtliche Erzeugnisse kein grosses
Geld iibrig habe, und weil ich selbst geniigend geschlecht-
liche Phantasie besitze, um auf die eines Schriftstellers,
der die Lebewelt damit versorgt, fuglich verzichten zu
konnen. Aber gesetzt den Fall, der Schwurgerichts-Prozess
betraf ein Zotenwerk, eine Arbeit, fiir die kunstlerische
Massstabe keine Geltung haben, so setze ich mich gleich-
wohl fiir Herrn Dr. Semerau ein, so verteidige ich gleich-
wohl seine Bemuhung, undifferenzierte Geschlechtsnerven
zu kitzeln: und zwar aus Griinden der Sittlichkeit.
Ich begebe mich einige Stockwerke abwarts und stelle
mich auf die Warte des Staatsbiirgers. Nun habe ich
die Perspektive, in der sich die Unsittlichkeit von der
Ebene des Korrekten, Normalen, Unanstossigen deutlich
abhebt. Ich gewahre, dass sich in den Zonen der Unsitt-
lichkeit ausschliesslich sexuelle Falle abspielen, und ich
uberzeuge mich an der Hand des Gesetzbuches, das ich
als Badeker benutze, dass das normale Rechtsempfinden
in der Tat in den Begriff der Unsittlichkeit nicht etwa
Handlungen und Regungen der Bosheit und Verschlagen-
heit fasst, wie Jobberei, Diplomatic und Journalismus,
sondern solche, die ausserhalb der standesamtlichen Kon-
zession aus geschlechtlichen Reizungen erwachsen. Ich
— 67 —
stelle fest, dass mein Vorurteil, Verbrechen sei, was die
menschliche Sozietat gefahrdet (also Mord, Bedrohung,
Freiheitsberaubung, oder, um ein Beispiel aus der Sexua-
litat zu nehmen: Notzucht an Kindern und Wehrlosen), dass
dieses Vorurteil falsch war, und das9 in der Perspektive
des Staatsbiirgers auch das verbrecherisch ist, was die
„Rechtsprechung" objektiv unzuchtig nennt. Diese Wort-
fiigung ist keine contradictio in adjecto, wie einer glauben
konnte, dem das Urteil iiber zuchtig oder unzuchtig Ange-
legenheit des subjektiven Geschmacks zu sein scheint. Ob-
jektiv unzuchtig ist vielmehr, was das Gericht, dem der
jeweilige Fall zur Aburteilung zufallt, als objektiv unzuch-
tig zu Recht befindet. Das zu verstehen ist schwierig,
aber man muss es lernen, will man der „Rechtsprechung"
einer Justiz entgehen, die auch bayerisch-bauerischen Ge-
schwornen obliegen kann.
Um bei meiner Rechtsbelehrung zu bleiben: Als Un-
sittlichkeit ist u. a. eine Handlung anzusehen, bei der
sich zwei erwachsene Menschen in gegenseitigem Einver-
standnis ohne staatlichen Erlaubnisschein vergnugliche Ge-
fuhle bereiten. Der staatliche Erlaubnisschein kann ent-
weder fur beide Beteiligte ausgestellt sein, dann heisst
ihr Einverstandnis Ehe; oder er kann nur dem weiblichen
Teil gehoren, dann heisst es Gewerbe-Unzucht und ist
im Sinne des Gesetzes nicht objektiv unzuchtig. Sind beide
Vergnugungssuchtige mannlichen Geschlechts, so tritt § 175
in Aktion, sind sie weiblichen Geschlechts, so ist eine
Lucke der Gesetzgebung durch vernehmlichen Abscheu
auszufullen. — Soweit ist die Sache ganz einfach. Schwie-
riger wird sie, wenn die unsittliche Handlung nicht mehr
in der Ausiibung sexueller Greueltaten besteht, sondern in
der Schaffung von Moglichkeiten, Gefallen an solchen
Greueltaten zu wecken. Doch ist dieses Delikt nur straf-
bar, wenn die Moglichkeit einer Lusterzeugung offentlich
geschaffen wird, mit andern Worten: wenn Herr Doktor
Kausen (dies ist weniger ein Name als eine sittliche Ein-
richtung) die Moglichkeit fur moglich halt. Meistens ge-
— 68 —
schient die Moglichkeit zur Anregung durch teure und
schwer erhaltliche Druckschriften oder Bilder, aber der
Kausen erhalt sie schon und wetzt alsbald den Para-
graphen 184. Erschwert wird dem Mann, dessen Beschafti-
gung es ist, seinen Mitmenschen sozusagen mit der Laterne
unter die Hosentur zu leuchten, sein Amt dadurch, dass oft
die Moglichkeit einer Lustanregung in idealer Konkur-
renz mit kunstlerischer Bedeutsamkeit auftritt. Dann kann
namlich das, was objektiv unzuchtig ist, subjektiv zuchtig
sein. Dieser Eventualitat dankt das Institut der Sachver-
standigen sein Dasein.
Wem diese zusammenfassende Erklarung des im
staatsburgerlichen Sinn objektiv Unsittlichen in seiner
Unterscheidung vom objektiv Sittlichen nicht geniigt, dem
ist nicht zu helfen. Was mich betrifft, so ist es nicht
so sehr der Anblick, wie der Duft solcher Moral, der
mich aus ihrer Nahe schreckt. Ich steige also wieder
empor zu dem Platze, auf den ich gehore.
Oben angelangt, frage ich mich: Warum versteht
der Burger — und mithin der Staatsanwalt, der Richter,
der Geschworene — unter Sittlichkeit statt, nach des Wortes
naturlichem Sinn, Anstandigkeit der Gesamtpersonlichkeit
nur noch korrekten Wandel des Geschlechtslebens? —
Ich antworte: Weil die staatliche Beschaffenheit der Gesell-
schaft eine in jedem Betracht reinliche Lebenshaltung
nicht zulasst; weil die Kapitalswirtschaft den riicksichts-
losesten Kampf aller gegen alle bedingt (die Gesetze min-
dern die Rucksichtslosigkeit nicht, sie regulieren sie bloss,
z. B. durch die sophistische Unterscheidung zwischen Ge-
schaft und Betrug); weil an den Sexualtrieb der Menschen
im Gegensatz zu alien ubrigen Kategorien der gesell-
schaftlichen Beziehungen mit zahlenmassigen Berechnun-
gen der Nutzlichkeit oder Schadlichkeit fur das Staatsge-
schaft nicht heranzukommen ist und daher die apodik-
tische Norm einer Moral eingeschaltet werden muss; und
weil schliesslich die kongruenten Interessen von Kirche
und Staat das Dogma der Geschlechtssunde brauchen,
— 69 —
um der Gefahr der Sinnenfreude, freiheitliche Empfindun-
gen zu wecken, durch die systematische Kontrolle der
seelischen Erlebnisse des Menschen vorzubeugen. Dass
der Staat bei der Beurteilung sexueller Aeusserungen in
Literatur und Kunst das asthetische Moment gelten lassen
muss, ist fur ihn unbequem genug. Die Notwendigkeit
ergibt sich ihm aber daraus, dass hier der einzige Fall
ist, in dem die sonst sozial ganz indifferenten Kreise der
Geistigkeit eine gewisse Festigkeit des Willens zeigen, und
dass der Staat viel besser als diese Kreise weiss, wie
machtig der geeinte Wille kulturvoller Menschen zu wir-
ken vermag.
In Wirklichkeit lage es viel mehr im Nutzen der
Staats-Sittlichkeit, Werke zu verfolgen, die, aus sinnlicher
Glut geboren, sinnliche Glut erregen, als solche, deren
Zotigkeit einem kultivierten Geschmack die Sinnlichkeit
eher verleiden konnen. Mag hier einmal in aller Deut-
lichkeit ausgesprochen werden, was benervte Menschen
langst wissen: die Zote wirkt sinnlichkeiterregend nur
auf Moralisten; die Zote bietet dem Staat die sicherste
Gewahr fur die Erhaltung ihrer sexualsittlichen Tenden-
zen. Denn: die Zote ist der starkste Ausdruck sexueller
Unfreiheit. Nur wem die Schonheit, die Gute, die Rein-
heit des Sinnengenusses im tiefsten Innern fremd ist,
kann es iiber sich bringen, Begierde und Leidenschaft der
Liebe mit misstonigem Feixen zu bewitzeln. Nur wer bis
zum Halse im Sumpf der traditionellen Moralitat steckt,
kann an Darstellungen und Schilderungen sexueller Dinge
Gefallen finden, die nicht aus personlichem Beteiligtsein
und Ergriffensein entstanden sind. Der Burger grinst iiber
die Zote, weil sie ihm das Sundige des Geschlechtslebens
zum Bewusstsein bringt, und sein Appetit nach verbotenen
Friichten sattigt sich in der Kummerlichkeit seiner Phan-
tasie.
Wo der Staat ohne Hass zu Werke geht, weiss er das
alles selbst sehr gut. Seine Zensur lasst in Varietes und in
Tingeltangeln die zotigsten Chansons, bei deren Absingen
— 70 —
alte Schachteln ihre Beine bis an den Plafond schmeissen,
gern passieren. Wedekinds „Totentanz" aber, das Be-
kenntnis eines von Grund aus reinlich empfindenden
grossen Dichters verbietet sie. Damit will ich den Staat
nicht anreizen, nun auch der Zote das Lebenslicht auszu-
blasen. Aber diejenigen, die gleich mir das Eindringen des
Staates in geistige Spharen als unsittlich empfinden, mogen
dahin wirken, dass seinen Organen die Moglichkeit ent-
zogen werde, sich in Geschmacksdinge irgendwelcher Art
einzumischen.
Solange Zotenwerke Absatz finden, gibt es Leute, die
der Bestatigung ihrer geschlechtsmoralischen Vorurteile
bedurfen. Solange es solche Leute gibt, werden Zoten-
werke — ob sie verboten sind oder nicht — immer wieder
entstehen. Es ist in hohem Masse wahrscheinlich, dass
Semerau seine Bucher nicht geschrieben hatte, wenn er
nicht hatte annehmen diirfen, dass sie ihm von phantasie-
losen Philistern mit schwerem Geld bezahlt wiirden. Wer
Unrat nicht riechen mag, der meide die Platze, wo er
gehauft wird, oder er halte sich die Nase zu. Wer ge-
schlechtliche Darstellungen verabscheut, laufe nicht dahin,
wo sie ausgestellt werden. Wem Bucher sexuellen Inhalts
nicht passen, der kaufe sie nicht. Wem moralische Ent-
riistung ein so unentbehrliches Erfordernis des seelischen
Gleichgewichts ist, dass er unter Kosten und Muhen die
Bader bereist, aus denen er sie schopft, dem wollen wir
seine Perversitat mit derselben Duldsamkeit gonnen,
die wir fur unsere Sexualitat verlangen. Wird aber seine
Sittlichkeit zur offentlichen Plage, dann werden wir sie
ihm ins Gedarm treten.
Tagebuch aus dem Gefangnis.
(Fortsetzung.)
Freitag, den 5. November 1909.
Der Wagen fuhr, wie mir schien — derm durch meine Luke
hatte ich wahrend der ganzen Fahrt immer nur ein paar Strassen-
— 71 —
Pflastersteine, ein Stuck Wagendeichsel und zwei weisse, sich bald
zu einander hinbewegende, bald von einander abhlipfende Pferde-,
aische gesehen — , durch mehrere Hofe vor das Portal des Ge-
fangnisses. Der Schutzmann stieg aus, und als ersten Gruss aus
der neuen Behausung horte ich eine ungeschmierte Beamtenstimme
krachzen: „Nun mal alle raus dal" — Es war ein grosser Mensch
mit Schnurrbart und Glatze, der uns vor dem Wagenschlag erwar-
tete, ein Mittelding etwa zwischen einem Gerichtsschreiber und einem
Kriminalbeamten, wenn ich aus seinem Benehmen auf sein Ge-
schaft schliessen darf. Mit einer Handbewegung, als ob er jeden
einzelnen im Vorbeigehen an den Hintern schlagen wollte, Hess er
uns an sich vorbeidefilieren und schloss sich uns in der Haltung
eines Viehtreibers an, wahrend er uns ins Haus schickte. Dabei
kommandierte er im Unteroffizierston: „Links!" ,,Rechts!" „Gerade
aus!" „Hier rauf!" „Hier rein!" — und schon befanden wir uns
in einer kleinen, weissgekalkten Zelle mit einem kleinen,
starkvergitterten Fenster, durch das man ein Stuck des Hauses von
verschiedenen Seiten, ein Eckchen Gefangnismauer und ein bischen
Garten sehen konnte. Unter „wir" sind zu verstehen: meine beiden
mannlichen Fahrtgenossen und ich, — und zu uns wurde gleich-
zeitig noch ein Mensch von vielleicht 25 Jahren eingelassen und
dann hinter uns die Eisentur zugesperrt. Das kleine, blonde Mad-
chen fiihrte der glatzkopfige Menschenbandiger in eine Zelle nebenan.
Ich horte, wie er sie draussen barsch fragte: „Wie alt sind Sie?"
Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich, dass das geangstigte Tierrhen
erst 21 Lenze zahlte. Ich uberlegte aber, was den pflichteifrigen
Beamten wohl veranlassen mochte, das junge Madchen in diesem
Augenblicke, wo er gar nichts aufzuschreiben, sondern sie nur
provisorisch einzusperren hatte, nach dem Alter zu fragen.
Unsere Zelle wies als einzige Einrichtung einen Kuchenstuhl
auf, den der alteste von uns, der verdrossene Kunde, sogleich,
besetzte. Wir anderen flillten den kleinen Raum im ubrigen fast
vollstandig aus. Der neue Gefahrte, den wir hier kennen lernten,
schien mit der Oertlichkeit schon vertraut zu sein. Jedenfalls be-
nahm er sich, als sei er unser Hauswirt. Sein Gesicht uberstrahlte
ein breites, unbesorgtes Lachen und hatte etwas clownmassiges.
Seine Figur war untersetzt und sehr stammig. Er hatte Riesen-
hande und den Anzug etwa wie ein Zimmermann. Ich taxierte
ihn auf schwere Korperverletzung. Der brachte Unterhaltung zwischen
uns, indem er zunachst den Alten auf dem Stuhl nach seinem
Delikt fragte: „Du hast wohl jestohlen?' — Der Angeredete litt
sichtlich und zuckte nur mit den Schultern. Darauf wandte sich
der neugierige Herr an mich: „Na, und wat hast du jemacht ?" —
Ich war etwas in Verlegenheit, wie ich verstandlich antworten sollte
— 72 —
und sagte dann kurz und politisch: „Politisch". Der Proletarier wurde
von Respekt erflillt. Das war an dem Ton kenntlich, in dem er erwi-
derte: „Det ha'k mir doch jleich jedacht. Se sind woll Redaktor?"
— Er siezte mich schon, und ich antwortete: „Sowas ahnliches".
— ,Ja, ja. Mit! det Schreiben — " meinte er dann und versank
in Stillschweigen und Nachdenken. Nach einer Weile wurde er
hinausgerufen. Kurz darauf: „Muhsam!" — Es war das erste
Mai seit meiner Verhaftung, dass mir das Pradikat „Herr" ent-
zogen wurde. Ich musste dem unsympathischen Glatzkopf folgen,
der mir jede Weisung, ob ich links oder rechts zu gehen habe, in
einem Ton gab, als ob ihn meine Existenz mit dem tiefsten Ab-
scheu erflille.
Ich gelangte iiber eine Treppe und durch mehrere Tliren in
das Zimmer des Richters und sah mich einem grossen, eleganten
Herrn gegenliber, der, wie ich spater erfuhr, auf den Namen As-
sessor B. horte .... Er fragte mich hoflich nach den Personalien
und eroffnete mir nun ganz offiziell, dass der Untersuchungsrichter
in Mlinchen meine Verhaftung wegen Vergehens gegen die §§ 128
und 129 angeordnet habe. Er las mir nun die Paragraphen klar und
deutlich vor, und ich will sie hier abschreiben, damit ich mich, wenig-
stens im allgemeinen und prinzipiellen, immer iiber die Verbrechen
orientieren kann, die ich nach Meinung des Mlinchener Unter-
suchungsrichters begangen haben soil. Ich kann das umso leich-
ter, als mir Rechtsanwalt Caro gestern auf meinen Wunsch das
Strafgesetzbuch fur das Deutsche Reich in Philipp Reclams prach-
tiger 20 Pfennig-Ausgabe ins Gefangnis brachte.
§ 128: „Die Teilnahme an einer Verbindung, deren Dasein,
Verfassung oder Zweck vor der Staatsregierung geheim gehalten wer-
den soil, oder in welcher gegen unbekannte Obere Gehorsam oder
gegen bekannte Obere unbedingter Gehorsam versprochen wird,
ist an den Mitgliedern mit Gefangnis bis zu sechs Wochen, an den
Stiftern und Vorstehern der Verbindung mit Gefangnis von einem
Monat bis zu einem Jahre zu bestrafen."
§ 129: „Die Teilnahme an einer Verbindung, zu deren Zwecken
oder Beschaftigungen gehort, Massregeln der Verwaltung oder die
Vollziehung von Gesetzen durch ungesetzliche Mittel zu verhindern
oder zu entkraften, ist an den Mitgliedern mit Gefangnis bis zu
einem Jahre, an den Stiftern und Vorstehern der Verbindung mit
Gefangnis von drei Monaten bis zu zwei Jahren zu bestrafen."
Der § 73 enthalt nur Ausfuhrungsbestimmungen. Herr Assessor
B. las ihn mir gleichwohl mit vor unli fragte mich, was ich darauf
zu bemerken hatte. Ich gab hierauf die Erklarung zu Protokoll:
„Ich bestreite, mich irgend einer strafbaren Handlung schuldig gemacht
zu haben und lege gegen meine Verhaftung Beschwerde ein." Das
— 73 —
unterschrieb ich. Auf meine Frage, worin denn nun eigentlich
meine Vergehen bestehen sollen, erfuhr ich, dass darilber hier gar
nichts zu erfahren sei, dass die Akten von Munchen noch nicht
eingetroffen seien, und dass der Richter hier darliber ebensowenig
wisse wie ich. Hierauf bat ich, mich sofort mit meinem Anwalt Hugo
Caro in Verbindung setzen zu dilrfen, nahm aber, wahrend ich die
Bitte aussprach, zu meinem freudigen Erstaunen wahr, dass vor
mir auf dem Tisch Caros Visitenkarte lag. Ich erfuhr dann auch,
dass der Rechtsanwalt anwesend sei und mich zu sprechen wlinsche.
Er wurde hereingelassen, und ich sah das erste bekannte mensch-
liche Gesicht seit meiner Trennung von Lieschen. — Wir waren
beide etwas betreten, Caro, wie mir schien, noch mehr als ich, aber
ich hatte Gelegenheit, eine Reihe von Wlinschen anzubringen. Selbst-
bekostigung und die Erlaubnis zu lesen und zu schreiben wurde mir
sofort erteilt. Dann bat ich Caro, sich sogleich mit Jusitzrat Bern-
stein in Munchen in Verbindung zu setzen, damit im Falle meiner
Ueberflihrung dorthin alles vorbereitet sei. Er berichtete, dass mein
Bruder ihn bereits antelefoniert habe und versprach, alles zu tun,
was in meinem Interesse notwendig sei. Ich trug Caro Griisse an
alle Freunde und Bekannte auf und entliess ihn mit dem beruhigenden
Gefilhl der Sicherheit, dass die Verbindung mit der Welt ausserhalb
der scheusslichen roten Mauer doch nicht unterbrochen ist.
Ich hatte jetzt ebenfalls das richterliche Gemach zu verlassen, denn
eben wurde der lange Mensch hereingeflihrt, der mir im Polizei-
wagen mit dem Hosentrager in der Hand gegenilber gesessen hatte.
Der peinliche Kahlschadel ubernahm wieder meine Fuhrung und
brachte mich unter unhoflichem Antrieb in die kleine Kalkbude zuriick,
wo ich den altlichen Kunden noch immer auf dem Stuhl sitzend
antraf. Er sprach mich an: „Sie hat man aber lange dabehalten".
Ich schloss daraus, dass er mit Gefangnisgepflogenheiten schon etwas
Bescheid wisse und fragte ihn, weshalb er denn hierhergekommen
sei: „Ich soil gestern was gestohlen haben", erwiderte er traurig.
„Ich weiss aber nichts davon. Wenn es wahr is, dann muss ich
ja wohl ins Krankenhaus. Denn weiss ich nich mehr, was ich tu
und bin im Kopf nich richtig." — Er wurde herausgeholt, und ich
blieb kurze Zeit allein, wahrend der ich aus dem offenen Fenster in
den rot umschlossenen Garten sah. Dann kam der lange Jungling
mit dem stumpfen Ausdruck wieder herein, und ich bemerkte, dass
ihm die Hosentrager jetzt aus der Tasche hingen. Ich knilpfte mit
ihm ein Gesprach an, indem ich auch ihn nach seinem Delikt
fragte. „Zuhalterei", sagte er. „Aber sie konnen mir jarnischt
beweisen. Na, meine Schwester hat heut morjen jleich nach'n
Anwalt jeschickt." — „Sind Sie zum ersten Male in Haft?" — „Ja. Sie
— 74 —
haben mir heut morjen aus't Bette jeholt." — „Sie waren auf nichts
vorbereitet?" — „Keene Ahnung. Wo kann een Mensch daruf
kommen ?" —
(Fortsetzung folgt.)
Miinchner Theater.
Ueber das Kunstler-Theater soil hier gesprochen werden, wenn
wir mehr von der Reform der Operette wissen, als uns die herr-
liche Auffuhrung der „Schonen Helena" und die Verschwendung
guter Krafte an das missratene Liebesspiel „Themidore" sagen konnen.
Was wir bis jetzt sahen, bestatigt Reinhardts fabelhafte Qualitaten
als Regisseur und Ernst Sterns und Oskar Grafs grosse Begabungen
als Ausstattungs-Kunstler. Ausserdem prasentierte sich uns ein Komi-
ker, dessen gleichen es nicht zum zweiten Male gibt: Pallenberg.
Warten wir also, was weiter kommt. Wenn jetzt noch zu einem
Vorschlag Zeit ist, so sei fur das weitere Programm des Theaters
eine Inszenierung des „Mikado" angeregt. Da weiss man wenigstens,
dass einem eine gute Operette vorgesetzt wird, und da finden, wie
bei Offenbach, wieder alle guten Geister da draussen Gutes zu tun.
Im Lustspielhaus fiihrte man uns die in Berlin verbotene Kriminal-
groteske „Fiat Justitia" vor, zu der Lothar Schmidt die Routine und
Heinrich Ilgenstein die Gesinnung beigesteuert hat. Eine hyper-
bolische Verulkung des Polizei- und Justizgeistes in dem nach Serbien
verlegten Preussen, des Formalismus und der Arroganz der Behorden,
der Unterschiedlichkeit in der Behandlung vornehmer und proletari-
scher Delinquenten und der Weltfremdheit der Gesetze und ihrer
Anwendung. Eine recht nette Satire, die niemand aufregen kann und
die versohnlich und humorig ausklingt. Diesmal benahm sich zur Ab-
wechslung die preussische Zensur lacherlicher als die bayerische.
Die Darstellung war massig, der Erfolg gross. Tja, wenn der
Rechtssinn des begliterten Pobels so anmutig gestreichelt wird
Bedeutsameres ward in der dampfenden Julihitze im Schauspiel-
hause gezeigt, wo Frank Wedekind an jedem Abend sein Werk per-
sonlich von der Buhne herunter verktindete. Schon seit vier Som-
mern ist das einmonatige Wedekind-Gastspiel gute Uebung des Schau-
spielhauses, und die wir die Auffilhrungen jedes Jahr sahen, freuen
uns liber die wachsende Wirkung aufs Publikum, das zuerst mit
Hausschlilsseln arbeitete, allmahlich respektvoll aufmerken lernte und
jetzt endlich freudig mitgeht mit dem Dichter und seinen Worten
die enthusiastische Zustimmung nicht mehr schuldig bleibt.
Es gab „So ist das Leben", „Der Marquis von Keith", Erd-
geist", „Musik", „Hidalla", „Zensur" und „Der Kammersanger".
— 75 —
Dass es „Die Buchse der Pandora", „Tod und Teufel", „Oaha,"
und die Trilogie „Schloss Wetterstein" immer noch nicht gab, legt
die Frage nahe, ob die Veranstalter des hier vor einem Monat er-
wahnten Aufrufes fur Wedekind die Unterschriften, die daftir einge-
laufen sind, nun im Schreibtisch des Verlagsbuchhandlers Mliller
verfaulen lassen wollen, oder ob sie sich nicht endlich ilber Aktionen
schliissig werden mochten, die dem Munchener Zensor (einem ge-
wissen Dr. Bittinger) bei der Auslibung seiner Geschmacks-Diktatur
einige Unannehmlichkeiten verursachen konnten. Ich bereite die
Herren Aufrufer darauf vor, dass diese Frage hier noch ofter
gestellt werden wird.
Eine kritische Darlegung jeder einzelnen Leistung verbietet mir
der allzuenge Raum dieser Zeitschrift. Was ich ilber Wedekinds
Gesamterscheinung als Dichter und Schauspieler zu sagen habe,
versuchte ich im Anschluss an die Juli-Aufflihrungen im vorigen
Jahre in einem Artikel .„Der Schauspieler Wedekind" festzulegen,
den damals die „Schaubiihne" veroffentlichte und aus dem einige
Satze hier wiederholt seien:
Ich bekannte darin die Auffassung, „dass der Dramatiker Frank
Wedekind nicht allein auf die Anerkennung als kunstschopferisches
Genie Anspruch hat, sondern dass er als Erster den Menschen-
charakter entdeckt hat, der nach Shakespeare entstanden ist. Die
Gestalten der Lulu, des Marquis von Keith, des Kammersangers,
des alten Schigolch, des Hermann, des Casti Piani, der Frauen
in „Hidalla", im „Totentanz", wie auch die Kindergestalt der Effie in
„Schloss Wetterstein" ftihren aus Shakespeare heraus, indem sie,
sehr unterschieden von den Ibsenschen Figuren, nicht mehr die Wir-
kungen neuen gesellschaftlichen Geistes auf den stereotypen Charakter
Ider Menschen zeigen, sondern, umgekehrt, die Wirksamkeit neu-
entdeckter Individuen auf ihre Umwelt dartun. Lulu ist nicht,
wie etwa Hedda Gabler, das Produkt ihres Milieus; im Gegen-
teil ist die Welt, die sie umgibt, beeinflusst und somit im Wesen
verandert durch die Zutat der bisher fremden Menschlichkeit der
Lulu . . . Ebenso deutlich offenbart sich die Tatsache in Karl
Hermann, dessen Tragik gerade daraus erwachst, dass sich die Um-
welt nicht von der Psyche des in seiner Wesenheit einsamen Idealisten
impragnieren lassen will . . . Das Wesentliche in Wedekinds Dramen
ist nie die Agitation revolutionarer Ideen, sondern stets die neue
Sinnlichkeit der Menschen, die neue Perspektive zum Weltgeschehen,
aus der sich dann erst mittelbar Tendenzen und Theorien-Propaganda
ergeben."
Ueber Wedekinds Darstellungskunst: „. . . Die geringschatzige
Beurteilung, die Wedekinds Darstellungskunst gerade von den Be-
— 76 —
rufsschauspielern erfahrt, ist ebenso ungerecht wie begreiflich. Sie
hat die gleichen Ursachen, wie die vollige Verkennung des ethischen
Gehalts, der die Wedekindschen Arbeiten viele Jahre hindurch aus-
gesetzt waren. Wie des Dichters objektive Wahrheiten, ehe sie als
Bekenntnisse erkannt wurden, filr paradox gehalten wurden, so ist
es dem am Herkommlichen haftenden Schauspieler nicht gegeben, in
der Selbstverstandlichkeit, mit der Wedekind seine neuen Menschen-
typen auf die Blihne stellt, etwas anderes zu sehen, als Mangel an Ge-
staltungstalent. Er vermisst die Unterstreichung von „Pointen" ;
die Wedekindschen Menschen, die er fur groteske Karrikaturen
halt, mochte er als Exzentric-Clowns dargestellt sehen, er findet sich
nicht damit ab, dass der Dichter selbst die Rollen, die er — der er-
fahrene Theater-Routinier — filr artistische Bravourstiicke halt, spielt,
als ob er eine ganz leichte Aufgabe bewaltige . . . Das eben unter-
scheidet Wedekind von der Mehrzahl seiner Kollegen auf den Brettern,
dass es ihm um die Herausarbeitung des einheitlichen Charakters zu
tun ist, und dass er deshalb die „Schlager" nicht als Schlager bringt,
sondern als Wesensmomente der hinzustellenden Personlichkeit."
Meine Eindriicke der frliheren Jahre wurden mir in diesem Jahre
bestatigt. Wedekinds schauspielerische Leistungen dlirfen nicht mit
demselben Masse gemessen werden, wie die der Berufsdarsteller.
Worauf es ankommt, ist, dass seine Mitwirkung bei jeder einzelnen
Auffuhrung sehr wesentlich zum Gelingen beitrug. Damit soil keines-
wegs behauptet werden, wirkliche Schauspieler waren nicht imstande,
seine Rollen zu spielen. Nur liegt die bedauerliche Tatsache vor,
dass sie es nicht tun. Im ubrigen aber: den Karl Hetmann mochte
ich gar nicht von jemand anders gespielt sehen, als von Wedekind
selbst. Hier bringt Wedekind so viel Natlirlichkeit und so viel
Leidenschaft auf und teilt die Empfindung, Erlebnis und Pathos aus
erster Hand zu bekommen, so uberzeugend mit, dass kein noch so
genialer Schauspieler ihn in dieser Rolle iibertreffen konnte. Er
versagt, wo er eigentlich Theater macht, aber das ist kein grosser
Nachteiii, weil kein Mensch von Wedekind Routine erwartet, und weil
man bei der grossen Ehrlichkeit seines Spiels technische Schwachen
gern ubersieht.
Unter denen, die Wedekind in diesem Jahre wieder unterstutzten,
seien zunachst aus dem standigen Mitgliederverband des Schauspielhau-
ses die Herren Hans Raabe und Hans Steiner genannt. Beide haben
im Laufe der Zeit ihren Rollen neue Feinheiten abgewonnen. So war
Raabes Genussmensch im „Manquis von Keith" diesesmal ganz bril-
lant charakterisiert und Steiner brachte den Afrikareisenden im „Erd-
geist" zu sehr glaubwiirdiger und eleganter Wirkung. Von auswarts
war Herr Ernst Rotmund vom Mannheimer Hoftheater gekommen,
— 77 —
der in den meisten Auffiihrungen mitwirkte und sich der Veranstaltung
sehr niitzlich erwies, — und die wichtigsten Frauenrollen in samt-
lichen Stiicken hatte Frl. Fanny Valliere aus Diisseldorf iibernommen.
Bedenkt man, dass die Dame uberall neuen Aufgaben gegenliberstand,
dass sie die sehr grossen Rollen zumeist nach zwei Proben spielen
musste, und dass sie in einem fremden Ensemble wirkte, so ist ihre
Leistung mit dem grobsten Respekt zu beurteilen. Eine so gute Grafin
Werdenfels, eine so glaubhafte Clara Huhnerwadel haben wir hier noch
nicht gesehen. Ihre Lulu, ihre Prinzessin Alma, ihre Kadjana
waren Leistungen, die sich uberall zeigen durften, und wenn auch
hier und da noch ein wenig Utriertheit und Theatralik zu iiberwinden
ist, — wir hatten alien Grund zu wtinschen, dass die ausserordentlich
schone und sehr begabte Schauspielerin dauernd filr Miinchen ge-
wonnen wiirde. Wir konnten hier — die Terwin geht! — ein paar
gute weibliche Krafte an alien Theatern noch sehr gut gebrauchen.
Zum Schlilsse ein Wort an Herrn Direktor Stolberg. Noblesse
oblige! — Es ist eine sehr hohe Ehre filr das Schauspielhaus, jedes
Jahr einmal das ganze Werk Wedekinds, soweit es nicht von Polizei
wegen gefesselt wird, im Zusammenhang vorftihren zu dlirfen. Da
ware es doch wohl am Platze, filr Darbietungen zu sorgen, die der
Grosse der Aufgabe wenigstens einigermassen entsprachen. Es macht
sich bei fast alien Vorstellungen ein so bedauerlicher Mangel an Regie
bemerkbar, dass darunter der Wert der ganzen Veranstaltung sehr
empfindlich leidet. An den Mitwirkenden liegt eg nicht, aber es
geht nicht, dass jeder Schauspieler sich selbst tiberlassen bleibt. Da
spielt einer neben dem andern her, dass es einen Hund erbarmen
mochte. Dass sich gute Krafte bereit finden, an der Interpretation
der Wedekindschen Werke teilzunehmen, zeigt sich ja. Es mag ihnen
aber in Zukunft durch eine saubere Inszenierung und eine sorgfaltige
Regie ihre Arbeit erleichtert werden. Das verdienen sie, die nicht
gern durch Umstande, filr die sie nichts konnen, um ihren Erfolg ge-
schmalert werden; das verdienen wir, die wir jahraus jahrein hoffen,
dass Wedekind endlich zu dem verdienten ausseren Erfolg kommen
moge; das verdient vor allem der Dichter selbst, und er hat es um
Ihr Theater, Herr Direktor Stolberg, hundertmal verdient.
Bemerkungen.
Mottl, ein Opfer der „H&nchener Post". Felix Monis personliche
nahere Bekanntschaft blieb mir versagt, die Beurteilung seines kiinst-
lerischen Lebenswerkes entzieht sich meiner Kompetenz. Sein Tod
konnte daher hier stillschweigend ilbergangen werden, oder ich konnte
mich mit dem respektvollen Grass filr einen Kiinstler begniigen, dem
Hunderttausende erhohte Lebensstunden verdanken. Eine verhang-
nisvolle Tatsache jedoch, die seiner Erkrankung und seinem Sterben
— 78 —
unmittelbar voranging, ruft den offentlichen Kritiker auf, der zu-
nachst mit Beschamung gesteht, dass die Infamie, mit der die
Katastrophe in Zusammenhang gebracht werden muss, bisher von
keinem Nekrolog angeprangert wurde.
In Munchen erscheint eine Tageszeitung, die sich als sozial-
demokratisch ausgibt, und die ihre Aufgabe, die werktatige Be-
volkerung sozialistisch aufzuklaren, in der Uebung zu erblicken
scheint, ihren Lesern sensationelle Personalien vorzusetzen. Dies
Blatt heisst „Miinchener Post". An dem Tage, an dem Felix
Mottl, wahrend er im Prinzregenten-Theater Wagners „Tristan" diri-
gierte, vom Herzkrampf befallen wurde, hatte die „Miinchener Post"
unter der Ueberschrift „Die Versicherungs-Oberinspektors-Tochter"
einen Artikel gebracht, der sich mir, seiner bevorstehenden Ver-
mahlung, oder vielmehr — ich will gerecht sein: mit der standes-
amtlichen Anzeige seines Heirats-Aufgebots befasste. Darin sollte
— so legte das Blatt es auf den verschamten Vorwurf der „Munche-
ner Neuesten Nachrichten", es habe eine „Geschmacklosigkeit" be-
gangen, aus — das Standesamt wegen der gewiss dummen Ge-
pflogenheit angegriffen werden, bei Aufgebots-Mitteilungen den Stand
des Vaters der Braut zu publizieren, wahrend es liber den Vater des
Brautigams schweigt. Warum hat sich das Hauptorgan der baye-
rischen Sozialdemokratie gerade bei der Verlobung Mottls auf die
„antiquierte Uebung" des Standesamts besonnen? Weil sich hier
aus den Personalien eines berlihmten Kiinstlers und einer beruhmten
Kiinstlerin ein Sensationellen herausschlagen liess. Wer lesen kann,
sieht dem Artikel an, worauf es ankam: durch perfide Andeu-
tungen Gelachter iiber Felix Mottls Herkunft zu erregen. Der
kummerliche Versuch der Zeitung, nach der Erkrankung Mottls,
iiber die sie keine Silbe berichtete, in dem Artikel „Stumpfsinn"
ihre Schabigkeit zu bemanteln, andert nichts an der von nahen
Bekannten des Opfers bezeugten Tatsache, dass sich der Kiinstler
iiber den Artikel schwer aufgeregt und tief gegramt hat, und dass
an dem Anfall, der die todliche Krankheit einleitete, die Anpobe-
lung der „Munchener Post" mindestens mitschuldig war. In der
Tat war die Riipelei so niedertrachtig, dass ich sie auf diesen
Seiten, auf deinen Sauberkeit ich Wert lege, nicht abdrucken mag.
Die Entschuldigung, es handle sich um eine abgeschmackte
Verirrung, konnte man gelten lassen, ware nicht das Verfahren der
personlichen Nachschnuffelung, das bis zur Verdachtigung und Ver-
leumdung geht, als standige Einrichtung der „Munchener Post"
nachweisbar. Wer in Munchen Bescheid weiss, kennt das Blatt in
seiner Eigenschaft als entsicherten Revolver. In frischem Ge-
dachtnis ist noch der Eifer, mit dem die „Munchener Post" einem
sehr tiichtigen Hochschullehrer auf seine ausserehelichen Pfade folgte,
bis es ihr wirklich gelang, ihn aus seinem Amt zu schaffen. Und
mir selbst haben ihre Schmocke, da sie sachlich gegen mich
und meine Ansichten nichts vorzubringen wussten, Jahre hindurch
mit so hallunkenhaften Verleumdungen zugesetzt, dass ich in einer
offentlichen Versammlung die Frage aufwarf: Sind die Leute, die
so dumm und so frech verleumden, Trottel oder Schurken? — und
darauf antwortete: Beides.
Diese Zeilen sind eine Einleitung. Der „Miinchener Post" soil
nichts geschenkt werden.
— 79 —
Der heilige Jatho. Die Wogen der Begeisterung — so nennt
man bei uns eine dreitagige Leitartikel-Diarrhoe — sind abgeebbt.
Der „Fall Jatho" hat seine Nummer gekriegt und liegt bis zur nachsten
Ketzer-Affare im Schubfach. Nur noch in behaglicher Verdauung
der genossenen Martyrerstimmung widmet hier und da eine liberale
Seele dem abgesetzten Pfarrer einen weihevollen Rlilpser. Der
neue Huss hausiert indessen in offentlichen Versammlungen mit
seinen Scheiterhaufen-Spanen und klagt die evangelische Kirche an,
weil sie an ihrem Dogma festhalt und durchaus nicht mit Jatho,
pantheisteln will. Mich geht die ganze Geschichte am Ende nichts an;
ich kann mich ganzlich unbeteiligt darliber amilsieren, wie die sancta
simplicitas diesesmal gegen die Kirchenvater tobt, statt gegen den
Ketzer. Mir ist dar ganze Vorgang nur ein neues Exempel fur die
Naivetat der Deutschen, die sich mit ergreifender Konsequenz regel-
massig an der unrechten Stelle begeistern. Mir sagt mein in Dingen
des evangelischen Glaubens durchaus unstudiertes Laiengemut, dass
die protestantische Kirche dazu da sei, protestantische Lehren zu
•verbreiten. Die protestantische Lehre — habe ich mir berichten
lassen — behauptet die Gottlichkeit Christi, und lasst sich von denen,
die sie zur Proklamierung ihrer Lehrsatze anstellt, geloben, dass sie von
der Wahrheit des evangelischen Dogmas ilberzeugt sind und andere
Wahrheiten nicht predigen werden. Nun wird einem, der also Ver-
pflichteten seine eigene Ueberzeugung verdachtig. Er entschliesst
sich, sie zu revidieren, stiilpt sie um und ersetzt sie durch eine neue.
Das ist sein gutes menschhches Recht. Komisch wird sein Verhalten
erst dadurch, dass er sich darauf versteift, seine — den Dogmen
der evangelischen Kirche nunmehr gegensatzlichen — Ansichten
von der Kanzel einer ervangelischen Kirche herunter zu verbreiten.
Dadurch entstehen groteske Missverstandnisse. Jatho lehnt das gemein-
same Gebet, soweit es dogmatischer Formalismus ist, ab und will
es nur noch als stille Versenkung gelten lassen. Hat er seine Glau-
bigen vor sich, so mluss er sie natiirhch auch beten heissen. Man stelle
sich vor, wie sich 100 Menschen auf Kommando in Gott „versenken" I —
Dass die Kirchenvater dazu nicht schweigen, sondern dem Neuerer
zu verstehen geben, er habe sich wohl im Lokal geirrt, solche Proku-
risten konne die Firma nicht brauchen, kann ihnen ein einigermassen
gerechtes Empfinden kaum verdenken. Wer wollte es einem Tem-
perenzlerbund libel nehmen, wenn er einen Schnapsbrenner, dem
in seinen Kreisen seine Ware anbietet, vor die Tlire setzte? — Die
Zeitungsatheisten hingegen, die, wenn's die Konjunktur so mit sich
bringt, auch mal katholisch-modernistisch oder protestantisch-liberal
sind, erheben grosses Getose und schreien Zeter und Mordio, weil
sich die Kirche nicht selbst erdrosseln will. Aus dem Pfarrer Jatho
wird ein Heiliger und ein Held, und aus dem Toleranz-Geschrei
der Presse eine Revolution des Geistes gemacht. Ach, Herrschaften,
Revolutionen sehen anders aus. Revolutionen kennen keine Toleranz.
Wir andern, die wir in Wahrheit Feinde der Kirche sind, — und
zwar um der Freiheit willen — , wir pfeifen auf Pfarrer, die von der
Kirche zur Freiheit Briicken schlagen wollen.
Architektur und Behorde. Ein bayerischer Regierungsbaumeister
schreibt mir:
„Die moderne Architektur wird in Bayern von Staatswesen
recht burokratisch behandelt. Das beweist die Prufungsordnung filr
— 80 —
den hoheren Staatsdienst, die aus dem Jahre 1872 herruhrt und
an deren Paragraphen sich die alten Herren Bau„kiinstler" und
Zensoren des Staates heute noch klammern milssen! Da sie selbst
kein Urteil und Verstandnis filr neue Kunstformen haben, so zwangen
sie eben die Prufungsentwtirfe der angehenden „Regierungsbaumeister"
in eine erbarmungslose Notenskala, die ganz gedankenlos und mecha-
nisch an jeden wie eine Daumenschraube angelegt wird. Junge
Leute, die an der Hochschule von Theodor Fischer, von Friedrich
v. Thiersch gelernt haben, mlissen nun plotzlich einsehen, dass
ihr Konnen, mit den Augen der Herren Ministerialrate gesehen,
unbrauchbarer Mist, als staatliche „Kunst" ungenilgend ist!
Es ist faule Ironie, wenn man bei Einsicht dieser und anderer
Mangel immer wieder zu der Ausrede greift: „das alles „wird" in
Zukunft anders"! Damit trostet man kleine Kinderl Solche Miss-
stande milssen eben jetzt sofort behoben werden. Die Zukunft
junger Kilnstler ist kein Spielzeug fur veraltete Burokraten!
Dass man bei der obersten Baubehorde ein schlechtes Gewissen
hat, beweist die Verweigerung der Herausgabe der Prufungsent-
wtirfe. Man filrchtet das Urteil anerkannter Autoritaten und be-
halt die Arbeiten drei Jahre lang hinter Schloss und Riegel. Die
Architektur gehort eben bei der obersten Baubehorde Bayerns nicht
zu den freien Klinsten, sondern zu den Akten!"
Ich habe geglaubt, der Beschwerde des Briefschreibers Raum
geben zu sollen, obwohl ich es allgemein nicht als meine Aufgabe
betrachte, innerhalb der total verfahrenen Gesellschaftszustande, in
denen wir leben, fur Einzelheiten Remedur zu suchen. Da es hier
jedoch um eine kunsflerische Sache geht, und da der Ton des Brie-
fes die Verbitterung eines in seinem Kulturgewissen Gekrankten ver-
rat, schien mir die Veroffentlichung geboten. Ob freilich eine
Reform der Priifungsordnung viel andern wird, bezweifle ich. Gesetze
und Verordnungen kommen immer nachtraglich und sind daher
ihrer Naturbeschaffenheit nach notwendig reaktionar, umsomehr,
da ja nicht „moderne" Menschen zu verordnen haben, sondern
eine Vertretung des durchschnittlichen Geschmacks, und da bei
jeder neuen Verfligung den direkt riickwarts strebenden Machten
viel konzessioniert werden muss. Ich werde den Regierungsbeamten
kaum davon uberzeugen, aber meine Meinung ist, dass auch in der
Architektur aller Fortschritt nur gegen Staat und Behorden, nie
mit ihnen beginnen kann.
Bekanntmachung. Der Rechtsbeistand des Dichters Stanislaw
Przybyszewski, Herr Dr. jur. Gustav Bohm, bittet mich um
Veroffentlichung des folgenden:
„Stanislaw Przybyszewski beabsichtigt eine Neuausgabe einiger
seiner Werke, u. a. De profundis, liber deren Verlagsrecht zurzeit
Unklarheit besteht.
Um Kollisionen zu vermeiden, ersucht Stanislaw Przybys-
zewski die betr. Verleger — mit Ausnahme des Verlags F.
Fontane & Co., Berlin, und Richard Etzold, Munchen — etwaige
Ansprliche Herrn Rechtsanwalt Dr. Gustav Bohm in Munchen,
Dachauerstrasse 7, bekannt zu geben."
Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9.
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geber des Kain an, sondern jede Buchhandlung oder die
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Kain <Dcrlag, llUuidirn, BaadrrftraBe la.
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Unterzeichneter abonniert hiermit auf die Zeitschrift
„KAIN", Jahrgang 1911/12. (Kain-Verlag Munchen, Baader-
strasse la.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark.
Betrag wird gleichzeitig eingesandt.*)
Soil durch Nachnahme erhoben werden.*)
Genaue Adresse:
Name:
*) Nicht gewtlnschtes bitte zu durchstreichen.
Jahrgang I. No. 6. September 1911.
KMN
Zeif/chrffffur
rWcMfchfteit
HemuJgeber;
Inhalt: Der marokkanische Krieg. — Tagebuch aus dem Gefang-
nis. — Aus dem Miinchner Zensurbeirat. Offener Brief von
Frank "Wedekind. — Bemerkungen. — Schiesse bei Zeiten. —
Zweierlei Masskriige. — Walhalla.
Kain-Verlag Munchen.
30 Pfg.
In einigen Wochen erscheint im KAIN-
VERLAG zum ersten Male der
Kain-Kalender
fiir das Jahr 1912.
Samtliche Beitrage sind vom. Heraus-
geber des „Kain", ERICH MUHSAM.
Der Kalender enthalt ernste und hu-
moristische Arbeiten in Prosa und
Versen: Artikel, Glossen, lyrische und
satyrische Gedichte, Aphorismen,
Dramatisches u. s. w., u. s. w.
Dem Kalender wird das Bild des Verfassers beigegeben.
•••■»■■••«
Der Preis betragt fiir das
Einzel - Exemplar 1 Mark.
i
!■■■«■■■■■»
Bestellungen nehmen jetzt schon entgegen die Buch-
handlungen und der „KAIN-VERLAG", Miinchen,
Baaderstrasse la.
Jahrgang I. Miinchen,
No. 6. September 1911.
KAIN
Zeitschrift fur Menschlichkeit.
Herausgeber: Erich Miihsam.
JlilK' yi.' H-* M''l-i.i-r. ii,l„l-|..|..n„n„n, . j„l„4»l .I.I ..I..I, li.l. I.I..M .4 .1. ..I. I.I 1 , l„|.,)„|,,i„n4..l..|..l..l g l.il. .|...rrTTn;
„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt
fiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne-
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag",
Miinchen, Baaderstrasse la.
Die Beitraye dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber.
Mitarbeiter dankend verbeten.
EPRTTi i » j i it i i.i. i.i..rTTji7i^riTi~i iii~i^i . i i irHiLw * «■ i * < ..YT...i....^ .imI^i: *- t . . ■ ■ IT
Der marokkanische Krieg.
Wie lange soil das ode Gewasch noch gehen? Wie
lange sollen Millionen kraftiger Manner, deren Frauen,
Briider, Freunde, Geliebte, Eltern, Landsleute noch mit dem
diplomatischen Zeitungstratsch genarrt werden, in dem
um Kanonen und Kartatschen, um Menschenblut und
Menschennot geknobelt wird? Wie lange wird sich die-
ses Volk noch als Blindekuh im Kreise drehen lassen?
Seit sechs Jahren und langer trompeten uns nun
die geaichten Patrioten das Wort Marokko in die Ohren,
und wir werden aufgefordert, uns fur die ideale For-
derung zu begeistem, dass der Westfetzen dieses Lan-
des „uns" gehoren soil. Uns? Wer sind wir? Wir sind
die Herren Mannesmann nebst spekulatorischen Konsor-
ten, und die andem, mit denen wir uns drum balgen
sollen, der Feind, der „Erbfeind", das sind die Fran-
zosen — nein, das sind ein paar franzosische Gross-
spekulanten, die aus dem Bedarf ihrer Landsleute nach
Eisenerzen oder Fetthammeln personlichen Millionenge-
winn schlagen mochten.
— 82 —
Ich verstehe nichts von Kolonialpolitik — zugegeben!
— Ich will auch gar nichts von Kolonialpolitik verstehen.
Derm, scheint mir Politik selbst schon wahnwitziges Ge-
tue, so diinkt mien Kolonialpolitik vollends unmenschliches
Verbrechen. Wem gehort Marokko? Den Franzosen? Den
Deutschen? Den Spaniern? Allen dreien? Meine Auf-
fassung mag weltfremd sein; ich finde, Marokko gehort
den Marokkanern.
Das vaterlandische Marokko-Gezeter hat ethisch eins
vor anderen Kolonial-Erhitzungen voraus. Die gemeinste
Luge, mit der gewohnlich gearbeitet wird, hort man dies-
mal seltener. Die interessierten Herrschaften betonen das
rohe Interesse starker als in andern Fallen, wo aus den
Raubziigen sittliche Expeditionen mit kulturtragerischer
Mission gemacht wurden. Man landet Kriegsschiffe an
den Kiisten solcher Lander, deren Bewohner „unkulti-
viert" leben, und die man „wilde Volker" nennt, weil
dort die Menschen in Frieden miteinander arbeiten, keine
Ausfuhr noch Einfuhr haben, sondern gut und reichlich
mit dem auskommen, was der eigene Boden tragt, keine
Not leiden und sich nicht gegenseitig ausbeuten. Diesen
Volkern tragt man europaische Kultur ins Land, bestehend
in Branntwein, modernen Schusswaffen und geschmack-
losen Kleidungsstucken zur Verdeckung dessen, was den
Menschen dort bisher naturlich erschienen war. Als Aequi-
valent fur diese guten Gaben brauchen die begliickten
„Wilden" nur ihr Land, ihre Arbeitskraft, ihre Leiber,
ihre Weiber und Kinder, samtliche Produkte ihres Bo-
dens, ihre Freiheit, ihre Volksgewohnheiten und ihre naive
heidnische ReUgion herzugeben — weiter nichts. Wer sich
widersetzt, wird getotet, wer sich fligt, versklavt. Das
sitthche Recht dazu ergibt sich aus der in der wirksamsten
modernen Bewaffhung dokumentierten hoheren Kultur der
Europaer. So sieht die KolonialpoUtik aus, fur die sich
zu begeistern moralische Pflicht aller europaischen Na-
tionen ist.
— 83 —
Und warum all die Niedertracht und all der Wahn-
sinn? Weil die rationelle Bewirtschaftung des heimischen
Bodens den wenigen, die inn mit alien Rechten besitzen,
nicht soviel Profit brachte wie die absurde Ex- und Im-
port-Schacherei, die die Kapitalverzinsung garantiert. Peter
Krapotkin hat in seinem Buche „Landwirtschaft, Industrie
und Handwerk") (vergl. auch sein grosses Werk „Ge-
genseitige Hilfe in der Entwicklung" 12 ) einwandfrei nach-
gewiesen, dass jedes Land bei intensiver Bodenbewirt-
schaftung in der Lage ist, den eigenen Bedarf an Nah-
rungsmitteln vollstandig zu decken. Heutzutage wird keine
intensive Bodenkultur betrieben. In Deutschland lie-
gen ungeheure Landflachen brach. In diesem Lande aber
ruhen auf der Einfuhr des Notigsten hohe Zolle, die
Ausfuhr von Getreide und Vieh hingegen wird pramiiert
Dabei fehlt es Millionen Deutschen an der Moglichkeit, die
dringendsten Bediirfhisse des Lebens voll zu befriedigen,
Hunderttausende leiden buchstablich Not, Tausende ver-
kommen in Elend und Schmutz. Die Inhaber des Landes
aber wissen gar nicht, wo sie mit all ihren Schatzen blei-
ben sollen und suchen an fernen Kiisten „Absatzgebiete".
Deshalb nun also der Ruf nach Marokko! Ein halb
Dutzend Jobber diesseits, ein halb Dutzend jenseits der
Vogesen zanken sich urn die schonen Zipfel des
Landes, und die nationale Ehre zweier Vaterlander
ist soweit engagiert, dass hiiben und driiben gefahrlich
mit der Plempe gefuchtelt wird.
Wer wird schliesslich den armen Mauren das Fell
endgiltig uber die Ohren ziehen diirfen? Das wird nun
in der diplomatischen Giftkammer der beteiligten Regierun-
gen ausgesotten. Kommt dabei kein fur beide Teile ge-
niessbares Getrank zustande, so geht's an die ultima ratio
— und die nationalen Leidenschaften der Volker werden
mit Alkohol und Phrasen in den Zustand des erforderUchen
) In der deutschen Uebertragung von Gustav Landauer beim
Verlag des Sozialistischen Bundes, Berlin.
2 ) Ebenfalls deutsch von Gustav Landauer bei Thomas, Leipzig.
— 84 —
Blutdurstes versetzt und mit Mordwaffen entsetzlichsten
Kalibers gegen einander losgelassen.
Jetzt erhebt sich aber die Frage: wer flihrt Krieg?
Die Fiirsten? Die Regierungen? Die Parlamente? Die
interessierten Borseaner? Mir scheint: die Soldaten fuhren
Kriege. Und weiter: Was sind das flir Menschen, die Sol-
daten? — Die Sonne der Fiirsten? Der Regierenden?
Der Parlamentarier? Der interessierten Borseaner? Mir
scheint: das Heer Soldaten besteht fast ausschliesslich aus
Arbeitern und Bauern, aus solchen Leuten, auf deren
Kosten der Preis des moglichen Sieges fruktifiziert wer-
den soil. Diese Leute werden aus den Armen der Nach-
sten, werden von Werkstatten und Scholle gerissen, mit
Flinten und Sabeln beladen, aus der Heimat geschleppt, sie
werden in Bataillone und Regimenter gruppiert, eben-
solchen Bataillonen und Regimentern, die ebenfalls aus
friedlichen Menschen gebildet sind, gegeniibergestellt, und
ihnen befohlen, auf die fremden Menschen, die doch
ihresgleichen sind, zu schiessen und zu schlagen und mog-
Uchst viele von ihnen zu toten. Ebenso wird ihnen ge-
sagt, dass es heldenhaft sei, sich von jenen erschiessen
und erschlagen zu lassen, und dass sie sich dem Vaterland
— wieviele von den Soldaten besitzen davon einen einzigen
Quadratmeter? — niitzlicher erweisen, wenn sie sich von
platzenden Granaten in Fetzen reissen lassen, als wenn sie
ihren Kindern und Eltern den Ernahrer, ihrer Geliebten
den Mann, ihren Gefahrten den Kameraden erhalten.
Die Macht, auf die Entschliessungen der Herrschen-
den einzuwirken, hat die Masse nicht, aus der sich die
Armeen rekrutieren. Die Moglichkeit, solche Macht zu
erringen durch wirtschaftliche Kampfe und kraftige Ini-
tiative jedes Einzelnen, hat sie — in Deutschland wenig-
stens — in unfruchtbarer vierzigjahriger parlamentarischer
Politikasterei vertan; alle latenten Energien hat sie auf
den lachhaften Popanz einer quantitatsprotzenden Wahl-
pohtik nutzlos vergeudet. So muss sie willenlos zusehen,
was bei der ausseroffentlichen Diplomatenhandelei her-
— 85 —
auskommt. — Noch viel weniger ist im Falle des Aus-
bruches eines Krieges auf den passiven Widerstand der
Soldaten zu rechnen. Eine solche Aktion ware auch gar
nicht anzuraten, sie wiirde den wenigen, die sie viel-
leicht versuchen mochten, unweigerlich den Kopf kosten.
Ist der Krieg erklart, dann wird marschiert; da gibt's
kein Drehen und Wenden. Anders liegt der Fall, solange
die Gefahr des Krieges iiber den Volkern schwebt. Hat
das Volk ein wirksames Prohibitivmittel gegen den orga-
nisierten Massenmord des Krieges?
Als im vorigen Jahre in Kopenhagen der internatio-
nale Sozialistenkongress tagte, da stellten die Franzosen
und Englander den Antrag, einer drohenden Kriegsge-
fahr solle in den beteiligten Landern dadurch begegnet
werden, dass fur alle Gewerbe der umfassende General-
streik proklamiert werde. Die Wirkung solcher Aktion ist
evident. Finem Lande, in dem auch nur fur drei Tage
aller Verkehr gehemmt ist, in dem die Zirkulation der
Waren unterbunden wird, in dem keine Bahn fahrt, kein
licht leuchtet und kein Schlot raucht, in dem die Kranken
nicht gepflegt und die Leichen nicht begraben werden,
einem Lande, das keine Post erhalt und keine versenden
kann, und dem obendrein das Gift der Zeitungen ent-
zogen ist — solchem Lande stockt der Atem, und es
hat fur lange hinaus fur seine leistungsfahigen Krafte
bessere Verwendung, als sie an die Landesgrenze vor die
Kanonenschlunde zu jagen.
Sahen wir nicht eben erst in England, diesem Wirt-
schaftslande aus dem Grunde, das noch kaum von sozial-
demokratischen Schwatzern marxistischer Observanz ver-
seucht ist, was schon ein partieller Streik zu wirken vermag?
Bei den Seeleuten fing es an, griff auf Transportarbeiter,
Fuhrleute und schliesshch auf die Eisenbahner iiber, und
die friedfertigste aller Regierungen verlor den Kopf und
griff mit dem klobigen Mittel der Militargewalt in den
Kampf ein, der ohne diese Tapsigkeit nicht einen Tropfen
Blutes hatte zu kosten brauchen. Die Arbeiter haben ihre
— 86 —
Forderungen, die an sich nicht wichtig waren, durch-
gedriickt; sie haben die Regierung gezwungen, nach ihrer
Pfeife zu tanzen. Und das in England, dem von alien Kapi-
talisten so laut geriihmten Musterland fur wirtschaftliche
Organisationen! Ja eben, die rein wirtschaftliche Struktur
des Klassenkampfes! Die war es, die plotzlich — ohne
sozialdemokratisch-politische Begriffsdeutelei — den wirk-
lich soziahstischen Gedanken hervorbrechen Uess und eine
Solidaritatsaktion von solcher Kraft, Entschlossenheit und
Geradheit wachrief, dass einem das Herz hoher schlug.
— Stande England jetzt vor einem Krieg — konnte es
ihn fiihren? England wird noch lange zu scharfen haben,
bis alles wieder im kapitahstischen Gleise korrekt funk-
tioniert.
Der Antrag der Englander und Franzosen fiel in
Kopenhagen ins Wasser. Er scheiterte an dem Wider-
spruch der Deutschen, die einen ihrer radikalsten und
dazu einen ihrer kliigsten und ehrlichsten Vertreter, Herrn
Ledebour, erklaren Uessen, die deutschen Sozialdemokra-
ten miissten den Antrag ablehnen, weil sie sonst ihre
pohtische Stellung unleidhch erschweren wiirden. Danach
in Deutschland zum Generalstreik aufzufordem, ware sinn-
los. Die ihn realisieren miissten, wiirden dem Rat nicht
folgen, weil der Sand, der ihnen jahrzehntelang von der
Parteipresse in die Augen gestreut wurde, ihnen jeden
Blick fur das real Notige verschleiert hat.
Die wir in Deutschland den Frieden wollen, haben
von der deutschen Arbeiterschaft nichts zu hoffen. Deren
Demonstrationsversammlungen und hochtrabende Reso-
lutionen schrecken keinen Hund vom griinen Tisch und
von den Kassenschranken. Wir miissen unsere Blicke ver-
trauend nach Frankreich richten. Die Franzosen haben ihre
Herve, Griffelhues, Yvetot, — radikale Naturen voll Leiden-
schaft und Volksliebe, Manner, deren Feuer in den Massen
ziindet und deren Worten sie freudig zustimmend folgen.
— In Frankreich ist es soweit, dass die Regierung ihre
Arbeiter und Bauem nur mit Zittern zum Kriege rufen
— 87 —
konnte. Dort steht der klare Wille des Volkes stark und
gross gegen die verschlagene Klugheit der Advokaten.
Dort spricht aber auch ein Umstand mit, dessen wir
hierzulande nur mit Scham und wehmiitigem Neid ge-
denken konnen: dort steht der Geist geeint auf der Seite
des Volkes, dort stellt sich der Geist der Dichter und
Kiinstler in den Dienst der Menschheitssache.
Wo lebt uns ein Anatole France? — Die in Deutsch-
land den Geist reprasentieren, schlafen. Deutsche Dich-
ter und Kiinstler, wollt ihr nicht endhch auch zur Posaune
greifen? — 1st es nicht Blut von eurem Blut, das fiir
Marokko fliessen soil? — Wollt ihr nicht endlich er-
wachen und euch dem Volk einen, das Volk schaffen,
ohne, das euer Werk Schatten und Schaum ist? — Geist
und Volk gehoren zusammen! — Mag der Tag nicht fern
sein, da sie auch in Deutschland vereint stehen gegen
Junker und Borse, gegen Diplomaten und Pfaffen und
gegen die journalistischen Paukenschlager!
Tagebuch aus dem Gefangnis.
(Fortsetzung.)
In einer solchen Lage, in der man selbst vollig
unilbersehbaren Dingen gegenlibersteht, und wo einem selbst libel
genug zu Mute ist, vergeht einem die Neigung, anderen Trost
zuzusprechen. Man orientiert sich einfach ttber das Schicksal des
Nachbars und wendet seine Gedanken alsbald dem eigenen zu. So
brachen wir die Unterhaltung kurz aE> und ich dachte mir: jetzt wird's
bald 3 Uhr sein. Jetzt ungefahr kame ich in Zurich an, und heut
oder morgen hatte ich dort liebe Freunde wiedergesehen, die befreun-
deten Anarchisten aufgesucht, im Cafe Terrasse gesessen und mit
Doktor Brupbacher die Probleme Sozialismus, Demokratie, Anarchis-
mus und Individualismus diskutiert und darliber gestritten, ob sich
der Enthusiast der Freiheit in seinen praktischen Massnahmen auf
den Produzenten- oder auf den Konsumentenstandpunkt zu stellen
habe, gestritten ttber die gleichen Themata und mit der gleichen
Hitzigkeit wie vor fttnf Jahren, und seitdem, so oft ich durch Zurich
kam.
Der arme alte Kerl, der selbst nicht wusste, ob er wusste, was er
tat, wurde zurttckgebracht, und unser Dompteur ftthrte uns nun die
Treppen hinunter ttber einen Hof und durch den Garten, den ich durch
das vergitterte Fenster gesehen hatte, an eine Tur, ttber der zu
lesen stand: „Eingang zum Gefangnis". Dann kommandierte er uns
in ein sonderbares Gelass, schlug die Tlire zu und schloss sie mit
brutaler Vernehmlichkeit ab. Den waren wir jetzt los. Der Raum,
in dem wir unsere weiteren Bestimmungen jetzt erwarteten, war
grosser, aber noch unfreundlicher als der, von dessen Fenster wir
wenigstens den Garten gesehen hatten. Er war lang und rechteckig,
das Fenster war klein und sehr hoch angebracht, sodass die Zelle
Halbdunkel war. Ueber die Einrichtung dieses Gemaches gab ein
kleines Plakat Aufschluss, das an der Wand hing. Ich glaube, ich
bringe die Gegenstande, die darauf verzeichnet waren, noch aus dem
Gedachtnis zusammen. Ihre Anzahl war nicht gross genug, um fur die
Aufzahlung einen Mnemotechniker zu erfordern. Die Ueberschrift
hiessstolz:„Inventarium". Dann stand sauber untereinander: „1 Nacht-
geschirr aus Steingut, 1 Nachtgeschirr-Deckel, 1 Wandbrett, 1 Spuck-
napf, 1 Wasserkanne, 1 Trinkbecher, 1 Bank. 2 Sttihle. 1 Zellen-
lampe. 1 Leibstuhl." — Unter dem „Leibstuhl" ist ein in eine Ecke
gebautes Holzgestell zu verstehen, ein Dreifuss, der aber nur zwei
Fttsse hat, weil den hinteren die Wandecke vertritt, in die das Gestell
eingeschlagen ist. Zwischen diesen Fttssen befinden sich in massigem
Abstand ubereinander zwei nach vorn runde Bretter, auf deren unterem
das Steingutnachtgeschirr mit dem Metalldeckel steht, deren oberes
aber nur der Rand um ein kreisrundes Loch ist, das so genau um
das Geschirr passt, dass man dessen Deckel gerade noch an seinem
Knopf herausholen kann, um ein ganz prachtiges, gebrauchsfertiges
wasserloses Geruchkloset zu haben. — In dem so beschaffenen
Raum sass ich nun zusammen mit dem unbewussten Dieb und dem Zu-
halter, dem nichts zu beweisen war, ich selbst ein Staatsverbrecher,
der sein Staatsverbrechen noch gar nicht kannte. Denn was half mir
die Kenntnis des Wortlautes der Paragraphen, deren Verletzung man
mich beschuldigte, wo ich bei angestrengtestem Nachdenken nicht
auf die Straftat kam, mit der ich sie verletzt haben sollte? — Man
liess uns lange warten, Jeder hatte genug mit sich selbst zu tun,
als dass einer ein Gesprach begonnen hatte. Nur manchmal knurrte,
einer von uns dreien: Wie lange sollen wir denn hier noch sitzen ?
Klimmert sich denn kein Mensch weiter um uns ? oder ahnliches.
Endlich kam ein Aufseher, ein gutmutig aussehender Mann in
einfacher blauer Uniform mit roten Aufschlagen. „Sind Sie Herr
Muhsam ?" fragte er, wahrend er auf mich zukam. Dann hiess er mich
ihm folgen und ftihrte mich eine hohe Treppe hinauf bis zu einem
Absatz, an dem stand: Zweites Stockwerk. Dort ubergab er mich
einem ebenso gekleideten Beamten, der nicht minder freundlich aus-
sah und mich aufforderte, mich auf einen Stuhl zu setzen, der auf
dem Korridor neben einem Tische stand. Ich merkte, dass ich unmit-
— 89 —
telbar vor dem Ziele stand. Denn ich sah mich im Winkel eines
hellen, langen Korridors, dessen beide Schenkel von nummerierten, mit
schwerem Eisengriff und dicken schwarzem Schlusselloch versehenen
Eisentiiren flankiert waren. Dieser Korridor war eine Art Brilcke.
Denn gegenilber den Zellen war ein richtiges Gelander, ilber das man
nach unten und nach oben sehen konnte, dass das untere und das
obere Stockwerk diesem zweiten ganz gleichartig gebaut war. Jenseits
des Gelanders lag der tiefe, von der nackten Wand begrenzte droh-
nende Hausraum, und unten an der Wand sah man gleich einer
Raupe das gewellte, rotgestrichene Rohr der Zentralheizung dahin-
kriechen. In der Hohe des zweiten Stockwerks aber, also in
gleicher Hohe, mit mir, hing, eingeklemmt in die Wandecke, wie das
Auge des Gesetzes, das zugleich nach mehreren Richtungen sehen
mochte, eine grosse, runde, martialisch ernsthafte Uhr mit breitem
rotbraunem Rand, auf dem in machtigen Lettern die Worte standen:
„Normalzeit der Sternwarte." — Die Zeiger belehrten mich, dass
er kurz nach vier Uhr war. Auf dem Flussboden des Korridors,
auf dem ich der Anweisung einer Zelle harrte, lagen, angelehnt an das
hohe eiserne Brlickengelander, viele hohe Stapel seltsam zurechtge-
schnittenen Papiers. Nach einiger Ueberlegung kam ich dann da-
hinter,- dass sich so prapariertes Papier ausgezeichnet zum Tuten-
kleben verwenden lassen mttsse. Indem ich mich den Assoziationen
hingab, die sich an derlei Wahrnehmungen zu knlipfen pflegen,
kam der Aufseher wieder und schloss vor mir die Zelle 42 auf,
in die er mich eintreten hiess. Hinter mir schloss er sie wieder ab
und ich hatte nun hinlanglich Zeit, mich in meinem neuen Heim
umzuschauen. Die Zelle war vielleicht sechs Schritte lang- und so
schmal, dass ich die Arme noch nicht ganz auszustrecken brauchte,
um an jede Wand eine flache Hand mit der ganzen Innenseite anzu-
lehnen. Die Hohe war nicht gering. Gegenilber der Tur war das
Fenster, dessen unterer Rand nahezu zwei Meter liber dem Fussboden
lag. Das Fenster, wenn man nicht lieber von einer Luke reden will,
war horizontal geteilt, und zwar konnte man den oberen Teil halb
auf- und zuklappen. Statt eines Fensterkreuzes hatte die Scheibe
sich mehrfach schneidende eiserne Stangen, und dahinter sah man
auch aussen noch ein eisernes Gitter die Sicherheit der Abschliessung
gewahrleisten. Die Scheibe war graues, dickes, gewelltes, undurch-
sichtiges Glas, sodass mir auch ein Klimmzug, mit dem ich mein
Auge in die geeignete Hohe hatte bringen konnen, nichts geniitzt
hatte, um hinauszusehen. Links der Tlire, in die Wandecke eingezim-
mert, befand sich ein „Leibstuhl" von derselben Art, wie ich schon
beschrieben habe. Ihm gegenliber ein Spucknapf. An der linken
Wand hing, angekettet, eine Schlafpritsche, d. h. ein eisenbeschla-
genes Holzgestell, zwischen dem und der Wand eine Strohmatratze
— 90 —
eingeklemmt war. An der Erde darunter lag ein Keilkissen, aus
dessen Lochern Strohhalme herausragten. Ich bemerkte, dass unter
dem Gestell mit Scharnieren Eisenbeine befestigt waren, die nach
dem Losketten das Bett zu tragen hatten. An der rechten Seite des
Zimmers hing ein zweifacheriges Holzbord an der Wand, auf- unter
und in dem, sauber nach einer daneben hangenden gezeichneten
Tabelle geordnet, folgende Gegenstande untergebracht waren: Ein
neues Testament, ein Trinkbecher, ein Wasserkrug, eine Schuh-
und eine Kleiderblirste, ein Essnapf, ein Loffel, ein Salzfass, eine
Waschschussel, ein Seifennapf, ein Kamm, eine Miillschippe mit
Handfeger, ein Handtuch, ein Geschirrtuch und ein Scheuerlappen.
Weiterhin war eine Tischplatte mit einem Bein an der Wand be-
festigt, und meine Versuche ergaben, dass auch dieses Mobel sich
hochklappen liess. Das gleiche zeigte sich bei der etwas kiirzeren
und schmaleren, gleichfalls auf ein Bein gestutzten Bank, die sich nicht
vor, sondern hinter dem Tisch befand, sodass ich mit Schrecken
gewahrte, dass ich, wenn ich schreiben wollte, das Licht immer von
hinten bekommen musste, was mir fur meine ohnehin nicht luchs-
naften Augen kaum vorteilhaft schien. — Damit habe ich, falls ich
nichts vergass, alles aufgezahlt, was die Einrichtung der Zelle aus-
machte. An der rechten Wand zogen sich nicht sehr hoch liber
dem Fussboden zwei gut geheizte Rohre der Zentralheizung hin.
Naturlich vergass ich noch etwas: die gezeichnete Anordnung fur
den sogenannten „Spind" erwahnte ich schon, aber mit ihr hingen an
diesem Spind ein vollzahliges „Inventarium" und ein gedrucktes Heft-
chen, das sich „Verhaltungsvorschrift" nannte und aus dem ich die
Tagesordnung der Anstalt und noch manches Wissenswerte erfahren
konnte. Ferner vergass ich ein Plakat, das auf jeder Seite einen
frommen Spruch zur Besserung siindiger Menschen enthielt und
eine Petroleumlampe, die einen hochst seltsamen Schirm hatte, aus'
Blech namlich, den man wie einen Parapluie liber den Zylinder zog.
Das war nun aber wirklich wohl das gesamte Inventar, mit dem
mich vertraut zu machen ich fiir die Lebensaufgabe meiner nachsten
halben Stunde hielt.
(Fortsetzung folgt.)
Aus dem Mlinchner Zen s urb e ir a t .
Munchen, den 16. August 1911.
Sehr geehrter Herr Miihsam!
Darf ich Sie zur Veroffentlichung folgender Erorterungen um
die Gastlichkeit Ihrer Monatsschrift „ K a i n " bitten. Voraussicht-
lich erscheint im Laufe dieses Herbstes ein modernes Myste-
— 91 —
r i u m von mir, dem ich diese Polemik als Vorwort vorauszuschicken
denke. Sie wiirden mich aber, sehr geehrter Herr M ii h s a m , zu
besonderem Dank verbinden, wenn Sie diese Zeilen durch Wieder-
gabe im „K a i n" jetzt schon zur Kenntnis Ihrer Leser gelangen
lassen wollten.
Mit dem Ausdruck vorzuglichster Hochschatzung
Ihr ergebener
Frank Wedekind.
Nachdem die Munchner Polizeibehorde wieder einmal die Auf-
flihrung eines meiner harmlosesten Theaterstucke „Oaha" verboten
hatte, suchten Herr Direktor Stollberg vom Munchner Schau«
spielhause und ich um eine Unterredung mit dem Herrn Polizei-
prasidenten nach, die uns giitig gewahrt wurde. In seiner Be-
grilndung des Verbotes berief sich der Polizeiprasident uns gegenuber
auf ein Gutachten, das ein Sachverstandiger ilber mein Drama aus-
gestellt hatte. Das Gutachten, aus dem uns der Polizeiprasident
einige Kraftstellen zum besten gab, war meinem Urteil nach ein
Produkt absoluter Verstandnislosigkeit. Wer es abgefasst hat, das
blieb fur uns nattirlich tiefstes Geheimnis. An eine Zurucknahme des
Verbotes war nicht zu denken.
Wenige Wochen vorher hatte ich nun Gelegenheit gehabt, zwei
Gutachten von Mlinchener Autoritaten, auf deren Urteil sich die
Polizeibehorde bei ihren Massnahmen zu stlitzen pflegt, genauer
kennen zu lernen. Es handelte sich dabei um meinen
Einakter „Totentanz" oder „Tod und Teufel", den ich
seit Jahren in Mlinchen, Wien, Hamburg, Dresden, Prag, Berlin,
Budapest, in einigen Stadten sogar wiederholt, offentlich vorge-
lesen habe und der durch sein Feuer, seine Leidenschaftlichkeit und
seine dramatische Steigerung uberall das Publikum
in gespanntester Aufmerksamkeit hielt. Diese Tat-
sachen finden in unzahligen liber die Vorlesungen erschienenen Kri-
tiken und Besprechungen ihre Bestatigung. Um diesen Einakter
nun wenn moglich auch fur eine offentliche Auffiihrung in Munchen
frei zu bekommen, wandte ich mich an Herrn Dr. Franz Muncker,
Konigl. Professor fur deutsche Literatur an der Universitat Mlinchen
und an Herrn Dr. Sulger-Gebing, Kgl. Professor fur deutsche
Literatur an der technischen Hochschule in Mlinchen. Herr Prof.
Sulger-Gebing erklarte sich in liebenswiirdigster Weise bereit, mir
ein Gutachten iiber meinen Einakter auszustellen, wahrend mir Herr
Prof. Muncker in einer langeren kritischen Bewertung meines Einakters
schrieb, dass er nicht in der Lage sei, noch einmal ein Gutachten
darliber auszustellen, da er das der Polizeibehorde gegenuber schon
einmal getan habe. Beide Herren beweisen mir nun, durch die
— 92 —
mir iibermittelten Schriftstiicke, dass ihnen ganz einfach die Fahig-
keit fehlt, meinen Einakter zu lesen, dass sie fur dessen kilnstlerische
Qualitaten kurzweg stockblind sind, dass sie vor meiner Arbeit
ebenso verstandnislos stehen, wie ein Kind, das nie einen Vers gehort
hat, vor einem gedruckten Gedicht. Beide Herren beweisen durch
ihr abgegebenes Urteil, dass sie auf dem Gebiet, fiir dessen Pflege
sie vom Staate besoldet werden, ganz einfach nicht Bescheid wissen.
Fiir diese Behauptungen, die ich notgedrungen in Wahrung meiner
kiinsflerischen Ehre aufstellen muss, erbiete ich mich, jeden Moment,
vor jedem Publikum, auch vor den akademischen Horem, die die
Kollegien der beiden Herren besuchen, den Beleg zu erbringen.
Allerdings sprechen sich beide Begutachter fiir die offentliche
Auffiihrung meines Einakters aus, was ich dankbar anerkennen muss.
Da sie meiner Arbeit aber k e i n e r 1 e i kilnstlerische Qualitaten:
zuerkennen, sondern im Gegenteil die Moglichkeit einer kiinstlerischen
Wirkung rundweg in Abrede stellen, hat eine konsequente ge-
wissenhafte Behorde nicht die geringste Veranlassung, auf Grund
dieser Gutachten eine Zurucknahme des Verbotes in Erwagung zu
Ziehen, obwohl beide Gutachter dies Verbot fiir unberechtigt halten. Um
so mehr Veranlassung und Berechtigung habe ich als Autor, mich
gegen die falsche und ungerechte Beurteilung meiner Arbeit zu ver-
wahren. Ich verzichtete daher auch von vornherein darauf, die
beiden Schriftstiicke der Polizeibehorde vorzulegen. Ich zog es vor, sie
als unumstossliche Beweise fiir mich zu behalten, in der festen Zu-
versicht, dass Ihre Beweiskraft von Jahr zu Jahr wachsen wird.
Da nun die Moglichkeit, meiner Kunst offentliche Geltung zu ver-
schaffen, behordlicherseits von den Kunstanschauungen derartiger
Autoritaten und vollig verstandnisloser Sachverstandiger abhangig
gemacht wird, und da die iibrigen iiber meine Arbeiten abgegebenen
Gutachten im grossen ganzen vielleicht nicht auf mehr Verstandnis be-
ruhen werden, als die beiden in meine Hande gelangten, halte ich
mich fiir berechtigt, diese beiden Zeugnisse literarischer und kiinst-
lerischer Verstandnislosigkeit, die von jedem Laien miihelos als solche
erkannt werden konnen, zu veroffentlichen.
Herr Prof. Dr. Franz Muncker schreibt u. a.: „Ferner
kann man ^t wohl zweifeln, ob Erorterungen iiber das von Ihnen
behandelte Thema, mo gen sie noch so theoretisch blei-
ben (oder vielleicht eben, weil Sie theoretisch
bleiben) auf die Biihne gehoren, ob sie nicht vielleicht eher zu
einem Lesedrama passen."
Herr Prof. Dr. Sulger-Gebing schreibt u. a.: „Ein Zensur-
verbot scheint mir diesem Einakter gegeniiber nicht gerechtfertigt.
Ich halte ihn fiir undramatisch und darum fiir wenigbiihnen-
w i r k s a m . . . Die Personen ergehen sich fast ausschliesslich
— 93 —
in langatmigen t he or e t i s c he n A u s e i n a n d e r s e t -
zungen. "
Aus der Tatsache, dass die beiden Literaturprofessoren fur die
Lisiska- Verse in meinem Einakter vollstandig unempfindlich sind, lasst
sich leider kein so kinderleicht beweisbares Exempel fur die Grenzen
ihrer Fahigkeit statuieren, wie daraus, dass sie beide den Einakter
fur undramatisch halten. Es muss genugen, diese Tatsache zur Auf-
klarung der literaturbeflissenen Schiller der beiden Herren hier fest-
zustellen.
Sollte nun nicht schon allein die Tatsache, dass fur die kilnstleri-
schen Qualitaten meiner Arbeiten, die sich zu dutzendmalen in den ver-
schiedensten Stadten als wirksam erwiesen haben, zwei Milnchner
Hochschulprofessoren der deutschen Literatur vollstandig blind sind,
eine genilgende literarische Rechtfertigung filr die offentliche Auf-
fuhrung meines Einakters bedeuten?
Natilrlich werden mir die beiden Herren entgegnen, dass an der
Wirkung des Einakters aufs Publikum nur meine Vortragsweise
schuld sei. Gutl Dann sollen die beiden Herren ihre Kollegien
ilber die deutsche Literatur doch auch einmal so vertragen, dass sie
im Publikum den Eindruck von Feuer, Leidenschaftlichkeit und
dramatischer Steigerung hervorrufen.
Gutachten
des Herrn Professor Dr. Franz Muncker.
Sehr geehrter Herr Wedekind !
Als ich gestern abend die ersten zwei Seiten Ihres Dramas
„Tod und Teufel" gelesen hatte, war ich mir klar, dass ich das
Werk schon kannte; nur wegen des nicht scharf bezeichneten Titels
hatte ich mich nicht sogleich daran erinnert, als Sie mir das Stuck
brachten. Ich las das Stuck aber dennoch gestern noch einmal
langsam zu Ende und las dann auch die mir vorher noch unbekannte
„Zensur".
Nun erinnere ich mich auch genau, dass ich selbst unter denen
war, die etwa vor einem Jahr „Tod und Teufel" von der Polizei-
direktion zur Begutachtung erhielten. Was ich damals geschrieben
habe, weiss ich im einzelnen nicht mehr. Ich glaube aber, dass
ich mich fur Zulassung der Aufflihrung ausgesprochen habe. Be-
stimmt weiss ich auch das nicht mehr, und diese Ungewissheit dlirfen
Sie mir nicht verubeln, denn ich habe gerade im vorigen Jahr mehrere
Stlicke zu ahnlichem Zweck von der Polizei erhalten, und da ver-
wischt und verwirrt sich die Erinnerung leicht. Ferner kann man
ja wohl zweifeln, ob Erorterungen tiber das von Ihnen behandelte!
Thema, mogen sie noch so theoretisch bleiben (oder vielleicht eben,
weil sie theoretisch bleiben), auf die Biihne gehoren, ob sie nicht
vielleicht eher zu einem Lesedrama passen. Auch scheint mir Ihre
ernste Absicht nicht uberall deutlich, so dass kein Missverstandnis
moglich ist, herauszukommen, und die Erorterungen, die Sie jetzt
beilegten, die zur Klarung freiliche viel beitragen, die fehlten eben
— 94 —
damals noch. Aber da dies alles keine Bedenken gegen die Sitt-
lichkeit des Stiickes sind, und da wir in der Zensurkommission nur
sittliche und nicht asthetische Bedenken zu wlirdigen haben, so glaube
ich, ich werde mich vor einem Jahr so wenig fur ein Verbot Ihres
Dramas ausgesprochen haben, wie ich es heute tate. Dann aber er-
gibt sich die notwendige Folge, dass ich entweder von anderen Mit-
gliedern der Kommission uberstimmt worden bin, oder dass die
Polizeidirektion ihr — von Anfang an betontes — Recht gewahrt hat,
auf eigene Verantwortung auch einmal gegen die Mehrheit der Zensur-
kommission zu entscheiden. Jedenfalls aber kennt die Polizeidirektion
bereits meine Ansicht liber Ihr Stuck; ich bin also nicht in der Lage,
diese Ansicht noch einmal zur Information der Behorde auszusprechen.
Doch konnten vielleicht Sie die erklarenden Bemerkungen iiber
Ihr Stlick der Polizei noch vorlegen; freilich bezweifle ich, dass das:
zu einer Aenderung ihres Beschlusses fuhren wird. Oder wollen
Sie Dr. H a 1 b e und etwa Prof. Dr. Sulger-Gebing, Prof.
Dr. v. Du Moulin, die vermutlich noch nicht von der Polizei
gefragt worden sind, zu einem Gutachten veranlassen. Leider kann
ich, wie Sie mir gewiss zugestehen werden, in diesem Falle, so wie
die Dinge aun einmal liegen, nicht Ihnen zu Diensten sein. Ich lege
die beiden gedruckten Exemplare und Ihre handschriftlichen Er-
orterungen diesen Zeilen wieder bei.
Mit den besten Empfehlungen
Hochachtungsvoll
gez. M u n c k e r .
Gutachten
des Herrn Professor Sulger-Gebing.
Frank Wedekind, Tod und Teufel.
Ein Zensurverbot erscheint mir diesem Einakter gegeniiber nicht
gerechtfertigt. Ich halte ihn fur undramatisch und darum filr wenig
buhnenwirksam, aber nicht filr unziichtig oder sittenverderblich. Die
Personen ergehen sich fast ausschliesslich in langatmigen theore-
tischen Auseinandersetzungen liber die Stellung der Frau zum Mann,
Liebesgenuss und kaufliche Liebe. Doch sind diese heiklen Fragen
mit Ernst und mit einer fast trockenen Sachlichkeit behandelt, und
so mancher nicht verbotene franzosische Schwank bietet dem Publikum
weit anfechtbarere, weil durch und durch leichtsinnige Moral, die
noch dazu viel verfuhrerischer auftritt. Lasst sich bei Wedekind
der Zuschauer von den theoretischen Auseinandersetzungen fesseln,
so wird er rein intellektuell beschaftigt und gelangt iiber die Personen
und ihre Anschauungen zu der Auffassung, die der Verfasser in
den beigelegten Erlauterungen ausgesprochen hat. Verliert aber der
Zuschauer die Geduld, den Reden aufmerksam zu folgen, so ist
auf der Biihne nichts gegeben, was die Sinnlichkeit reizt, und er wird
sich bloss langweilen. Das einzige anstossige erscheint mir der
Ort, wo das ganze sich abspielt, das Bordell. Hier aber hat sich
der Verfasser sehr gemassigt — er hat, wie er sich ausdruckt, jede
Annaherung an die Wirklichkeit auf das Sorgfaltigste und Gewissen-
hafteste vermieden, — und ich kann deshalb auch darin besonders
im Hinblick auf so manche von der Zensur gestattete Schlafzimmer-
und Entkleidungsszene in franzosischen Possen, keinen Grund zu
einem Verbot erblicken.
— 95 —
Der Ernst der Behandlung und die Scharfe der Dialekte stellt
Wedekinds „Tod und Teufel", insbesondere wenn es zusammen
mit dem ebenfalls vorwiegend theoretische Auseinandersetzungen
gebenden Einakter „Die Zensur" aufgeflihrt wird, hoch liber so
manches, was unbeanstandet liber unsere heutige Buhne geht. Ich
sehe deshalb keinen Grund ein, warum der Dichter nicht mit diesem
Einakter auch auf der Buhne zu Wort kommen sollte.
Miinchen, den 3. April 1911.
gez. Prof. Dr. Sulger-Gebing.
Bemerkungen.
Schiesse bei Zeiten! Ihre komische Geste rechtfertigt nicht
immer die unernste Beurteilung einer Handlung. Der Prinzipal der
Berliner Schussmannschaft, Herr v. Jagow, hat eine besondere Me-
thode gestartet, da Gelachter hervorzurufen, wo Wut und Emporung
entstehen mlissten. Man denke einmal an die praktischen Folgen
seines Wirkens und zwinge sich, Herrn v. Jagow so ernst zu nehmen,
wie er sich selbst nimmt. Dann bekommen seine Massnahmen und
Erlasse ein verteufelt gefahrliches Gesicht. Er hat es bekanntlich mit
der Schneidigkeit, — das ware unbedenklich, brachte es nicht die
Tatigkeit, fur die er von seinen Opfern bezahlt wird, mit sich,
dass seine Schneidigkeit sich im Benehmen seiner Schussleute zu pro-
duzieren hat. Die Sanftesten sind die blauen Moabiteriche ohne-
hin nicht; seit sie nicht „zu spat" schiessen dlirfen, wird man sie
aber als konstante offentliche Bedrohung betrachten miissen. Das
Verhaltnis zwischen Berliner Einwohner und Berliner Schussmann wird
sich jetzt in die Formel ftigen lassen: Wer zuerst schiesst, lacht
zuletzt. Das sind heitere Zustande und die Berliner Verkehrssicher-
heit, zu deren Schutz angeblich Jagow und seine Mannen engagiert
sind, wird fortan hauptsachlich in der Form von Ruhestorungen
aus Browninglaufen in die Erscheinung treten. — Jedenfalls stehen
auch interessante Prozesse in Aussicht, und die Entscheidungen der
Gerichte werden in ihren scharfsinnigen Abstraktionen das beste
sein, was Jagows Betriebsamkeit dem Logiker wird zu prasentieren
haben. Erschiesst jemand einen Schussmann, der auf ihn zukam,
um an ihm vorbeizugehen, — wird der Verteidiger, der auf Putativ-Not-
wehr plaidiert, recht behalten. Und warum wird er nicht recht
behalten, sondern der Schlitze wegen Totschlags verurteilt werden?
— Wie wird umgekehrt der Freispruch des Schussmanns begrtindet
werden, der die alte Dame niederknallt, die ihn nach dem nachsten
Briefkasten hatte fragen wollen? Wir wollen es abwarten und horen,
was Herr v. Jagow als Sachverstandiger daruber aussern wird.
Unangenehm ist aber doch immer die Irreparabilitat der Scha-
den, die durch hervorragend forsche Leute verursacht werden. Da
gab es frliher in Berlin zwei bedeutende Juristen, den Landgerichts-
direktor Brausewetter und den Staatsanwalt Benedix, denen man
besonders gern politische Delinquenten in die Fange gab. Die
beiden Herren knallten ihren Opfern Freiheitsstrafen auf den Buckel,
dass es dampfte. Alle beiden starben in geistiger Umnachtung.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass ihre Hirne schon krank waren,
als sie noch ihre Rechtspraxis ausiibten. Denen aber, die von ihnen
abgeurteilt waren, niitzte die nachtragliche Erkenntnis ihrer Beschaffen-
heit nichts mehr. Sie waren und blieben im Gefangnis, bis ihre
Zeit verstrichen war. Wie nun — um hier gleich das tertium com-
parationis zu nennen, — wenn Herr v. Jagow eines Tages, beispiels-
weise wegen allgemeiner Unbeliebtheit (ich will nicht bitter werden
und etwa sagen: wegen menschlicher Regungen, wo er bloss Zensor sein
soil) — wenn er also wegen Mangel an Gegenliebe bei den Ber-
linern zum Zylinder greifen muss? Dieser Mangel an Gegenliebe
hat — daran zweifelt wohl keiner — langst bestanden, und ihm
werden zum Teil die Taten zuzuschreiben sein, die seine Schussleute
zum „rechtzeitigen" Eingreifen veranlassen. Wer dabei eine Kugel
in den Bauch bekommen hat, dem bleibt die Narbe oder die Witwe
ubrig; daran wird kein Nachfolger Jagows etwas andern konnen.
Das beste ware schon, der Prinzipal der Berliner Schussmann-
schaft wiche moglichst bald einem Nachfolger. Wie man ihn dazu
veranlassen konnte, weiss ich freilich nicht. Aber die linksseitigen
Volksbegllicker und Zeilensoldner wissen doch sonst immer so viele
gute Mittel, um den ehernen Willen der Massen emphatisch zum Aus-
druck zu bringen.
Zweierlei Hasskriige. Den Munchnern steht eine neue Gaudi
bevor. Es wird schon wieder ein Prozess wegen schlechten Ein-
schenkens angekilndigt. Ein fiebernder Reporter wusste sogar zu
melden, dass es diesmal nicht bloss den Kellnern und Pachtern an
den Kragen soil, sondern dass der Staatsanwalt hoher hinaufgreifen
und auch die Besitzer der Brauereien selbst auf die Anklagebank
notigen wolle. Unmoglich! — Zwar lasst sich die Richtigkeit einer
Berechnung schwer anzweifeln, wonach die moralische Triebkraft der
Manipulationen, die das Mitglied des Vereins gegen betriigerisches
Einschenken in den Zustand der Wichtigkeit fur die menschliche
Gesellschaft versetzen, beim Profit der Brauer zu suchen ist. Aber
wenn ein Reporterchen" dem Redakteur einer Zeitung eine sensa-
tionelle Allarmnachricht bringt, die nicht stimmt und zugleich das
Objekt der journalistischen Findigkeit und das Lesepublikum, das
wahre Begebenheiten erfahren will, schadigt, — geschieht die Ver-
offentlichung etwa nicht, weil der Verleger davon seinen Profit
hat? — Und hat schon jemals ein Staatsanwalt den Besitzer eines
Blattes, statt seiner abhangigen Redakteure vors Gericht geladen?
— — Das ware ja noch schoner, wenn plotzlich Knorr und Pschorr
mit Krethi und Plethi in einen Rechtstopf geworfen werden sollten!
Walhalla. Ein fruherer Musiker, namens Herwarth Waiden,
ktindigt eine Druckschrift an, die den Titel fiihren soil: „Goethe,
Nietzsche und Kraus". — Gemeint ist Herr Karl Kraus, Herausgeber
der „Fackel", Wien, IV. Bezirk.
Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9,
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Miinchen, Baaderstr. la. Tel. 2356.
KAIN, Heft 4. Inhalt: Widmung. — Menschlichkeit. — Tage-
buch aus dem Gefangnis. — Fiir Wedekind. — Tariftreue. —
Kentucky und Berlin. — Der Herr Rektor. — Semerau.
KAIN, Heft 5. Inhalt: Sittlichkeit. — Tagebuch aus dem
Gefangnis. — Miinchner Theater. — Mottl, ein Opfer der
„Miinchener Post". — Der heilige Jatho. — Architektur und
Behorde. — Bekanntmachung.
Pregrelationsbureau „ftanfa"
Ulfpt). Ami mojbtt mi Berlin NW 25 ■*■ holfielnfr Ufer 7 ♦
Jtih.: Jng. III. Kraufe
iiffrn allc naftndltrn tiber
Kunft, literatur, IDiffenftDaft
fdmeil — uollftandig — prcisiuert.
HSddemifrt) und literarifd) gebildete i'ehtoren.
Dorzufllidje Organifation 1
Bitte hier abzutrennen.
Biicherzettel.
An
Mit
3
Pfennig
zu
| frankieren.
Don
erift mutifam
crfdiieurn folgende BU$cr.
OlC tOUftC* Cedlflte. 1904. m. 2.40.
BCt Kt&tCt* ecdKfttt. 1909. m. 2.-
DlC l20d[)ItdplCr* luflftrtel. 1906. m.2.-
Zu brzicftcn durrt) icdc Budtjftandlung und den
Kain <Dcrlag, llUuidirn, BaadrrftraBe la.
Bitte hier abzutrennen.
Unterzeichneter abonniert hiermit auf die Zeitschrift
„KAIN", Jahrgang 1911/12. (Kain-Verlag Miinchen, Baader-
strasse la.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark.
Betrag wird gleichzeitig eingesandt.*)
Soil durch Nachnahme erhoben werden.*)
Genaue Adresse:
Name:
*) Nicht gewtlnschtes bitte zu durchstreichen.
Jahrgang I. No. 7. Oktober 1911.
KMN
Zeit/chriftfur
rWchlkhfteit
HemuJgeber;
(rich Huh/am
Inhalt: Bebel t- — Tagebuch aus dem Gefangnis. — Miinchner
Theater. — Bemerkungen. — Kiew. — Mainz. — Munchen. —
Korrespondenz.
Kain-Verlag Munchen.
30 Pfg.
In einigen Wochen erschei nt im KAIN-
VERLAG zum ersten Male der
Kain-Kalender
fiir das Jahr 1912.
Samtliche Beitrage sind vorn Heraus-
geber des „Kain", ERICH MUHSAM.
Der Kalender enthalt ernste und hu-
moristische Arbeiten in Prosa und
Versen: Artikel, Glossen, lyrische und
satyrische Gedichte, Aphorismen,
Dramatisches u.
w.,
Dem Kalender wird das Bild des Verfassers beigegeben.
Der Preis betragt fiir das
Einzel - Exemplar 1 Mark.
Bestellungen nehmen jetzt schon entgegen die Buch-
handlungen und der „KAIN-VERLAG", Munchen,
Baaderstrasse la.
Jahrgang I Miinchen,
No. 7. Oktober 1911.
KAIN
Zeitschrift fur Menschlichkeit.
Herausgeber: Erich Miihsam.
„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt
fiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne-
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs) Inserate die zweigespaltene
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag",
Miinchen, Baaderstrasse la.
Die Beitrage deser Zeitschrift sind vom Herausgeber.
MHarbeiter dankend verbeten.
Bebel f
August Bebel ist tot; im Alter von 71 Jahren an Ent-
kraftung und Herzschwache gestorben. Er lebt? — Er ist
tot, sage ich euch, und es ist hochste Zeit, ihm den Nekro-
log zu schreiben. In Jena hauchte er, am 14. Septem-
ber 1911, seine revolutionare Seele aus, umringt von seinen
Getreuen, die seine letzten Atemziige, seine letz-
ten Seufzer aufBngen, um in ihrem Geiste weiterzuleben,
weiterzukampfen, weiterzuwursteln.
August Bebel war eine Kampfematur, — das soil
ihm unbestritten bleiben. Er war ein Draufanger vom
alten Schlage, einer der seine Ueberzeugung, sein Ideal
und seine Sehnsucht hatte. Leidenschaftliches Tempera-
ment hatte er nicht, — das ware zu viel gesagt. Aber
er konnte es haben, wenn er wollte. Er konnte seine
prachtige Beredsamkeit zu Ausbriichen befeuem, dass
es eine Lust war, inn zu horen. Und, wahrend er sprach,
war Bebel immer ehrlich. Hatte er sein Temperament an-
gekurbelt und liess es nun haltlos ablaufen, so glaubte
er selbst jedes Wort, das ihm der Moment eingab, so hatte!
— 98 —
er keine Ahnung, dass er vorher ganz anders geredet
hatte und nachher wieder ganz anders reden wiirde. Wer
August Bebel je fur einen iiberragend intelligenten Kopf
gehalten hat, verkannte inn durchaus. Er war nur ein
eminent politischer Kopf. Seine Intelligenz erhob sich nie
iiber das Niveau der durchschnittlichen Klugheit bele-
sener Proletarier. Was inn vor seinen werktatigen Stan-
desgenossen auszeichnete, war ausschliesslich die Gabe der
Beredsamkeit. Aber auch die musste man mit Vorsicht
beurteilen. Sie beruhte namlich keineswegs auf der Fulle
einander iiberjagender Einfalle und Gedanken, auch nicht
auf sonderlich geschickter Diktion oder sauberem Stil,
sondern durchaus nur auf dem wundervollen hellschal-
lenden Organ des Marines und auf der lebendigen Beweg-
lichkeit seiner Gesten. Wer ihn horte, wurde gepackt und
oft erschiittert und mitgerissen. Las man nachher aber
die Reden auf dem Druckpapier nach, da fand man nicht
mehr viel vor von dem Feuer, der Begeisterung, der
Ueberzeugungskraft des gesprochenen Wortes. Dann
waren es meistens gar nicht besonders geschickt aufgebaute
Satze, aus denen die Rede bestand, aber viel Ausrufungs-
zeichen, Fragezeichen, Schlagworte. Hinter denen stand
zumeist: Bravo! Lebhafter Beifall! Stiirmischer Beifall!
— und man besann sich, dass die schlagkraftigen rheto-
rischen Wendungen immer am Ende einer Gedanken-
reihe erfolgten und auf diese Weise auf den nachsten
Teil der Rede vorbereiteten. Auch die Aeusserungen, auf
die Heiterkeit! und Sturmische Heiterkeit! folgte, erwiesen
sich nachtraglich bei der Lektiire als recht billige Witz-
chen und Anrempelungen, die gewiss keinen Humoristen
zum Urheber hatten. Las man gar, was er geschrieben und
dem Druck ubergeben hatte, so stellte sich sein Stil als
iibeistes Zeitungsdeutsch heraus. Wer in funfzigjahriger
Schreibpraxis so wenig Sprachzucht gelernt hatte, war
gewiss kein geistiges Phanomen.
Aber ein PoUtiker war Bebel. Er hatte stets den
richtigen Instinkt dafiir, warm er temperamentvolle Fan-
— 99 —
faren zu schmettern und warm er in leidenschaftsloser
Sachlichkeit zur Ruhe zu mahnen hatte. Der sachsische
Drechslergeselle lebte in ihm bis zum Ende, und als
sachsischer Drechslergeselle stand er den Dingen des
Lebens, des offentlichen Geschehens und der Partei ge-
geniiber. Er empfand alle Vorgange, mit denen er sich
zu beschaftigen hatte, ganz und gar als Proletarier, —
das war das Geheimnis seiner unerhorten Popularitat.
Die Meinung, die er in Versammlungen, im Reichstag,
auf den Parteitagen vertrat, war der Ausdruck der wirk-
lichen Grundstimmung der sozialdemokratisch geleiteten
Massen. Dieses in seiner Herkunft begriindete Mitschwin-
gen seines Geistes mit dem Fiihlen und Denken der
Millionen Proletarier gab ihm jederzeit die Sicherheit
seines Auftretens, das im letzten Dezennium geradezu
diktatorische Alliiren annahm. In dieser absoluten Sicher-
heit seines jeweiligen Standpunktes war er sogar seinem
vor ihm verstorbenen Genossen Paul Singer voraus, der
sich tief in das Wesen der Arbeiterseele hineingearbeitet
hatte und Bebel an Intelligenz weit iiberlegen war.
Was Bebel sagte, konnte man stets als den Ausdruck
der jeweiligen Massennansicht annehmen. Er war ein Baro-
meter der Stimmung unter den deutschen Arbeitern, und
wenn er von Jahr zu Jahr einen revolutionaren Grund-
satz nach dem andem preisgab, so reproduzierte sich darin
die Wirkung der marxischen Kathederweisheiten auf das
Volksgemiit.
Die Aktionsfeindschaft des historischen MateriaUsmus
verurteilt den Marxisten zur Realpolitik, d. h. zum grund-
satzlosen, zielvergessenen taktischen Manoverieren inner-
halb der angefeindeten bestehenden Verhaltnisse. Das
revolutionare sozialistische Prinzip musste bei der wach-
senden Erkenntnis der von Marx inaugurierten Ideen bei
der Masse zur Phrase werden, und wurde somit auch bei
Bebel in immer steigendem Masse zur Phrase. Solange
die Massen an ein Zukunftsideal glaubten, solange sie
noch wahnten, ihre BeteiUgung am Kampf der pohtischen
— 100 —
Parteien miisse binnen kurzem zur Realisierung ver-
schwommener sozialistischer Traume flihren, solange war
auch August Bebel der Fiirsprecher eines radikalen Drauf-
gangertums gewesen. Er konnte, wenn er Temperament
einschaltete, geradezu fanatisch werden in seinem Zorn
gegen die biirgerliche Gesellschaft und war am sympa-
thischsten, wenn er einmal — ganz der Mann des Volkes
und seines Wahns — den Blick fur das Wirkliche total
verlor und sein unklares Zukunftsstaats-Gebilde schon
zum Greifen nahe geriickt sah. Das war der Bebel, der in
der Geschichte fortleben wird und um dessen Tod auch wir
trauern, die wir seine Wege nie gegangen sind: der
fur das Jahr 1898 den grossen Kladderadatsch prophezeite,
der schwor, bis zum letzten Atemzuge der Todfeind der
biirgerlichen Gesellschaft bleiben zu wollen, der keine
Biindnisse und keine Konzessionen wollte, der Drauf-
ganger und couragierte Attackenreiter.
Als seine Haare weiss wurden, wandelte sich Bebel
zum wagenden Taktiker. Derm inzwischen hatten die
Diplomaten und Advokaten in der Partei Oberwasser
bekommen, und die Massen fiihlten sich regierungsfahig
im kapitahstischen Staat. Bebel hatte so wenig wie das
Gros der Arbeiterschaft die Kraft, sich dem Strudel des
wohlfeilsten Reformer-Ehrgeizes zu entreissen. Er geriet
mitten hinein in die kleinbiirgerliche Tagespolitisiererei,
die seine Krankheit wurde und seinen Tod herbeifiihrte.
Von 1867 bis 1911 — welch ein Niedergang! Der
hartkopfige Revolutionar, der Verfolgungen, Gefangnis-
strafen, Bedriickungen aller Art auf sich nimmt; dann
der Wortfuhrer des Volks, wo es um ernste Dinge geht,
der drohende Wachter iiber kummerUche Rechte; und
endhch der General belfemder Gernegrosse, staathch kon-
zessionierter Umstiirzler, allerdevotester Opponenten!
Seit Bebel im Reichstag erklart hatte, wenn einst die
Grenzen des Deutschen Reiches bedroht waren, wiirde
er selbst das Gewehr iiber seinen alten Buckel laden und
mitmarschieren gegen den Feind, war das Ende voraus-
— 101 —
zusehen. Mit der Marokko-Rede in Jena hat der alte
Revolutionar ausgerochelt. Da hat Bebel vor dem Impe-
rialismus glatt kapituliert. Wer sich noch schamen kann,
errote!
Erinnert man sich, wie Bebel in friiheren Jahren iiber
alle KolonialpoUtik urteilte? Als es um die Boxer-, um die
Hererokampfe ging, ausserte er Ansichten, die den hier
vor einem Monat entwickelten gar nicht sehr unahnlich
waren. In Jena aber fuhrte Bebel aus:
„Nun soil gar nicht bestritten werden, dass Marokko
zu denjenigen Landern gehort, die bei verniinftiger Wirt-
schaft einer grossen Entwicklung fahig sind, dass, wenn
in der Tat mit den geeigneten Mitteln, gegen die wir
auch, wenn sie die rechten waren, nichts einzuwenden
hatten, die Kolonisation Marokkos betrieben wiirde, der
Handelsverkehr gewaltig stiege und damit auch grosse
Vorteile fur Deutschlands Handel in Aussicht standen.
Das eine glaube ich aber in erster Linie postuheren zu
miissen: Wir Sozialdemokraten, die wir der ganzen
MarokkopoUtik .... feindhch gegeniiberstehen, und
wie sie jetzt betrieben wird, feindlich gegeniiberstehen
miissen, wir haben das natiirliche Verlangen, dass
Deutschlands Handel und Deutschlands industrielle Ent-
wicklung unter den gleichen Bedingungen in Marokko
sich vollziehen kann, wie die jedes anderen Staates
(lebhafte Zustimmung), dass also alle Staaten unter
voller Gleichberechtigung in Marokko ihre Interessen
verfechten diirfen, dass keiner dem andern vorgezogen
wird, keiner seine Stellung missbraucht, um die andern
zuriickzudrangen, wie man das ja — und das ist die
Hauptursache des Konflikts — der franzosischen Re-
gierung vorwirft, indem sie die Bestrebungen deut-
scher Interessenten, in Marokko Fuss zu fassen und
dort Ausbeutungsinstitutionen zu schaffen, hintanzuhal-
ten sucht."
Herr Bebel wendet sich also gegen die Art, wie
Marokko kolonisiert werden soil. Gegen „geeignete Mit-
— 102 —
tel" zur Kolonisation des Landes, „wenn sie die rechten
waren", hat er nichts einzuwenden. Amiisant ist, dass in
der gleichen Woche, in der diese Rede gehalten wurde,
der auch in Jena wieder von Bebel angeriipelte Maximi-
lian Harden in seine „Zukunft" einen Artikel „Weh dem
Sieger!" schrieb, worin Deutschlands Anspriiche in Ma-
rokko energisch bestritten werden. Bebels Patriotismus
stellt also den des Patrioten Harden in der Marokko-
Angelegenheit weit in den Schatten.
Aber die Bebeische Verbeugung vor den alldeutschen
Expansionspolitikern war wohl notwendig, urn das Be-
kenntnis vorzubereiten, dass die deutsche Sozialdemokratie
nicht gesonnen sei, wirksame Massnahmen gegen den Aus-
bruch eines Krieges zu veranstalten. Bebel legte dieses
Bekenntnis ab, indem er in sehr aggressiver Weise gegen
die Aktion eines Massenstreiks polemisierte. Er machte
das so, dass er die Situation eines Landes schilderte, das
sich im Kriegszustande befindet, und deduzierte alsdann
folgendermassen:
,J3ie Preise der Lebensmittel erreichen eine uner-
schwingliche Hohe, obwohl sie heute schon kaum er-
schwinglich sind. Dann aber wird das die allgemeine
Hungersnot tatsachlich bedeuten. Was glaubt man denn,
was aus einer derartigen Situation entsteht? Da fragen
die Massen nicht nach Massenstreik. (Lebhafter Beifall.)
Da schreien sie nicht nach dem Massenstreik, da schreien
sie nach Arbeit und Brot, (sturmische Zustimmung) —
so liegen die Dinge — , nach Arbeit und Brot, die mit
Ausnahme der Industrien und Gewerbe, die direkt am
Kriege interessiert sind, niemand ihnen bieten kann."
Sehr richtig, Herr Bebel! So wird es aussehen, wenn
eure lotterhafte Geschaftspolitik den Krieg nicht zu ver-
hindem gewusst hat, wenn ihr in eurer straflichen Angst
vor dem Vorwurf der Vaterlandslosigkeit euch zu keinen
kraftigeren Entschliissen aufraffen konnt, als zu leeren
phrasenklingenden Resolutionen, in denen ihr den Krieg
— 103 —
wie weiland Homer „mannermordend" nennt, und erwar-
tet, „dass insbesondere die deutsche Arbeiterklasse jedes
mogliche Mittel anwendet, um einen Weltkrieg zu verhin-
dern". Von dem einzig moglichen Mittel aber wollt ihr
nichts wissen.
Herr Dr. David aus Mainz musste nach der schonen
Rede Bebels, die das Entziicken aller liberalen Lesepapiere
bewirkte, schleunigst einen Antrag auf Schluss der Debatte
einbringen, damit Dr. Liebknecht verhindert wurde, die
peinliche Frage zu stellen, was fiir Aktionen derm nun
eigentlich gleich erfolgen sollten. Die „Harmonie" durfte
nicht gestort werden. Derm sonst hatte der ganze Zweck
der Uebung durchkreuzt werden konnen.
Welcher Zweck? Sich fiir die in vier Monaten stei-
gende Reichstagswahl den patriotischen Spiessern freund-
lichst empfohlen zu halten!
Der sich zu diesem widrigen Manover hergab, war
August Bebel, der alte Bebel, der keine Konzessionen
machi" und mit dem Kopf durch die Wand geht.
August Bebel ist tot. Klappt den Sargdeckel zu!
Tagebuch aus dem Gefangnis.
(Fortsetzung.)
So lange dauerte es kaum, als der Aufseher mir zwei grosso
Decken und zwei Ueberziige in die Zelle brachte, mit dem Bemerken,
ich moge nun das Bett uberziehen. Ich entdeckte jetzt, dass die Kette,
mit der das Lager an der Wand befestigt war, nur liber einen Haken
geschoben war, und indem ich alle Leibeskraft zusammennahm, gelang
es mir denn auch, sie davon loszumachen, sodass ich mich nun gegen
das schwere Gestell zu stemmen hatte, damit es nicht mit aller Macht
mir auf die Kniescheibe falle. Jetzt musste ich etwas sehr Trauriges
erleben. Der Tisch und die Bank war namlich heruntergelassen, und
es stellte sich heraus, dass das Bett nicht aufgeschlagen werden konnte,
solange das der Fall war, weil es mit dem Tisch karambolierte. Ich
hob also das Bett mit grosser Anstrengung wieder empor und bemilhte
mich, es so lange mit der Hand festzuhalten, bis der Tisch an die
gegenuberliegende Wand geklappt war. Etliche Male musste ich
— 104 —
den Versuch erneuern, endlich gllickte er, und ich liess das Bett
langsam niedergleiten, bis dessen Platte plotzlich auf der Bank fest-
sass. Selbst die schmale Bank hatte zwischen dem schmalen Bett
und der Wand keinen Platz mehr. Diesmal geniigte aber ein kleiner
Anhub, um die karambolierenden Mobel aneinander vorbeizubringen,
und dann stellte sich die erfreuliche Erscheinung heraus, dass die
Bank zugleich mit dem Bett niedergelassen, gerade auf dem Bettrand
lag, also eine natlirliche direkte Verbindung vom Bett zur Wand
schuf. Ich vergegenwartigte mir, was fur eine sympathische Beschaf-
tigung es sein milsste, wenn ich im Bett lage und von dort aus
kleine Steinkugeln, die die Berliner Jungens „Murmeln" nennen und
die bei uns in Ltibeck „Picker" hiessen, gegen die Wand kollern
Hesse. — Es war mir gelungen, das Bett aufzuschlagen, und ich besah
jetzt das Material, mit dem ich es ausschmticken sollte. Da war ein
kleiner eckiger braunlicher Linnenliberzug, der, wie mir schien, ganz
die Fasson des Keilkissens hatte. Ich experimentierte damit eine
Weile, und schliesslich gelang es mir wirklich, das Keilkissen in den
Ueberzug hineinzuquetschen, dass es wie angegossen sass. Und dann
war da ein machtigen leinener blaukarrierter Ueberzug, den ich mit
einiger Angst betrachtete. Erst meinte ich, dass man damit wohl eine
der Decken uberziehen milsse, sah aber ein, dass daflir der Bezug viel
zu gross sei. So entschloss ich mich denn, die Matratze in das Ding
hineinzupferchen. Ich nahm sie vom Bettstell ab und lief bald an
das Kopfende, bald an das Fussende, um zu probieren, ob ich sie nicht
in den offenen Rachen des blauen Bettbezuges schieben konnte. So
ging es nicht. Ich legte nun die Matratze dahin, wohin sie gehorte
und zog mit dem Ueberzug gegen sie zu Felde. Es war aussert schwie-
rig. Aber mir kam ein genialer Einfall. Ich drehte das blaue Zeug
um und zog es nun der Matratze von unten herauf an den Leib
wie man Kindern Strumpfe anzieht. Zwar rutschte die Matratze dabei
immer mehr von der Bettstelle ab und schob mich zurilck, aber als ich
endlich rlicklings auf den Deckelknopf des „Leibstuhls" zu sitzen
kam, da hatte die Tugend gesiegt und die Matratze war in ein blau-
karriertes Kleid gehullt. Ich schob sie, stolz auf mein geglucktes Werk,
an ihren Platz zurilck, legte das Keilkissen oben darauf und packte
die beiden Decken daruber. Nun mochte kommen, was wollte: mein
Nachtlager war in Ordnung. — Der Aufseher kam, fragte, ob ich
fertig sei. und ich zeigte ihm, sehr mit mir zufrieden, das Resultat
meiner Tatigkeit. Der Mann sah mich von der Seite an, lachelte
vergnligt, ging dann zur Tur und rief hinaus: „Giesmann!" —
Giesmann kam. Ein blondbartiger Berliner Arbeiter im Straflings-
anzug. „Machen Sie das mal in Ordnung", wies ihn der Beamte
an und verliess die Zelle. Giesmann schmunzelte: „Sie sind sone Ar-
beeten woll nich jewohnt?" — Damit schmiss er Decken und Keil-
— 105 —
lassen vom Bett herunter und pellte mit grosser Behendigkeit die
Matratze aus dem Ueberzug wieder heraus, in den ich sie eben mit
so viel Liebe und Anstrengung hineingezogen hatte. Ich sah recht
wehmiitig zu. Nackt wie sie gewesen war, legte er die Matratze
zurilck, prilfte das Keilkissen, das er in seinem Ueberzug anerkannte
und legte die beiden Decken sehr sorgfaltig ubereinander. Dann
kniffte er sie an einer Seite ein und schob mit kaum glaublicher Ge-
schicklichkeit den blauen Ueberzug ilber beide Decken zugleich.
Unterdessen unterhielt es sich sogar noch mit mir, fragte mich, warum
ich hier sei und erzahlte, dass man ihn wegen verbotenen Drehorgel-
spielens zu vier Monaten Gefangnis verknackt hatte, die Mitte Novem-
ber abgeblisst seien. Ich wunderte mich ilber die hohe Strafe wegen
des geringfilgigen Vergehens. Er erklarte mir aber, dass er zum 36.
Male daftir bestraft sei. Es gibt doch konsequente Naturen, dachte
ich mir. — Mit diesem Giesmann bin ich inzwischen vertrauter ge-
worden. Er wird im Gefangnis damit beschaftigt, die Korridore und
gemeinsamen Raume taglich zu saubern (wofur er pro Tag 15 Pfennige
erhalt, nicht mehr und nicht weniger). Es hat sich all-
mahlich die stillschweigende Gewohnheit herausgebildet, dass Giesmann
auch meine Zelle in Ordnung halt. Seit ich Selbsfbekostigung habe,
kriegt er daflir den Kaffeezucker und die Bierreste, und wenn ich
einmal rauchen darf, den Zigarrenstummel.
Nachdem Giesmann mein Bett in Ordnung gebracht und mich
wieder allein gelassen hatte, die Tur vom Aufseher auch wieder abge-
schlossen war, fiihrte ich von neuem meine melancholischen Ge-
danken spazieren. Jetzt, sagte ich mir, sammeln sich die Getreuen
im Cafe Monopol, greifen nach den Abendblattern, die wahrschein-
lich voll erstunkener Mordsgeschichten sind, und fragen sich: 1st
der Miihsam wirklich beteiligt an der Dynamitgeschichte? — leih
kann es mir nicht denken. — Na, ich hab's immer gesagt, dass man
ihm mit dem Vorwurf der Harmlosigkeit unrecht tut. — Aber wie
konnte er das bloss von hier aus dirigieren? — Oh, nichts leichter als
das. Brieflich lasst sich viel machen. — Immerhin, dass er sich in
so gefahrliche Geschichten einlassen wurde — — . Ich bin iiberzeugt,
dass er von allem wusste; aber er wird sich schon geschickt heraus-
lilgen. — So, dacht' ich, werden sie wohl tiber mich sprechen, die,
die mir wohlwollen. Und ich sass nun hier einsam in der Gefang-
niszelle, in der es langsam dammerig wurde und wusste nicht, wofur.
Ich uberdachte noch einmal den Sinn der Paragraphen, und da
stieg mir eine Kerze auf. Das ist ein Schlag gegen den Sozialisti-
schen Bund! Morax zeichnete als Gruppenwart und sitzt in Neudeck
unter dem Verdacht, die Bombensache mitgemacht zu haben. Ich
war der erste, der den S. B. in Mlinchen agitiert hat; ich habe in
den Sitzungen der Gruppe Tat fast immer allein das Wort gefuhrt:
— 106 —
„Stifter und Vorsteher!" — Kommt hinzu, dass ich den Versuch
machte, die Kunden, das „Lumpenproletariat", den „fiinften Stand" fur
unsere Sache zu gewinnen, — nichts klarer als das: fur den Bomben-
wurf hat der Miihsam in seiner Gruppe Stimmung gemacht :
§§ 128, 129! (Fortsetzung folgt.)
Munchner Theater.
Ueber das Grundsatzliche der Volksfestspiele soil im Kain-Kalen-
der gesprochen werden. Hier sei eine Bewertung der Proben ver-
sucht, die Reinhardt in diesem Sommer den Mlinchnern bot. Zunachst
will ich unter Vorbehalt vieler Einwande im Einzelnen gegenliber
den Angriffen, denen Max Reinhardt gerade jetzt wieder selbst von
bisher freundlichen Seiten ausgesetzt ist, bekennen, dass mir seine
Experimente in der Musikfesthalle des Ausstellungsparkes uberaus
wertvoll sind, und dass mir alle Verdachtigungen seines kunstleri-
schen Wollens ungerecht, oberflachlich und kleinlich erscheinen.
Es kommt darauf an, vor grossen Menschenmengen wirksam Thea-
ter zu spielen. Dazu reichen die vorhandenen Btthnen nicht aus. Auch
die bisher publizierten Projekte fur neue Theaterbauten — ich erin-
nere an das Rohe-Zehe'sche — losen die Frage nicht, wie das
moderne Komodienhaus beschaffen sein muss, um flinftausend Per-
sonen genilgend Platz und annahernd gleichmassig gute Hor- und Seh-
moglichkeit zu bieten. Es gab keinen Ausweg: man musste nach
dem Beispiel der Alten das Amphitheater bevorzugen. Da wir hingegen
in anderem Klima leben, als die Athener, da sich ferner seit Sophokles
und Aeschylos die Nerven des theaterliebenden Publikums auf wesent-
lich gewandelte Reizungen eingestellt haben, und die durch Schall-
trichter gesprochenen Reden der Darsteller nicht mehr klinstlerisch,
gemessen konnten, so musste man den geschlossenen Raum suchen,
der das Agieren zu Filssen der Zuschauer gestattet. In Milnchen
fand sich die sehr geeignete Musikfesthalle, deren Halbkreis-Form so-
wohl die Benutzung einer Buhne wie der Arena ermoglicht. Anders-
wo musste Reinhardt faute de mieux im Zirkus spielen, und nun ging
das Geschrei, er sei ein Sensationsmacher, noch lauter los als
schon vorher. Wir haben es im vorigen Jahre nach der Auffuhrung
des „K6nig Oedipus" erlebt; wir werden es in diesem Jahre nach
der „Orestie" erst recht erleben, obwohl sich doch Herr Ferdinand
Bonn um die Verdeutlichung des Unterschiedes zwischen Kunst und
Spektakel hinlanglich verdient gemacht hat.
Die Entrlistung der Kulturhuter eifert in Sonderheit gegen das
Massenaufgebot der Mitwirkenden. Auch dieser Entrlistung kann der
Vorwurf der Oberflachlichkeit nicht erspart werden. Die Einrich-
tung des Arena-Theaters bringt es mit sich, dass die Gruppierung
— 107 —
der Zuschauer rund um die Szene zum Bilde der Auffiihrung erheb-
lich mitwirkt. Es ware daher ein Stilfehler grobster Art, wenn sich
die Zahl der Darsteller auf das durch die raumliche Begrenztheit der
Podium-Buhne bedingte Minimum beschrankte. Die Affichierung der
tausend Mitwirkenden an den Mlinchener Plakatsaulen ging zwar auch
mir sehr gegen den Geschmack, auf die Riesenchore selbst aber hatte
ich bei der Umfanglichkeit des Raumes und bei der Umgrenzung der
Szene durch die bis zum Dach der Halle gedrangte Zuschauermenge
nicht verzichten mogen . . .
Ob die Wahl der „Orestie" zum Volks-Festspiel glucklich war,
darilber wird sich streiten lassen. Es lag nahe, bei der szenischen
Benutzung des antiken Vorbildes auch im Repertoire an die Antike
anzuschliessen. Kommt hinzu, dass im vorigen Jahre der „K6nig
Oedipus" des Sophokles — mit grossem Recht — ungeheueren Erfolg
hatte. Die Versuchung, danach die „Orestie" zu inszenieren, ist
also sehr begreiflich. Aber das Werk des Aeschylos erftillt die Be-
dingungen der Massenwirkung auf unsere Zeitgenossen nicht entfernt in-
dem Masse, wie das des Sophokles. Im „K6nig Oedipus" ist einheit-
liche, gedrungene Handlung von packendster, sich stetig steigender
Tragik. Das Volk (also die Chore) ist in den dramatischen Konflikt
engstens verstrickt, denn es bttsst die Schuld des Konigs durch die
Seuche und greift nun anklagend und rettungheischend direkt in die
Handlung ein. Da gibt es grosse und fur die Wirkung der Tragodie
durchaus notwendige Aufgaben filr den Regisseur. Die Bewegung der
grossen Chore ist ein wichtiges Erfordernis, um die machtigste
Schicksalstragodie aller Zeiten im Zuschauer lebendig zu machen.
Die Wahl dieses Dramas zur Auffiihrung im „Theater der Fiinftau-
send" war also von selbst gegeben.
Ganz anders ist es bei der aus drei getrennten Stlicken bestehen-
den „Orestie". Das ist eine Aufzeigung der blutriinstigen Ereignisse,
die sich im Hause Agamemnons nach seiner Heimkehr aus dem troja-
nischen Kriege abspielen. Ein Familien- und Ehebruch-Drama, das
nicht in die Entladung katastrophischer Spannungen mtindet, son-
dern eigentlich in abstrakte politische und philosophische Erorterun-
gen. Die Auseinandersetzung iiber die rechte Gestaltung der atheni-
schen Gerichtsbarkeit geht uns heutzutage nur noch recht wenig an,
und iiber die Entschuldigung des Muttermordes, zu der Apollo seine
gottliche Kollegin Pallas Athene bemliht, deren Herkunft aus Jupiters
Schadel beweise, dass es nur eines Vaters aber keiner Mutter zum
Dasein bedtirfe, kann man bei allem Respekt vor Aechylos doch bloss
lacheln, wenn man ein Mensch unserer um das Mutterrecht kampfen-
den Tage ist.
Ganz im Gegensatz zu ihrer Wesentlichkeit im „Konig Oedipus"
haben die Chore in der „Orestie" nur teils dekorative, teils symbo-
— 108 —
lisch-allegorische Bedeutung. Weder die Schar um ihre angestammte
Dynastie besorgter Greise, noch das mit Agamemnon einziehende
Heer haben letzten Endes mehr zu tun, als fiir den Verlauf der Bege-
benheiten die Stichworte abzugeben, und die Erinnyen sind, nlich-
tern betrachtet, doch lediglich die personifizierten Qualen des bosen
Gewissens.
Der Versuch, die „Orestie" als Ganzes fur unsere Nerven auf
dem Theater geniessbar zu machen, musste also missglucken. Was
in dauernder Erinnerung haftet, sind Einzelheiten, zum Teil sehr
schone, herrliche Einzelheiten. Prachtvoll war der Einzug Agamemnons
im ersten Teil der Trilogie im vierspannigen Streitwagen, schauer-
lich grossartig im dritten Teil das heuschreckenhafte schleichende
Ueberfluten der Szene mit den schwarzverhlillten, geduckten Gestal-
ten der Eumeniden. Hier gab Reinhardt Beispiele von seinem uner-
horten Konnen als Theaterstratege. Andere Szenen misslangen da-
gegen vollig. Dass Orestes seine Mutter die ganze machtige Frei-
treppe hinunterzerrt, sie durch die ganze Arena schleift, riittelt, zaust,
wieder zurilck schleppt, die hohe Treppe hinaufpeinigt, um sie dann
Schliesslich hinter der Szene umzubringen, muss als unverantwortliche
Geschmacklosigkeit bezeichnet werden. Schlimm war auch der Schluss
des letzten Teils, wie es uberhaupt schien, als ob Reinhardts Energie
zum Ende hin erlahmt ware. Bei der geringen Zahl von Proben dtirfte
er seine Aufmerksamkeit zu sehr auf den Anfang konzentriert haben,
sodass manche Szenen zum Schluss hin salopp ausfielen. Dass bei
dem Klagegeschrei der Erinnyen manche Damen allzu haufig mit der
Stimme uberkippten, mag bei der schwierigen Akustik der grossen Halle
entschuldbar sein, — aber der polonnaisehafte Aufmarsch der tausend
Mitwirkenden als Endakkord der ganzen Veranstaltung wirkte operet-
tenhaft und lacherlich.
Die Einzeldarsteller der grossen Rollen sind ausser dem Herrn,
der den Aegisthos zu gestalten hatte, einem geckenhaften Schreier,
durchweg zu loben. Diegelmanns riesige Gestalt unterstutzte wirksam
die konigliche Wurde seines Agamemnon. Die Klytemnastra war
bei Frau Feldhammer vortrefflich untergebracht. Ihr Organ ist etwas
hart, aber ihre Gesten und ihre majestatische Sicherheit, besonders
in der Szene, in der sie sich als Morderin ihres Gatten bekennt und
stolz fur ihre Tat einsteht, geben ihr Artlagen zur grossen Tragodin.
Moissis Orestes war wundervoll. Seine Stimme ist Musik, in der Leiden-
schaft wie schmetternde Trompete, aber auch im Fliistern noch in
den letzten Winkel der gewaltigen Halle hinein horbar und verstand-
lich. Neben ihm hatte es Johanna Terwin sehr schwer, die Elektra
zu spielen. Wahrend ihrer einzigen Szene war das Theater verdunkelt,
und um sie herum stand der Frauenchor, sodass man sie nicht sah.
Moissi, der einzige den man auch im Finstern versteht war ihr Partner.
— 109 —
Trotzdem gelang es ihr, in Momenten zu fesseln und echte Empfin-
dung mitzuteilen.*) Dass einige kluge Leute ihre Auffassung nicht
richtig fanden, war nicht Frl. Terwins Schuld. Die assozierten nam-
lich an den Namen Elektra die Vorstellung einer Hoffmannsthalschen
Hysterikerin; hatten sie sich eine Uebersetzung der „Orestie" durch-
gelesen, so wiissten sie, dass die Elektra des Aeschylos ein gefuhlvolles
junges Madchen ist, und so wurde sie auch gespielt. — Die kostlichste
Gabe bot Gertrud Eysoldt als Kassandra. In ihr verkorpert sich filr
mich alle Schauspielkunst. Hier ist restlose Genialitat, innigste Ver-
schmelzung von Sein und Gestaltung. Unbeweglich, den Kopf verbor-
gen, kauerte sie auf des Konigs Wagen, richtete sich dann langsam
auf, breitete plotzlich die Arme weit auseinander und stiess in gellen-
der Verzweiflung heraus, was ihre verhangnisvolle Sehergabe sie
schauen liess. Nie sah ich Angst und Entsetzen so wahr und so ohne
Pose im Ausdruck eines Menschen, wie bei dieser unvergleichlichen
Schauspielerin. Gesicht, Haltung und Stimme spiegelten das visionare
Erleben in Kassandras Seele. Wie sie dann hinaufschritt zum Hause,
dem Tode entgegen, selig und gepeinigt zugleich, da war es wie
unirdischer Rhytmus in ihrem Gange und das Wunderbare und
Mythische wurde augenscheinliche Lebendigkeit. — Ich glaube nicht,
dass es iiber Gertrud Eysoldt hinaus schauspielerische Moglichkeiten
gibt. Ware ausser ihr an der „Orestie"-Auffuhrung nichts gewesen,
was hatte gelobt worden dilrfen, so ware doch um ihrer Kassandra
willen kein Aufwand umsonst vertan. Freuen wir uns, dass das
verfehlte Unterfangen, das tote Werk zum Leben zu wecken, uns
Gelegenheit gab, so viel lebendige Kunst am Werk zu sehen.
Ein paar Worte zu „Orpheus in der Unterwelt". — Das sollte eine
Art Satyrspiel nach der Tragodie sein. Ich habe aber den Verdacht,
Offenbachs Operette ware der „Orestie" auch gefolgt, wenn die
Alten nicht nach Sophokles stets dem Aristophanes das Wort ge-
geben hatten.
Reinhardt hat schon vor funf Jahren den „Orpheus" im Deutschen
Theater in Berlin gegeben. Ich sah ihn auch damals, und — ehrlich
gesprochen: er gefiel mir in Berlin besser als in Mlinchen, obwohl
dort die schonen Gesangsstimmen des Frauleins Jeritza und des Herrn
Ritter nicht zur Verfugung standen, und obwohl der Wiener Jupiter des
Herrn Pallenberg noch besser, lustiger, erfindungsreicher war als
der Berliner Jupiter des verstorbenen Engels.
*) Johanna Terwin spielte am 30. September zum letzten Male
am Munchener Hoftheater. Es ist in Ordnung, bei dieser Gelegenheit
eine kritische Charakteristik der ausgezeichneten jungen Klinstlerin
zu geben. Der Raum dieses Heftes zwingt mich leider, die Leser
damit bis zur nachsten Nummer zu vertrosten.
— 110 —
Aber das Stuck mit seinen vielen kostlichen intimen Reizen
gehort auf die Buhne und nicht in die Arena. Der grosse Raum
verschluckt die besten Wirkungen. Gewiss gelang manches ganz
famos. Der Dreietagenbau von Olymp, Erde und Unterwelt war
sehr hlibsch, besonders prachtig die Inszenierung der Gottergemutlichkeit
im Olymp. Auch kam die Musik bei dem geschickt in den Fussboden
eingebauten Orchester durchaus zu ihrem Recht, zumal unter Herrn von
Zemlinskys Leitung die prachtvollen Melodien ausserordentlich flott
herauskamen. Die Auffuhrung selbst war im ganzen recht gut. — Und
doch: es war nicht das Rechte. Man hatte das Geftihl, hier geschieht Offen-
bach Unrecht. Das Kapriziose, Launige und das Ruhrende des Werkes
kamen zu kurz.
Das Repertoire wird filr diese Auffuhrungen im Grossen noch
lange ein Schmerzenskind sein. Wie ware es mit „Carmen" ?
Bemerkungen.
Kiew. Zar Nikolaus hat Gelegenheit gehabt, sich durch Augen-
und Ohrenschein personlich davon zu ilberzeugen, dass die Revolu-
tion, die er im Blute der Rebellen ersoffen wahnte, noch frischen
Atem hat. Den getreuen Diener, der zur Leitung der Contre-
revolution berufen war und sein Amt nilchtern, korrekt und ohne
hemmenden Respekt vor Menschenleben und Volkswillen versah,
hat man seiner Majestat in die Theaterloge zu Kiew Allerhochst
zu Flissen gelegt. Die Herren Marxisten haben bereits erklart, dass
sie jeden Gewaltakt durchaus verwerfen und alles der natilrlichen
Entwicklung der Dinge iiberlassen mochten. Der Schuss aus Bagrows
Revolver mag fur sie ein neuer Beweis daftir sein, dass sie mit
alien ihren Bremsvorrichtungen an der natilrlichen Entwicklung der
Dinge nichts zu andern vermogen. Die russische Revolution ist
trotz der Plechanow-Fraktion der Duma nicht beendet, sondern
steht noch in den Anfangen. Sie wird dauern, bis der Absolu-
tismus wirklich beseitigt sein wird und auch dann nicht aufhoren,
ehe nicht die agrarische Feudalherrschaft gestlirzt und eine menschen-
mogliche Einteilung des Ackerbesitzers erreicht ist. Die Hinrichtung
Stolypins durch Bagrow und Bagrows durch Stolypins Funktionare
scheint das Signal zu neuem Anmarsch auf dem Wege der Revo-
lution zu sein.
Das Charakterbild Bagrows tritt aus den Zeitungsnachrichten
nicht deutlich hervor. Dass er mit der verworfenen Horde, die
in Russland unter dem Namen politische Polizei iiber die Gesinnungs-
reinheit der Menschen wacht, Verbindung hatte, scheint ja der Fall
zu sein. Wie weit er die Verraterei gegen seine Freunde trieb,
lasst sich vorlaufig nicht ubersehen. Da er eben sein Leben fur die
Sache der Freiheit gelassen hat, mogen psychologische Erorterungen
beiseite bleiben. Sicher ist, dass das schwere Werk, das er auf sich nahm
und mit erstaunlichem Mut ausfilhrte, nur in heiliger Begeisterung filr
eine Idee reifen konnte. Bagrow hat sich mit seiner Tat auf das
Vernehmlichste aus der Gemeinschaft des Lockspitzel-Gesindels,
auf dem die Sicherheit des russischen Staates beruht, losgesagt,
— Ill —
er hat, was er vorher gefehlt haben mag, mit dem' Tode bezahlt,
und darum soil sein Name im Gedachtnis freiheitlicher Menschen
in Ehren fortleben.
Wien. Es soil mal wieder der Mob, der Janhagel, das Gesindel
gewesen sein. Wir kennen das schon: wo ernste Dinge geschehen,
werden wegwerfende Ausdrilcke herangeholt, um sie verachtlich
zu machen. Die Tatsache ist die, dass zugunsten begliterter Speku-
lanten Steuern, Zolle, Grenzsperrungen dekretiert wurden, die das
Volk nicht mehr ertragen konnte. Teuerungcn sind namlich kein politi-
sches Manover, sondern hollisch reale Wirtschafts-Erscheinungen.
Die daran am eigenen Leibe und an dem ihrer Frauen und ihrer
Kinder leiden, gehen eines Tages auf die Strasse und fordern Brot
von denen, die es ihnen nahmen. Die jagen uniformierte Sohne
der Hungernden mit Flinten und Sabeln zwischen sie, und am Ende
gibt es Leichen, Verwundete, Gefangene und Kerkerstrafen bei
denen, die es nicht mehr ertragen konnten. Die Flirsprecher und
Vertreter des Volkes aber, die zwar den Staat aus Leibeskraften
bekampfen, sich aber mit noch grosserer Inbrunst an seiner Ver-
waltung beteiligen, furchten fur ihr Prestige bei den ruhebedlirftigen
Biirgern und somit fur ihr Parlamentsmandat und erklaren: Dass
Fenster eingeschmissen, Steine auf die Soldaten geworfen, geschimpft
und gejohlt wurde, dafiir kann das Volk nichts; das war der Mob,
der Janhagel, das Gesindel. Damit ist dann der Staat, der in die
demonstrierende Menge hineinschiessen liess, gerechtfertigt. Die
Huren, die alles der Geschichtsentwicklung ilberlassen wollen, und
die so fein zwischen der Ober- und der Unterschicht des „ Volkes"
zu unterscheiden wissen, haben aus der Geschichte gar nichts ge-
lernt. Sonst wiissten sie, dass die beste Kriegsmannschaft der fran-
zosischen Revolution die Sansculottes waren. Wer grosse Massen
demonstrativ auf die Strassen fuhrt, muss voraussehen, dass sie
sich nicht mit mageren Resolutionen abspeisen lassen, und dass
Leute unter ihnen sind, deren Elend so gross ist, dass sie gar
nichts zu verlieren haben: eben die, die man bei den arrivierten Ar-
beitern „Gesindel" nennt. Der immer wiederholte Versuch, diesen
Allerarmsten um ihres Zornes willen Schuld aufzubtirden, muss
den auserwahlten Leisetretern einmal deutlich als feige Gemeinheit
angestrichen werden. Die ungeheure Rohheit, die in Wien Militar
gegen notleidende Landsleute ausrticken liess, wird fast noch Iiber-
boten von der Klaglichkeit der „Volksfuhrer", die aus der Teue-
rung des Landes politische Geschafte herausschlagen wollten.
Mainz. Die Luft riecht noch nach dem Katholikentag, und
schon fiillt sie sich wieder mit dem Odeur betriebsamer Polizei
Sittlichkeit. Im Prozess Hirsch sind reizende Dinge zutage getreten.
Der Mainzer Polizei kam es eines Tages so vor, als ob manche
Manner und manche Madchen der guten Stadt ohne behordliche
Sanktionierung liebevolles Entgegenkommen gegeneinander betatig-
ten. Da musste etwas geschehen, und man iiberliess die Ausmistung
des Augiasstalles dem zarten Takt einer sittenstrengen Dame (fur
die der ,,Vorwarts" begeisterten Lobessabber ausschleimt). Junge
— 112 —
Madchen wurden zu ihr aufs Amt befohlen und nach dem Intimsten
ihres Lebenswandels befragt. Korperliche Untersuchungen wurden
vorgenommen, um festzustellen, ob die behauptete Intaktheit des
Hymens uberall stimme. Den Damen, die den Trieben ihrer Jugend
gefolgt waren, wurde das Kontrollbuch angedroht. Lockspitzel mussten
die Charakterfestigkeit allein spazierender Frauleins auf der Strasse
versuchen.. Dienstmadchen wurden ausstaffiert, um Hebammen die
Bereitwilligkeit, den Abtreibungsparagraphen zu verletzen, abzulisten.
Die Polizeiassistentin war mit einem Idealismus bei der Sache, dass
man im Zweifel ist, ob man ihren weiblichen Scharfblick oder ihre
Weltfremdheit mehr bewundern soil. Der Staatsanwalt aber erhob
gegen den Redakteur, der diese Dinge unschon fand, Anklage und
beantragte eine Gefangnisstrafe von einem Jahr und 8 Monaten.
— Ist es nicht hanebilchen, dass der Aberglaube von der ethischen
Bedeutung der Virginitat immer noch Menschen mit eigenem Ver-
antwortungsgefuhl behordlich belastigen darf? Ist es nicht grotesk, dass
junge Damen, die mit Mannern, die sie lieben, Verhaltnisse haben,
vor offentlichem Gericht als minderwertigen Charakters behandelt
werden dilrfen? Ist es nicht unwahrscheinlich, dass es bei den
Menschen heutzutage als unsittlich gilt, wenn liebende Menschen
einander Liebes tun? Wird nie die Zeit kommen, wo man einsehen
wird, dass die Geschlechtlichkeit der Menschen erst in der Vorstel-
lung Fremder unanstandig wird? Es ist arg bestellt mit der Moral der
Moralischen.
Miinchen. Milnchen ist eine wunderschone Stadt in Mitteleuropa.
Das Volk lebt friedlich vom frtihen Morgen bis in die Nacht hinein.
Um 3 Uhr kommt der Schutzmann und schickt es zu Bett. Fur
Bagrows und Stolypins ist hier kein Boden, und als Teuerung wird
es nur empfunden, wenn einmal das Bier im Preise steigt. Dass sich
aber die Sittenpolizei um die Erotik der Zeitgenossen kummert,
kommt niemals vor. I bewahre! — — Freundlich lachelt die
Kolossalstatue der Bavaria und segnend schwebt die Weisswurst
in ihrer Hand liber dem festlichen Gewoge der Oktoberwiese.
Korrespondenz.
= = = = = Diesem Hefte hegt ein Flugblatt des „Sozia-
listischen Bundes" bei. Es geht um Dinge, die fur die Gestaltung der
Gesellschaft uberaus wichtig sind. Die vorlaufige Beilegung des
Marokko-Handels tausche keinen tiber die Gespanntheit der Situa-
tion. Das italienische Tripolis-Abenteuer ist eine neue Warnung fiir
das arbeitende Volk, auf der Hut zu sein. Dass die Sozialdemo-
kratie nicht die geeignete Macht ist, von der freiheitliche Wand-
lungen zu erhoffen waren, haben die letzten 40 Jahre evident ge-
zeigt und die letzten Wochen dick unterstrichen. Wer sich unter
den Lesern des „Kain" fur die Anregung der Gruppe „Arbeit" des
Sozialistischen Bundes interessiert, setze sich mit mir in Verbindung.
Miinchen, Akademiestrasse 9.
Erich Muhsarn.
Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9.
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baadersstr. 1 u. la. Geschiiftsstelle: Miinchen, Baaderstr. la. Tel. 2355.
KAIN, Heft 5. Inhalt: Sittlichkeit. — Tagebuch aus dem
Gefangnis. — Miinchner Theater. — Mottl, ein Opfer der
„Miinchener Post". — Der heilige Jatho. — Architektur und
Behorde. — Bekanntmachung.
jlvAUNIj Hett O. Der marokkanische Krieg. — Tagebuch aus
dem Gefangnis. — Aus dem Miinchner Zensurbeirat. Offener
Brief von Frank Wedekind. — Schiesse bei Zeiten. — Zweierlei
Masskriige. — Walhalla.
Pregrelationsbureau „ftanfa"
irinih. ami Dloablt em BCflttl NW ij ♦ ftolflelnfr ufrr 7 <8>
Jnh.: Jim. III. Kruuff
iiefcrt allc naftnditrn tiber
Kunft, literatur, roiffenfftaft
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Kdin Dfrlag, miuirtjrn, Baadcrftrafle la.
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Unterzeichneter abonniert hiermit auf die Zeitschrift
„KAIN", Jahrgang 1911/12. (Kain-Verlag Miinchen, Baader-
strasse la.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark.
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Jahrgang I. No. 8. November 1911.
KMN
Zeit/chriftfur
rWch(fcht\eir
HemuJgeber;
Inhalt: Justiz. — Tagebuch aus dem Gefangnis. —
Miinchner Theater. — Bemerkungen. — Der Kausen. —
Zeitfragen. — Tripolis und China. — Unser Bittinger.
Kain-Verlag Miinchen.
30 Pfa.
In einigen Wochen erscheint im KAIN-
VERLAG zum ersten Male der
Kain-Kalender
fiir das Jahr 1912.
Samtliche Beitrage sind vom. Heraus-
geber des „Kain", ERICH MUHSAM.
Der Kalender enthalt ernste und hu-
moristische Arbeiten in Prosa und
Versen: Artikel, Glossen, lyrische und
satyrische Gedichte, Aphorismen,
Dramatisches u. s. w., u. s. w.
Dem Kalender wird das Bild des Yerfassers beigegeben.
Der Preis betragt fiir das
Einzel - Exemplar 1 Mark.
Bestellungen nehmen jetzt schon entgegen die Buch-
handlungen und der „KAIN-VERLAG", Munchen,
Baaderstrasse la.
Jahrgang I. Miinchen,
No. 8. November 1911.
KAIN
Zeitschrift fiir Menschlichkeit
Herausgeber: Erich Miihsam.
man„i.,i,.|„i„ l , l |„i„ l „n„i„ l ,i„i„ t ..i..|..t„i.,i.,i„i . ii.ii.nn.iiiiMi i .n. 1 1 ,n.ii..i. 11 II. 1 . 1 . i . , i..4.,im|„i.,.,
„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt
ltir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne-
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs) Inserate die zweigespaltene
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag",
Miinchen, Baaderstrasse la
Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber.
Mitarbeiter dankend verbeten.
Jfc4. l l..fr.i.. Mi.t..M.4.^i;:u;n.i* Am, ,i:rr.i..ii.f. .«..*..> n. ■ FJ «. > ■ > ■■ « t .t- f . i t.i. t..i «■*..!■ «. i.».i n..i..M «..i..i .1 ,rii.i..4. l i
Justiz.
Und Adam ass von dem Apfel, und seitdem wissen
die Menschen, was Gut und Bose ist. Auf dass diese
Kenntnis nicht wieder in Vergessenheit gerate, gab Gatt
ihnen die zehn Verbote, die von zwei steinernen Geset-
zestafeln abzulesen waren. Die Entwicklung eilte mit ge-
waltigen Schritten weiter, und heute halten wir schon bei
370 Paragraphen, aus denen der rechtliche Deutsche ent-
nehmen kann, was er tun darf und was sich nicht schickt.
Wer es trotzdem nicht weiss, wird mit Geldstrafe oder
Haft, mit Gefangnis oder Zuchthaus, hie und da auch mit
dem Tode bestraft.
Der § 1 des Strafgesetzbuches fur das Deutsche Reich
enthalt die furchtbarste Wamung von alien. Er lautet:
„Das Strafgesetzbuch fur das Deutsche Reich tritt im
ganzen Umfange des Bundesgebietes mit dem 1. Januar
1872 in Kraft". Der sechste und letzte Abschnitt des § 370
lautet: ,JVIit Geldstrafe bis zu 150 Mark oder mit Haft
wird bestraft ... 6) wer Getreide oder andere zur Fiit-
terung des Viehes bestimmte oder geeignete Gegen-
— 114 —
stande wider Willen des Eigentiimers wegnimmt, um des-
sen Vieh damit zu futtern". Was in den dazwischen ran-
gierten Paragraphen steht, wird sich der nachdenkliche
Mensch hiernach allein sagen konnen: Es ordnet die Bezie-
hungen der Staatsbiirger zu einander nach strafbaren Hand-
lungen. Wer also von einem undurchdringlichen Schick-
sal dazu bestimmt wurde, den Dornenweg des Lebens in
einem der 26 verbiindeten Vaterlander zu gehen, wird so-
mit gut tun, sich jeden Schritt 370 mal zu iiberlegen: kein
Wunder, dass unter diesen Umstanden der Fortschritt
bei uns so kolossal rasch vorankommt.
Bedenkt man, dass es neben dem Strafgesetzbuch noch
ein dickleibiges Biirgerliches Gesetzbuch gibt, ein Vereins-
gesetz, ein Gewerbegerichtsgesetz, ein Invalidenversiche-
rungsgesetz, besondere Urheberrechtsgesetze und was
weiss ich noch alles, so diirfte wohl die Annahme berechtigt
scheinen, dass der Richter, dem ein Sunder gegen einen
Paragraphen eines dieser Biicher vorgefuhrt wird, bloss
den Finger nass zu machen braucht, um sofort zu wissen,
wie lange er inn einsperren zu lassen hat. Bei der leidigen
Unvollkommenheit des menschlichen Geistes ist das jedoch
nicht der Fall. Vielmehr beginnt die Schwierigkeit erst,
wenn PoUzei, Ermittlungsrichter, Untersuchungsrichter um
Staatsanwalt dem Richter langst gesagt haben, was los ist,
wenn der Delinquent womoglich schon monatelang als
Untersuchungsgefangener auf die Strafe, die seiner viel-
leicht harrt, trainiert ist, und wenn nun dem armen Richter
zugemutet wird, auch noch in die Seele des Angeklagten
zu steigen, um das Wieso und Warum und das Dmm
und Dran seines Tuns herauszukriegen. Diese Bemiihung
nennt man einen Prozess, und erst dadurch, dass sie Pro-
zesse fiihrt, erhalt die Justiz bei den Biirgern und Biirger-
innen des Landes ihre Weihe und die Bestatigung ihrer
Notwendigkeit.
Derm Prozesse kommen in die Zeitungen, aus Prozes-
sen lernt man die Unterwasche der Nebenmenschen taxie-
ren, aus Prozessen erfahrt man, mit wem der andere be-
— 115 —
freundet oder verfeindet ist, und was seine Freunde und
Feinde fur eine Sorte Leute sind.
Welch prachtiger Fall war der Prozess des Grafen
Wolf-Metternich! Der Mann hat Schulden gemacht, hohere
Schulden, als er in kurzer Zeit hatte zahlen konnen. Ob
das Betrug ist? Kein Mensch konnte es wissen. Das
Reichsstrafgesetzbuch, an dessen Auslegung seit 40 Jahren
allerorten die riihrigsten Richter und in Leipzig mit roten
Talaren behangene Reichsrichter arbeiten, weiss auch nichts
Gewisses. § 263: „Wer in der Absicht, sich oder einem
Dritten einen rechtswidrigen Vermogensvorteil zu verschaf-
fen, das Vermogen eines andern dadurch beschadigt, dass
er durch Vorspiegelung falscher oder durch Entstehung
oder Unterdriickung wahrer Tatsachen einen Irrtum er-
regt oder unterhalt, " : Schwieriger Fall. Man musste
feststellen: Konnte der Graf glauben, das Geld zu krie-
gen, auf das hin er pumpte? Von wem hatte er glau-
ben konnen, dass er es kriegen wiirde? Mit wem ver-
kehrte er? Wie verkehrte er, mit wem er verkehrte?
Wer verkehrte noch, wo er verkehrte? War es verkehrt,
dass er verkehrte, wo er verkehrte? Warum verkehrte er,
wo es verkehrt war zu verkehren? Und solcher Fragen
mehr gab es zu entscheiden.
Auf diese Weise kam dann alles ans Licht: dass Frau
Gertrud Werfheim, eine Uterarische Schwermillioneuse,
einen aristokratischen Schwiegersohn suchte; dass sie zu
diesem Behufe unendhche Gelder springen liess, die einige
Tausend Warenhaus-Verkauferinnen erarbeiten mussten;
dass Dolly sich gern kiissen liess; dass Mama und Tochter
nicht immer zartlich zu einander waren; dass dem Grafen
Vetter auf Regimentsbefehl die heisse Liebesglut erlosch,
die an Dollys Busen und an Mamas Schatulle geschiirt
war; dass der Generalmajor v. Pauli diese Wiirde nur
in Honduras besessen hatte, jetzt aber mit Orden, Heirats-
lustigen und Kriegserinnerungen hausiert; dass Martha
Gustke ihr horizontal verdientes Geld dem Dailes-Grafen
vertikal in den Rachen warf, und dass es zwischen Him-
— 116 —
mel und Erde, zwischen Berlin W. und Berlin Friedrichs-
strasse Dinge gibt, die jeder kennt, und vo„ denen sich
die Schulweisheit unserer Journalisten nichts traumen
lasst.
Das alles kam an den Tag, und der Familienstank im
Hause Wolf-Metternich und der Familienstank im Hause
Wolf Wertheim zog, zu lieblichem Sensations-Odeur ge-
mischt, in die Nasen derer, die mit sich und ihrem Wandel
zufrieden sein diirfen, solange ihren Nachtgeschirren keine
Prozessakten entflattem.
Man verlange von mir keine moralischen Unkenrufe
wegen der in dem Berliner Prozess sichtbar gewordenen
Korruption. Es fallt mir gar nicht ein, mich dariiber zu
emporen, dass irgend ein degenerierter Graf, der nie arbei-
ten gelernt hat, dessen Herkunft und Erziehung ihn zu
glauben berechtigten, miiheloser Genuss sei sein Privileg,
mit einem Monatswechsel von 30 Mark nicht auskommen
konnte, das Geld hernahm, wo er es kriegen konnte,
a tout prix eine reiche Frau anstrebte, und sich inzwischen
so undifferenziert, wie es in seiner Klasse iiblich ist, amii-
sierte. Es fallt mir nicht ein, mich dariiber zu emporen,
dass Madame Wertheim ihre Dolly lieber die Maitresse eines
Fiirsten sein lassen wollte, als die Ehefrau irgend eines
Herrn Maier: Vulgarster Parvenue-Ehrgeiz. Es fallt mir
nicht ein, mich dariiber zu emporen, dass Herr von Pauli
seine patriotische Vergangenheit und seine hohen Bezie-
hungen so lukrativ wie moglich verwertet. Es fallt mir
nicht ein, mich dariiber zu emporen, dass Fraulein Gustke
auf Grand ihrer Korperreize KavaUere wurzt, und mit
dem Ertrag ihrer Tatigkeit einen dieser KavaUere zu Dolly
auf Brautschau schickt. Das ist doch alles nichts Neues,
nichts Uberraschendes, nichts, was jemand, der den Gross-
stadtbetrieb halbwegs kennt, verwundern konnte.
Faulniserscheinungen? Gewiss. Aber doch eben nur
Erscheinungen, Symptome, Beispiele einer in ihrer tiefsten
Wurzel faulen Gesellschaft, die keine Gesellschaft, kein
Volk, keine Menschengemeinschaft ist, sondern ein wines
— 117 —
Nebeneinander und Gegeneinander von adversaren Zir-
keln und Interessengruppen. Wenn es da, wo sich ein
Gesellschaftskreis, in dem blaues Blut fliesst, und einer
mit rotem Blut schneiden, Klexe gibt — wen soil denn
das verbliiffen? Das sieht der wache Mensch doch jeden
Tag und uberall. Davon lebt doch die Justiz, daraus ent-
nimmt ja das Strafrecht ihre einzige Existenzberechtigung.
Klexe auszuradieren, die aus dem verriickten Durcheinan-
dergekritzel mit verschiedenfarbigen Tinten entstehen, das
ist doch die ganze Beschaftigung der „Rechtspflege".
Was mir den Prozess des Grafen Wolf-Metternich so
interessant macht, das ist die Beobachtung, wie sich in der
Aufmerksamkeit der beteiligten Personen und des unbe-
teiligten Publikums der Gegenstand der Verhandlung nach
und nach vollig verschob. Ob der Angeklagte des Betru-
ges schuldig gefunden oder freigesprochen wiirde, das war
ausser ihm selbst und den paar Juristen, deren RabuUstik
engagiert war, jedermann egal. Das Tribunal ward zur
Szene. Vom Parkett aus applaudierte man dem Sittenstiick,
in dem die Chargen die dankbarsten Rollen zu spielen
hatten.
Warum ist der Graf eigentlich verurteilt worden?
Weil der Staatsanwalt bewiesen hat, dass er ein Betriiger
war. Aber die Verteidiger hatten uns Laien ebenso iiber-
zeugend bewiesen, dass er kein Betriiger war. Es kam nur
auf die Auffassung des Gerichts an. Ware der Mann in
Freiheit gesetzt worden, so gabe es keinen Menschen,
der dadurch die Rechtssicherheit des Staates, der Gesell-
schaft, des Volkes im Allergeringsten gefahrdet sahe. Man
hatte das Theater mit genau derselben behaglichen Be-
friedigung verlassen, die ein aufregender Film zuriicklasst,
wie nach der Verurteilung. Ich hege die starksten Zweifel
daran, ob jemals irgend eine Verurteilung irgend eines
noch so verbrecherischen Menschen irgend einer Gesell-
schaft geniitzt hatte.
Die Jurisprudenz — einmal als Wissenschaft genom-
men — hat die Aufgabe, das Recht zu suchen, wie die
— 118 —
Philosophic die Aufgabe hat, die Wahrheit zu suchen.
Wir wissen alle, ob wir gottglaubig sind oder nicht, dass
das Suchen nach Recht und Wahrheit immer nur eine
spekulative Beschaftigung unterschiedlicher Gemiiter blei-
ben muss, und dass weder Recht noch Wahrheit jemals
objektive Werte werden konnen. Die Anwendung der
durchaus relativen Ergebnisse des Suchens nach dem Recht
auf das praktische Leben, diese Uebung, die sich als
direkter Eingriff in Freiheit, Selbstbestimmung und Leben
des einzelnen Menschen aussert, muss daher notwendig;
zur Gewaltsamkeit, und das heisst nach aller iiberliefer-
ten Moral zum Unrecht fuhren. Auch als notwendiges
Uebel zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Be-
ziehungen unter den Menschen ist die Justiz nicht anzu-
erkennen. Strafen wirken — das weiss jeder Jurist — weder
bessemd noch abschreckend, und das Strafen als Rache-
iibung der Gesamtheit gegen den Einzelnen widerspricht
dem sittlichen Empfinden aller Ethiker.
Da hingegen die Unzutraglichkeiten, die sich aus der
Willkur der Einzelnen ergeben, offensichtlich sind, gibt
es nur eine Moglichkeit, ohne die Ungerechtigkeit jeglicher
Justiz Recht und Ordnung zu schaffen: namlich eine Ge.
Seilschaft zu errichten, in der das Interesse des Einzelnen
nicht fortgesetzt mit den Interessen der Gesamtheit kolli-
diert, in der das Individuum respektiert wird, in der
nicht geknechtet und kein Anerkennen verhasster Ge-
setze erpresst wird, eine Gesellschaft, in der der Zwang
der Gesetze durch die Freiwilligkeit des Vertrages ab-
gelost ist. Diese Gesellschaft wird politisch eine anar-
chische, wirtschaftUch eine sozialistische sein.
Tagebuch aus dem Gefangnis.
(Fortsetzung.)
Die Tur wird aufgeschlossen, aufgerissen: „Lampe!" ruft eine
heisere, leidende Stimme. Ich sehe mich um. Neben dem Aufseher
steht ein Strafling, mit dunkelm, hangendem Schnurrbart, in der Hand
eine brennende dilnne Fackel. Ich begriff, ging zur Lampe, um sie
— 119 —
aus ihrem Gestell zu nehmen. Der Gefangene kommt ungeduldig
herein und zeigt mir, dass man das ganze Gestell von der Wand
nimmt. Er ziindet den Docht an, die Tiir schliesst sich wieder, ich
hange die brennende Lampe an den Nagel und sinne weiter. Die
Idee, die Gruppe Tat, die in jeder Nummer des „Sozialist" annon-
ciert war, sei ein Geheimbund, ist absurd. Dartiber, dass ich die
Kunden zu uns heranziehe, habe ich vor Monaten schon im „Sozia-
list" in einem ausfiihrlichen Artikel berichtet. Das Blatt ist den
Miinchener Behorden keineswegs unbekannt. Wo soil der Verstoss, das
Vergehen liegen? Unklar, hochst unklar. Und worauf mag sich der
Verdacht stiitzen? Auf Zeugenaussagen? Auf wessen? Auf was ftir
welche? — Habe ich nicht vielleicht doch mal den Rat erteilt:
Schmeisst Bomben!? — Nein! Gewiss nicht! Niemals! Unmog-
lich! — Es hat mir von jeher widerstrebt, andern etwas zu raten,
was ich nicht gegebenen Falles auch selbst tate! — Schon auf der
Schule, als Quartaner, als Tertianer: was an dummen Streichen ge-
schah, das war ich gewesen; aber ich war es immer selber gewesen,
habe niemals andere vorgeschickt. Das ist eine Anstandigkeit in
meinem Wesen, deren ich mich vor mir selbst riihmen darf. Und jetzt
soil ich plotzlich Anstifter sein und mich selbst drucken? Der Vor-
wurf ist absurd, lacherlich, kann mich nicht treffen! — Die Frei-
lassung aus diesem Loch kann nicht; ausbleiben. — Und wenn sie
doch ausbleibt? Immerhin: wenn's zur Verhandlung kommt, muss,
muss, muss ich freigesprochen werden! — Freilich: Und Ziethen? —
— Und Koschemann? — Und Dreyfuss? — Und die vielen, die
Hunderte, die Tausende, die beteuern und versichern, sie wiissten von
nichts und werden doch verurteilt!? — Und wer wird zu Gericht
sitzen ilber mich? Gute Burger, mit korrekter Moral, mit nie schwan-
kendem Wissen von Gut und Bose, mit nur dem einen Antrieb, dem
Staat, ihrem Brotgeber und Seelsorger nach bestem Gewissen zu
dienen. Und ilber wen sollen sie zu Gericht sitzen? Ueber einen
Biirgerssohn aus guter Familie, der rlicksichtslos die beste Erziehung
von sich wirft, der sich gemein macht mit Landstreichern und Ein-
brechern, der mit Zuchthauslern die Flasche leert, der anarchistische
Agitation treibt seit Jahren und sich schon zwei Vorstrafen zugezogen
hat bei diesem Tun! — Wenn in unsern Sitzungen Spitzel waren —
und dass solche dabei waren, steht mir ausser Zweifel, — kann ich
ermessen, wie weit ihre Erfindungsgabe reicht? — Beschwort so ein
Hund, ich habe das Bombenwerfen empfohlen, — was dann? — Dann
bin ich geliefert.
Wieder ging die Tiir auf. „Essnapf!" befahl eine Stimme. Ich
nahm ihn vom Spind. Vor der Tiir standen zwei Gefangene, die einen
machtigen Bottich mit dampfender Kartoffelsuppe trugen. Dass es zum
Abendbrot Kartoffelsuppe geben wiirde, hatte mir schon Giesmann
— 120 —
verraten. Mit einem riesigen Schopfloffel filllte man mir den Essnapf,
ein Haftling uberreichte mir ein kolossales Stlick von dem gleichen
glitschigen Brot, wie ich es im Polizeigefangnis bekommen hatte, dann
iiberliess man mich der Mahlzeit, ilber die ich hungrig herfuhr. Ich
liess auch nur einen ziemlich kleinen Rest von der Suppe stehen,
die mir zu schwer war, ohne dass ich das Geftthl hatte, sie sei das,
was meinem Magen fehle. — Kurz nach dem Essen erscholl eine
grosse Glocke .... Das Glockenzeichen bedeutete: Schlafengehen!
— Es war also 7 Uhr. Ich loste das Bett, das Giesmann sorgfaltig
wieder an die Wand geklappt hatte, mit Mlihe von seinem Haken,
zog mich aus und legte mich hinein .... Auch die Lampe loschte
ich noch vor dem Hinlegen aus. So begann also die zweite Nacht
meiner Gefangenschaft. — Das Lager war wieder entsetzlich hart,
und die Bisse und Blasen, die mar die vorige Nacht zugefligt hatte,
meldeten sich alle mit schrecklichem Jucken. Ich kratzte mich, wo
ich hinlangen konnte, und wahrend es mir vorkam, als kroche eine
Armee von Wanzen, Lausen, Milben und allem Ungeziefer auf
meinem Leibe herum krochen durch mein Gehirn Schwarme fieber-
hafter Vorstellungen und Bilder. Erinnerungen und Namen, Ge-
sichter und Laute sammelten sich um mich in wildem Durcheinander.
Nahe Und feme Menschen erschienen, Freunde und Feinde, Zeugen
meiner Kindheit und dieser letzten Tage, und wahrend ich einmal
aufgeregt und geangstigt von der Pritsche sprang, fliisterte ich
wenige Sekunden darauf zartliche Namen, und Sehnsucht und Furcht,
Liebe und Wut, Schmerz und kindliche Ergebung spielten Fangball in
meinem Geist, jagten sich herum und warfen immer neue Erinne-
rungen, Hoffnungen, Zartlichkeiten und Sehnsuchte in mein Be-
wusstsein. Alle, alle kamen sie zu mir, die traurigen und frohlichen
Zeugen meines Erlebens, tote und lebende, schmerzliche, liebe und
slisse Namen .... Spat, spat in der Nacht erst beruhigte der
Schlaf die zerzausten Nerven. Wie spat es war, weiss ich zwar nicht.
Denn die Kirchturmuhr im Polizeigefangnis kann man in meiner
neuen Klause nicht horen.
Sonnabend, den 6. November 1909.
Es ist schon der dritte Tag, seitdem ich diese Tagebuch Auf-
zeichnungen begann, und ich komme erst zum dritten Tage meiner
Gefangenschaftserlebnisse, bin also immer noch um eine Woche
weniger einen Tag hinter mir. Der Abstand wird sich freilich von
jetzt ab wohl verringern, denn an Stelle des wilden Durcheinanders
und der immer neuen Eindrucke am Abend der Verhaftung und am
Tage der Ueberflihrung vom Polizei- ins Gerichtsgefangnis tritt nun
allmahlich die Gewohnung an eine Hausordnung, die trockene Regel-
— 121 —
massigkeit im Rhytmus der „Normalzeit der Sternwarte", die nur
hier und da durch eine kleine zu registrierende Besonderheit unter-
brochen wird.
Ich setze meinen Bericht chronologisch fort. Aus dem unruhigen
Schlaf auf meinem harten Lager in dieser ersten Nacht, die ich in
der Zelle 42 zubringen musste, weckte mich der Larm derselben
Glocke, die mich am Nachmittag vorher belehrt hatte, dass die Tages-
zeiten im Gefangnis anders eingerichtet sind als in der Freiheit, und
dass man hier schlafen gehen muss, wenn man sonst noch kaum an
das Programm denkt, mit dem man den Abend hinbringen will.
Die Zelle war schon ziemlich hell, denn es war Sonntag, und in der
„Verhaltungsvorschrift" hatte ich gelesen, dass an Sonn- und Fest-
tagen erst um 7 Uhr frilh aufgestanden wird. Kaum hatte es gelautet,
als ich in den Nebenzellen schon gerauschvoll die Pritschen an die
Wand klappen horte. Ich erhob mich also ebenfalls und befestigte
das Lager, zog mich an und harrte des Weiteren. — Draussen wurde
es lebhalt. Ich horte Schlilssel klirren, Tliren aufreissen, Stimmen.
Meine Zelle wurde weit gebffnet, und ich sah etliche Menschen daran
vorbeieilen, jeder sein Steingutgeschirr mit Metalldeckel in gestreckten
Armen vor sich hertragend.
Fortsetzung folgt.
Miinchner Theater.
Johanna Terwin.
Als in Mlinchen bekannt wurde, dass Johanna Terwin, die
ugendliche Charakterspielerin des Residenztheaters, zu Reinhardt
nach Berlin gehen solle, bedauerte man ihren Entschluss um des
Verlustes willen, der der Mlinchener Schauspielkunst bevorstand,
freute sich aber fur die Kunstlerin, der nun zum raschen Aufstieg,
zu Ruhm und weithallender Anerkennung der Weg offen schien.
Bei ihrem Abschiedsauftreten als Nora war die Stimmung eine andere.
Wir Freunde ihrer Begabung sahen sie mit einiger Besorgnis
durch den Wald von Kranzen und Blumen abgehen, und spurten
Dangen Zweifel, ob Nora da draussen das Wunderbare finden werde,
zu dem sie Sehnsucht und Ehrgeiz zog.
Es hiesse der Mlinchener Buhne und dem Milnchener Publi-
kum unrecht tun, wollte ich den Vergleich weiter Ziehen und das
Residenztheater mit dem Hause Helmers in Parallele stellen. Denn
keineswegs stand man hier den Bemuhungen des jungen starken
Talents philistros und verstandnislos gegenliber. Im Gegenteil muss
betont werden, dass die btirgerliche Oberschicht Milnchens, die
das einsichtigere Theaterpublikum stellt, weitaus gerechter, sach-
— 122 —
licher und mit viel weniger Voreingenommenheit Biihneneindrucke
aufnimmt, als die aus der Snob-Menagerie ausbrechenden Premieren-
tiger, die sich auf die Berliner Theater zu stiirzen pflegen. Auch
die ziinftigen Kritiker sind in Miinchen weniger gefahrlich als in
Berlin, nicht weil sie intelligenter waren — das Gegenteil ist der
Fall — , sondern weil sie nicht wagen, sich mit dem Publikum in
Widerspruch zu setzen, und sich mit gleichgilltigem Herumschmusen
um das Theaterstlick und die Darstellung begnligen. In Berlin
dagegen flihlt sich jeder Kritiker (und jeder Premierenkommis) als
Schicksal, und das Urteil, das meistens eine Verurteilung darstellt,
ist nach einem ersten Eindruck fertig und wird, in Witzchen und
Apercues eingewickelt, den hoheren Tochtern des Tiergartenviertels
zum Fruhstiick serviert.
Fraulein Terwin hat das, schon ehe sie uns dauernd verliess,
schmerzlich erfahren mlissen. Bei einem Gastspiel des Neuen Ver-
eins in Berlin spielte sie die Lulu in Wedekinds „Buchse der Pan-
dora", eine Rolle, in der sie hier vor einem Jahre einen Riesen-
erfolg hatte. Mag sein, dass ihre Leistung in Berlin hinter der
Mlinchener weit zurlickstand, dass der fremde Ort, die Anstrengung
der Reise, die Empfindung der skeptischen Ktihle des Auditoriums
ihr die Stimmung verdarb (zum Gelingen oder Misslingen einer
Auffilhrung wirken tausend Imponderabilien mit)) jedenfalls konn-
ten am Tage nach der Auffilhrung die Berliner in ihren Zeitungen
lesen, Jahanna Terwin sei eine minderbegabte Dame, ohne Organ,
ohne Eigenart und ohne die Fahigkeiten, die das anspruchsvolle
Berlin von den Kraften seiner ersten Theater fordern dlirfe. Sie
hatte sich damit trosten konnen, dass mit ihr zugleich auch Stein-
rucks Schigolch und die ilbrigen Mlinchener Gaste verrissen wurden,
und dass das ganze Gebaren der Kritik peinlich nach Partiku-
larismus aussah — es ist aber sehr natiirlich, dass eine solche
Begrilssung, wie sie Frl. Terwin nach ihrer ersten Vorstellung
erfuhr, ein junges, vorwartsstrebendes Talent dekouragiert und lahmt.
Ich glaube deshalb recht zu tun, wenn ich Herrn Professor Reinhardt
beim Eintritt der jungen Dame in sein Theater-Ensemble warne,
eine starke Begabung, der zur Vollendung gewiss noch viel fehlt,
die aber eine reiche Zukunft verspricht, mitten in der Entwicklung
zu vernachlassigen, und wenn ich ihm sage, wie das beste Theater,
publikum, das sich Reinhardt nur wiinschen konnte, die Leistungen
der Terwin nach zweijahriger Beobachtung einschatzt.
Ihre ganze Wesensart pradestiniert Johanna Terwin zur Dar-
stellung differenzierter Frauencharaktere. Aeusserlich und innerlich
hat sie nichts heroinenhaftes: eine nicht grosse, schmachtige Figur,
ausdrucksvolles Gesicht (die Terwin hat viel Aehnlichkeit mit Irene
Triesch), grosse Geschmeidigkeit und viel naturlicher Charme in
— 123 —
Ausdruck und Bewegung. Die starke Bewusstheit in ihrer Spiel-
technik erinnert eher an die Durieux als an die Eysoldt. Die Frauen,
die sie zu beleben hat, stellt sie als graziose, aber sehr durchsich-
tige und irdische Gestalten auf die Btthne. Diese rationalistische Ver-
anlagung erzieht zu klugem Durchdenken der schauspielerischen
Aufgaben und verhindert ein allzufestes Vertrauen auf Eingebung
und Instinkt. Andererseits liegt die Gefahr nahe, dass die Leichtig-
keit des Spiels und mithin die notwendige Unbefangenheit und
Sicherheit des Auftretens unter zu grosser Sorgfalt und Bedenklich-
keit leiden mag. Gerade hierin trat bei der Terwin das Anfangerhafte
manchmal storend in die Erscheinung. Aber es muss betont werden,
dass sich bei ihr, wenn eine fleissige Regie sich um sie be-
klimmert hatte, alle Unbeholfenheit vollig verlor, und dass sie
dann Leistungen bot, die nicht nur technisch einwandfrei, sondern
auch durchaus originell und von starker personlicher Farbung waren.
Ich denke an ihre Milde Wangel: da kam das Andeutende,
Symbolhafte der Figur entschieden zu kurz. Aber die Terwin machte
die Rolle menschlich liebenswurdig, sie spielte sie als Schwabinger
Kunstmadel mit Schnecken vor den Ohren, frisch, stark und lebendig,
und so wurde, da Steinrlicks Baumeister Solness zugleich eine
eminente schauspielerische Leistung war, das unsympathischste aller
Ibsen-Dramen zu einer kilnstlerischen Sensation.
Viel erschopfender noch holte die Terwin den Charakter der
Pauline Piperkarcka in Hauptmanns „Ratten" aus. Diese dumpfe,
willenlose, beschrankte polnische Proletarierin war ungeheuer glaub-
haft, die Ausbriiche der Verzweiflung, die tierhafte Liebe zu ihrem
Kind, das stumpfsinnige Flennen unter den Misshandlungen der
John konnten nicht besser getroffen werden. In dieser ganz natura-
listischen Rolle zeigte Johanna Terwin ganz grosse Anlagen, die nie
und nimmer vernachlassigt werden dttrfen.
Ihren starksten Erfolg hatte sie in Shaws „Caesar und Cleo-
patra", diesem ironischen Heldendrama, das unter Steinriicks Regie
zu einer wirklichen Kunsttat des Residenztheaters wurde. Die Ter-
win sah entzlickend aus als die kleine Konigin, die sich vor dem
grossen Casar zwischen den Vorderbeinen der Sphinx versteckt halt,
die mit ihrem kleinen Bruder, dem Gegenkonig, zankt, die mit den
Kopfen ihrer Untertanen spielt wie mit Puppen, und die dann, von
Casar zum Weibe gemacht, zur Katze und Schlange wird — ein
halbes Kind noch, aber schon ein ganzes Biest. — Es ist sehr schwer,
Shaw zu spielen, so zu spielen, dass man seine Unfreiheit den
eigenen Freiheiten gegenuber nicht merkt. Nimmt man diesen Dra-
matiker namlich unter die Lupe, so erkennt man erstaunt einen ge-
reckten Philister, der sich vor die Brust schlagt und ausruft:
„Seht mal, was ich fur freche Sachen treibet" — In Wahrheit stellt
— 124 —
er sich auf die Zehenspitzen, um liber seinen eigenen Horizont kucken
zu konnen. (Dies nebenbei.) Wie gesagt: Die Terwin gab der Cleo-
patra soviel lebendigen Charme, dass durch sie (und durch Stein-
nicks prachtigen Casar) Shaws keineswegs einwandfreies Stuck seht
grossen, verdienten und anhaltenden Erfolg hatte.
Es soil hier nicht jede einzelne ihrer Leistungen nachtrag-
lich seziert werden, ebensowenig beabsichtige ich, die Kunstlerin,
die sich selbstverstandlich auch in Berlin erst durchsetzen muss,
vorzeitig aufdringlich zu plakatieren. Aber ich mochte verhiiten
helfen, dass die Veranderung ihres Betatigungsfeldes etwa zur Stag-
nation ihrer Entwicklung, fuhre. Was Johanna Terwin noch immer
sehr not tut, ist Regie, liebevolle, strenge und auf ihre Art ein-
gehende Regie. Hier hatte sie die Herren Steinriick und Basil als
Heifer und Lehrer, mag sie sich in der Hoffnung, unter Max Rein-
hardts personlicher Obhut zur Hohe ihrer Fahigkeiten zu gelangen,
nicht getauscht sehen. Reinhardt hat damit, dass er die Terwin
engagierte, den Munchener Theaterbesuchern gegenuber, die auf
sie hoffen, eine Verpflichtung ubernommen. Kommt er dieser Ver-
pflichtung nicht nach, so vergeht er sich gegen die ideale Forde-
rung der Kunst, dass dem wirklichen Talent die Wege geebnet wer-
den mlissen. Johanna Terwin braucht noch Hilfe, aber sie verdient
sie auch. So empfinden hier viele Leute, die im Theater eine Kul-
tureinrichtung erkennen, und dieser Empfindung wollte ich Ausdruck
geben.
Bemerkungen.
Der Kausen Es ist zu befiirchten, dass seine Ausrottung sobald nicht ge-
lingen wird. Immerhin moge er sich vorsehen. Es sei ihm heute mit-
geteilt, dass ihm hier fortan etwas nachdrticklicher zugesetzt werden
soil, als er es bisher gewohnt war. Dass er gegen mich frech ge-
worden ist, ist nicht der Anlass, ihn zu besehen, nur fiir dieses Mai
der Vorwand. Was zeigt sich bei der Besichtigung ? Ein Denun-
ziant. Der Kausen wird diese Bezeichnung nicht sonderlich krankend
empfinden: darauf ist es auch nicht abgesehen. Man stupft einen
Pintscher nicht mit der Schnauze in seine Hinterlassenschaft, damit
er gekrankt sei, sondern damit er sich es abgewohne. Ein Denun-
ziant also, ein berufsmassiger, gewohnheitsmassiger und schon ein
wenig monomanischer Denunziant, und zwar betreibt er diese Spezies
in Sittlichkeit. Das ist ein lohnender Artikel. Gott im Himmel,
was kann ein Mensch nicht alles denunzieren, wenn er sittlich ist!
Es gibt ja soviel Sauerei auf Erden ! — Wir Unsittlichen wissen
das garnicht, aber der Kausen sammelt Sauereien, er hat eine wahre
Sammelwut darauf. Er schnuppert solange an seinen Mitmenschen
— 126 —
herum, bis er eine Sauerei wittert, die ergreift er, begiesst sie mit
Moralsauce und lauft einerseits zur Redaktion seiner „Allgemeinen
Rundschau", wo er sie annonciert, andererseits zum Telefon, wo er
sie dem Staatsanwalt denunziert. Das Verfluchte ist: es sind wirklich
immer Sauereien, die er heranschleppt. Ursprunglich zwar sind es
meistens saubere Dinge, die den Nichtdenunzianten erfreuen und
erheben, — aber hat der Kausen sie lange genug in seiner Phantasie
herumgewalzt, so kann der unmoralischste Mensch ihnen den Charak-
ter des Schweinischen nicht mehr abstreiten. Es ist so: man fiihlt
sich formlich schmutzig werden, wenn einen jemand mit recht
dreckigen Blicken anglotzt. Man konnte ja so einem Menschen aus
dem Wege gehen, aber wenn er fortwahrend hinter einem herschreit:
„Sie Schwein! Sie Schwein!" — dann wurmt's einen doch schliess-
lich, man dreht sich nach dem Kerl um, sieht seine oligen Aeugel-
chen an einem herumzwinkern und kommt sich schon selbst ein
bischen vor wie ein Schwein, wie beschmiert von den Blicken des
andern. So ahnlich also steht es mit den Denunziations-Objekten,
die der Sammelwut des Kausen verfallen sind. (Der Kausen kann
auch mal Otto von Erlbach oder W. Thamerus heissen, aber als Be-
griff sagt man: der Kausen.) Angesichts eines solchen Verfahrens
nun gelangt man leicht dazu, seine Hoflichkeits-Prinzipien zu revi-
dieren und sich an die Grenze dessen zu begeben, was konventionell
ist. Nicht dass ich den Kausen verbauter beschimpfen sollte, das
sei feme von mir. Schlechte Einrichtungen soil man nicht anschreien,
man soil sie ausmerzen. Was ware auch damit erreicht, wenn ich
jemanden, der mich einen „Edelanarchisten" nennt, durch den Nach-
weis strafte, dass eine Zusammenstoppelung des Wortes Esel mit
seinem Namen ebenfalls einen Pleonasmus ergabe ? — Oh nein,
ich bin viel unkonzilianter: ich arbeite nach dem Beispiele des Kausen
«ind sammle Material. Kein Material ilber das Privatleben des Kausen.
So etwas hat gar kein eigenes Privatleben, so etwas hat nur das
Privatleben anderer Leute, — aber das hat es ausgiebig. Ich sammle
Material iiber die denunziatorischen Gepflogenheiten des Kausen,
und wenn es da mal so ganz aus Versehen und nebenbei geschieht,
dass etwa Wedekinds „Oaha" ein Bordellstuck genannt wird, dann
frage ich wohl: „Pardon, mein Lieber, sollte Ihnen da nicht gewis-
sermassen eine Falschung untergelaufen sein ?" Aber das kann
jawohl beim schnellen Denunzieren vorkommen; wenn man allzu
rasch multipliziert, kann ja auch mal ein Fehler passieren. Und
noch weiteres Material will ich sammeln, und wenn ich genilgend
Material gesammelt habe, dann will ich meine Leser einladen und
sie fragen: Bitte, hier sehen Sie Rops und Beardsley und de Bayros
und Weissgerber und Jagelspacher, hier sehen Sie Zola und Mau-
passant und Flaubert und Mann und Wedekind und Eulenberg und
— 126 —
Mlihsam, — und dort sehen Sie den Kausen. Bitte (werde ich
fragen) wer wlihlt im Schmutz? wer verunglimpft die Schonheit?
wer hat es mit Unzucht und Schweinerei? jene Kunstler und Dichter
oder dieser Denunziant ? — Polemisieren werde ich dabei nicht mit
dem Kausen. Das ware sinnlos. Wenn ein schlecht erzogener
Banause ein Gemalde berotzt, so streitet man mit ihm nicht ilber
den Farbfleck, sondern man wischt ihn weg (den Farbfleck natlir-
lich). So also gedenke ich es fortan mit dem Kausen zu halten,
und wenn meine „Presse" auch nur ein sich von Nummer zu Num-
mer ,,milhsam" fortfristendes Blattchen ist (solcher Gestalt Iibte
sich jtingst die Witzigkeit des Kausen, dessen Organ — ich muss
es mit Beschamung als wahrscheinlich zugestehen — in dem einen
Punkt der finanziellen Unterlage dem meinigen ilberlegen sein dlirfte),
— so werde ich doch nicht unterlassen, Material zu sammeln, um
mit meinen bescheidenen Kraften an der Bekampfung der von dem
Kausen besorgten Schmutz- und Schundliteratur teilzunehmen. Zwar
ist zu befilrchten, dass seine Ausrottung sobald nicht gelingen
wird. Immerhin moge er sich vorsehen.
Zeitfragen. Die Wiener „Zeit" versendet eine Rundfrage, um
zu erfahren, wie „unter den Intellektuellen aller europaischen Staaten"
das kriegerische Vorgehen Italiens gegen die Ttirkei beurteilt wird.
Als eigene Meinung aussert die „Zeit" dieses: „Das Vorgehen Italiens
gegeniiber der Ttirkei steht in Widerspruch mit dem Volkerrecht,
mit alien Gebrauchen zivilisierter Nationen und jedes modernen,
Menschen Rechtsgeftihl. Wenn man bedenkt, dass dieses Vorgehen
von anderen Staaten gegeniiber andern Staaten in Zukunft nach-
geahmt werden konnte, so bedeutet der Ueberlall der Ttirkei durch
Italien eine dauernde Gefahrdung der Sicherheit aller Staaten, des
Friedens der Welt und in Konsequenz davon eine Steigeruug der
militarischen Lasten in alien Landern." Nachher formuliert das
Blatt diese Fragen:
1. Billigen Sie die Art des Vorgehens Italiens gegeniiber der
Turkei?
2. Welche Konsequenzen befilrchten Sie von diesem volkerrechts-
widrigen Vorgehen fur die weitere Entwicklung der Beziehungen
zwischen den europaischen Staaten?
3. Welche Massregeln halten Sie fur wtinschens- und empfehlens-
wert, iim eine Nachahmung des italienischen Vorgehens sei-
tens anderer Machte in Zukunft vorzubeugen?
4. Halten Sie es filr empfehlenswert und durchflihrbar, dass die
Gebildeten aller Nationen, um ihren Protest gegen Italiens
rechtswidriges Vorgehen zu dokumentieren, ein Jahr lang
Italienreisen unterlassen ?
Da mir die Enquete der „Zeit" von einem der Gefragten zur
Verfugung gestellt wird, erlaube ich mir, dem Wiener Blatt meine
Meinung ilber das, was es wissen mochte, hier mitzuteilen. Vielleicht
hat es Verwendung daftir. Also:
1. Ich missbillige das Vorgehen Italiens gegen die Ttirkei. Noch
mehr missbillige ich das Vorgehen beider Staaten gegen Tri-
— 127 —
polis. Ueber die Art des Vorgehens Italiens steht mir kein
Urteil zu. Ich nehme an, dass die Art dem Interesse der
regierenden Klassen Italiens entsprach.
2. Ich hoffe, Italiens Vorgehen wird eine vermehrte Wachsam-
keit der Volker Europas auf ihre Regierungen zur Folge haben.
Dann befiirchte ich von der weiteren Entwicklung der Be-
ziehungen zwischen den europaischen Staaten keine Konse-
quenzen mehr.
3. Eine Nachahmung des italienischen Vorgehens „seitens" an-
derer Machte sollte nach meiner Meinung vorgebeugt werden
durch intensive antimilitaristische Propaganda, durch sozialisti-
sche Aufklarung der Volker, durch die Massregel des General-
streiks in jedem von Kriegsgefahr bedrohten Lande.
4. Durch einen Boykott gegen Italien als Zuflucht fur Hochzeits-
reisende und Bankdefraudanten wiirden dieselben armen
Leute geschadigt werden, die auch die Kosten des Krieges
zu tragen haben. Ausserdem wiirden hochstens acht Rad-
fahrer der Parole der „Zeit" folgen.
Es tut mir leid, der „Zeit" nicht mit besseren Ratschlagen dienen
zu konnen. Nur eine Anregung noch mochte ich ihrem Enquete-
Verfasser nahelegen: sich kunftighin ein etwas moglicheres Deutsch
anzugewohnen. Ein Ueberfall der Turkei durch Italien hat z. B. nie-
mals stattgefunden. Es ist auch anzunehmen, dass die Turkei, falls
sie es etwa auf Korsika abgesehen hatte, den Ueberfall nicht durch
Italien, sondern um Italien herum unternommen hatte. Es handelt
sich aber dieses Mai um einen Ueberfall Italiens auf die Turkei.
Tripolis und China. Der italienische Sozialdemokrat Ferri soil
in Berlin vom deutschen Reichskanzler freundlich begriisst worden
sein. Vermutlich wird sein Stolz durch diese Ehrung ebenso ge-
schwellt worden sein, wie durch das starkende Bewusstsein, dem
italienischen Vaterlande durch die Zustimmung zu den Kriegsfor-
derungen gedient zu haben, die er neben seinem Genossen Turati
im Parlament vertibte. Darliber, dass Ferri auch von den Berliner
Sozialdemokraten empfangen wurde, las ich nichts, aber nach Jena
ist kein Ding unmoglich. — Durch das infame Verhalten dieser
Sorte parlamentarischer „Internationaler" ist es den Offiziellen in Italien
sehr erleichtert worden, einen total falschen Eindruck von der Stim-
mung des Volkes gegenliber dem Kriege zu erwecken. Ueberau liest
man von begeistertem label, der die abreisenden Soldaten begleitet
hatte. Vielleicht interessieren einige Tatsachen, die man zwar nicht
aus dem „Corriere della Sera" oder dem„Messagero" erfahrt, sondern
eher aus der in La Spezia erscheinenden anarchistischen Zeitschrift
„il Libertario". Da stand zu lesen, wie die Manover, die dem Kriege
unmittelbar vorangingen, plotzlich abgebrochen wurden, weil aus
den Reihen der Soldaten heraus das Pferd des Befehlshabers unter
dem Leibe des Reiters eine Kugel bekam. Dort stand auch zu lesen,
wie es auf den Bahnhofen grosser Stadte bei der Abfahrt der Krieger
herging. Freundlich wohl nirgends. Irgendwo aber riss die wlitende
Bevolkerung die Schienen auf und verbarrikadierte die Geleise der-
artig, dass die Ztige sich nicht riihren konnten und die Soldaten
wieder ausgeladen werden mussten. Es scheint wichtig, diese Tat-
sachen auch in Deutschland einmal mitzuteilen, damit endlich das
dumme Geschwatz von der nationalen Begeisterung authore, die alle
— 128 —
Volksschichten erfasst haben soil. Schliesslich weiss die italienische
Regierung doch wohl auch, warum sie die strenge Telegramm Zensur
eingerichtet hat. — Ueber den Verlauf des Krieges selbst weiss man
natlirlich gar nichts Genaues. Den Telegrammen, die man zu lesen
kriegt, riecht man zum grossten Teil den Schwindel von feme an,
zum andern Teil werden sie sechsfach dementiert und wieder be-
statigt, so dass sich kein Mensch auskennt. Soviel aber wissen wir
sicher, dass hilben und drtiben bereits eine Menge rilstiger junger
Menschen furs Vaterland der Reichen gestorben sind, und dass
Europas Witzblatter ein Glanzgeschaft damit machen, dass es noch
so wenige sind.
Auch liber die Vorgange in China erfahrt man nicht ubermassig
viel. Nur soviel wissen wir, dass dort Millionen Menschen im
offenen Aufruhr gegen ihre Staatsregierung stehen, weil sie sich die
schamlose Mandschuwirtschaft ihrer Wurdentrager nicht mehr ge-
fallen lassen wollen. Dass die Revolutionare alle Aussicht auf Ge-
lingen ihres entschlossenen Vorgehens haben, kann der zeitunglesende
Europaer schon daraus entnehmen, dass die Rebellen nicht mehr
wie noch vor vierzehn Tagen der „P6bel", sondern etwas respekt-
voller, die Aufstandischen genannt werden. Als Pobel bezeichnen
unsere Meinungsmacher nur noch das Volk, das sich auf den Strassen
gegen die fremdrassigen Eindringlinge wehrt, die sich in ihre Ange-
legenheiten einmischen. Wir lernten in der Schule, wie vor vier-
hundert Jahren die Spanier das neuentdeckte Amerika usurpierten,
und unsere Lehrer wussten das Greuelhafte des spanischen Vor-
gehens nicht stark genug zu verurteilen Wie werden die Kinder
nach einigen weiteren Jahrhunderten iiber das Verhalten der gegen-
wartigen zivilisierten Nationen denken lernen, die mit den scheuss-
lichsten Mordwaffen die altesten Kulturlander der Erde bedrangen?
O, dass es eine Scham vor den Zuklinftigen gabe!
Unser Bittinger. Unser Bittinger ist namlich Polizeidezernent fur
die politischen, Vereins-, Presse-, Kunst- und Theaterangelegenheiten.
Unser Bittinger hat namlich einen Ruf als Polizeidirektor nach Stutt-
gart bekommen. Unser Bittinger wird namlich voraussichtlich diesem
Ruf Folge leisten. Wir sehen unseren Bittinger namlich sehr ungern
scheiden. Unser Bittinger macht namlich in Miinchen alles: lasst
Anarchisten verhaften, lasst Auslander ausweisen, lasst uns um 3 Uhr
nachts aus alien Lokalen austreiben, lasst in Preussen und anderen
Freiheitshorten ungefahrliche Stticke hier nicht auffiihren, lasst offent-
lich angekiindigte Zusammenklinfte Geheimblinde sein und lasst all-
gemein sehr ungern etwas zu. Adjo unser Kulturgewissen, adjo
unser Zensor, adjo, unser Verbietinger, adjo, unser Bittinger, —
adjo, adjo.
Auf den dieser Nummer beiliegenden Prospekt liber M.
Andres Werke machen wir besonders aufmerksam.
Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9.
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baadetstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Miinchen, Baaderstr. la. Tel. 2355.
JvAlJN, Hett 6. Der marokkanische Krieg. — Tagebuch aus
dem Gefangnis. — Aus dem Miinchner Zensurbeirat. Offener
Brief von Frank Wedekind. — Schiesse bei Zeiten. — Zweierlei
Masskriige. — Walhalla.
KAIN, Heft 7. Inhalt: Bebel t- — Tagebuch aus dem
Gefangnis. — Miinchner Theater. — Kiew. — Mainz. —
Miinchen. — Korrespondenz.
Pregrelationsbureau „ftanfa"
irirph. Ami moabli tin Berlin NW 2S ♦ ftolfielntr Ufer 7 ♦
Jiiti. : Jng. III. Kraufe
llefcrt allc Ilartinditcn uber
Kurtft, literatur, IDiffenfcOaft
[dwell — uollftandig — prcisioert.
Hkadetnirdti und literarifd) gebildete i'ehtoren.
Porziiglidje Organlfation 1
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Mit
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OlC tt)UftC* Cedldite. 19<H. m. 2.40.
Dft Kt&tCt* ecdKfite. 1909. m. 2.-
Oic liodtjft&plcr* mwpiei. 1906. m.2.-
Zu bczicticn durct) icilc Burt)l)aiidlung unci den
Kdin DfrlatJ, Ittundjcn, BaadcrftraBe la.
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Unterzeichneter abonniert hiermit auf die Zeitschrift
„KAIN", Jahrgang 1911/12. (Kain-Verlag Miinchen, Bander-
strasse la.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark.
Betrag wird gleichzeitig eingesandt.*)
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Genaue Adresse:
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*) Nicht gewtinschtes bitte zu durchstreichen.
Jahrgang I. No. 9. Dezember 1911.
KMN
Zeit/chriftfur
MervAhlichKtf
HemuJgeber;
(rich Huh/am
Inhalt: Gegen die Polizei. — Gedichte. — Die Tat des Dietrich
Stobaus. — Eigenes. — Bemerkungen. — Respekt vor Dichtern.
— Heldentaten. — Der politische Kronprinz. — Wahlt! Wahlt!
— Versammlungsbericht.
Kain-Verlag Munchen.
30 Pfg.
In einigen Wochen erschei nt im KAIN-
VERLAG zum ersten Male der
Kain-Kalender
fiir das Jahr 1912.
Samtliche Beitrage sind vom. Heraus-
geber des „Kain", ERICH MUHSAM.
Der Kalender enthalt ernste und hu-
moristische Arbeiten in Prosa und
Versen: Artikel, Glossen, lyrische und
satyrische Gedichte, Aphorismen,
Dramatisches u. s. w., u. s. w.
Dem Kalender wird das Bild des Verfassers beigegeben.
•■***«* ••■•■•«• iHttiii mii ii
Der Preis betragt fiir das
Einzel - Exemplar 1 Mark.
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Bestellungen nehmen jetzt schon entgegen die Buch-
handlungen und der „KAIN-VERLAG", Munchen,
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Jahrgang I. Miinchen,
No. 9. Dezember 1911.
KAIN
Zeitschrift fiir Menschlichkeit.
Herausgeber: Erich Miihsam.
■ ■■lull nil i ., ■ - ■ i ■ ii >n, I III I l„l.l„l,.l i , | ..|Mi ; i. - .|..|.,t..M I ..■ . ■>,., M 1,1 ,,-■■! l.l,i i |. 1,1 ,1.1. 1 l ,i l „ I .. 1. H - II I I,
„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt
fiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne-
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag",
Miinchen, Baaderstrasse la.
Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber.
Mitarbeiter dankend verbeten.
J!BJI.n,i„Hli,l„l. 1.1 . 1,.!.-!!.*-, ! i-i i-.l.tf- ■ „. .I„lrifc.|, Mnli.Mil-.l'il-'l ■ I'-lii. •*■■«■ .*-n..t,.t- i„»„l„f , I., t..j.,|.n-;i,',II.IM. l l l i t .l-.i^f ili
Gegen die Polizei.
Manchmal aber geht ein Ruck durch die Gemiiter der
Indifferenten und Faulen, und es ist, als ob plotzlich die
Einsicht von revolutionaren Notwendigkeiten alle selbst-
zufriedene Gleichgiiltigkeit und alien iiberlegenen Eigen-
diinkel in den Fugen erschiittere. Wenn namlich der
Uebermut der nie bezweifelten Autoritat sich iiberschlagt,
wenn die keine Abwehr gewohnte Faust es miide ist,
drohend unter den Nasen friedliebender Leute zu fuchteln
und zustosst, dann scheint es manchmal, als ob die ver-
haltene Wut, der unter das Bewusstsein zuriickgestaute
Hass emporwolle, und als ob die Freiheitssehnsucht, die
irgendwo im Herzen eines jeden Menschen lagert, Atem
finde.
Dann werden mit einem Male wir, die wir jahraus
jahrein diesen Hass und diese Wut zu schiiren bemiiht
sind, wir Wiihler und Aufriihrer, Respektspersonen. Dann
driicken uns mit kameradschaftlicher Sympathie die Hand,
die sonst nur ein ironisches Lacheln haben fiir unser
ohnmachtiges Aufbegehren und fiir unsere ungestiimen
— 130 —
Weckrufe. In uns aber tiirmt der Zorn sich bergehoch
— gegen die neuen Weggenossen, gegen die erwachten
Schlafer und zur Rebellion Bekehrten. Derm wir wissen,
dass das Lodern ihrer Seelen Strohfeuer ist, dass morgen
ihr Grimm verraucht sein wird, dass sie wieder als fromme
Burger die Faust unter der Nase werden fuchteln lassen,
sobald nur der ladierte Kiefer von einer liberalen Salbe
verschmiert ist, — und iibermorgen werden wir wieder
die Prediger in der Wiiste sein.
Von alien deutschen Stadten ist Miinchen die der
riickstandigsten Polizeiwirtschaft. Nirgends ist der Wille
des Einzelnen so jammervoll in die Klammern behord-
licher Vormundschaft gepresst wie hier. Die Jagow-Stadt
Berlin ist ein Eldorado der Freiheit im Vergleich mit
Miinchen. Filehne und Krotoschin, Crimmitschau und
Grafen-Hainichen, Oppeln, Pima und Ratzeburg sind, an
Miinchener Verhaltnissen gemessen, Hochburgen freiheit-
licher Kultur.
Gewiss, in Berlin bedrohen jeden, der das Ungliick
hat, mit einem Polizisten in Handel zu kommen, die Jagow-
schen Schiesserlasse an Leib und Leben. Das ist hier
nicht der Fall. Dort aber kennt man nicht alle die Schlin-
gen und Fallstricke, in die in Miinchen jeder gleitet, der
das Recht auf eigenen Geschmack, auf personliche Ge-
wohnheiten, Neigungen, Bediirfhisse beansprucht. Die
Organe der sogenannten offentlichen Sicherheit verfiigen
hier iiber eine Macht, die jedes Eigenleben totet, jeden
Versuch, auf eigene Fasson selig zu werden, erstickt; jede
frohliche Gemeinsamkeit erwiirgt, — und sie iiben diese
Macht in einem Umfange aus, der keinem Fremden glaub-
haft scheinen kann.
Von der rigorosen Handhabung der Polizeistunde war
hier oft die Rede. Wer seine Stunden anders eingeteilt
hat, als es die Diktatur der Weinstrasse fur wiinschenswert
halt, mag sehen, wo er bleibt. Dass jemand zwischen
3 und 4 Uhr nachts einen Kaffee trinken mochte — und
— 131 —
es gibt in dieser Dreiviertelmillionenstadt jede Nacht hun-
derte, die es mochten — , fugt sich nicht in die Paragraphen-
Besessenheit derer, deren Wille uns Befehl zu sein hat
Die Sorge, es konnte jemand etwa im Bahnhofrestaurant
die Tasse Kaffee, nach der er verlangt, doch linden, geht
soweit, dass das Betreten des Bahnhofs nur dem gestattet
wird, der mit einem giiltigen Fahrtausweis versehen ist.
Wiinscht jemand seiner Frau ihre Koffer in den Zug zu
reichen, so wird er sie schon veranlassen miissen, am Tage
zu reisen. Lost er sich aber, um es nachts tun zu konnen,
selbst eine Fahrkarte, die er dann nicht benutzt, so wird
er — es liegen rechtskraftige Urteile dieser Art vor —
mit Strafbefehlen bedacht.
Das aber ist nur eine geringfugige Gefalligkeit nach
der Seite der um das Seelenheil der Miinchener Bevolke-
rung besorgten Frommlinge. Viel arger steht es in dieser
Kunststadt um die Bestrebungen der vereinigten Pfaffen
und Polizisten zur Kujonierung der Kunst. Wer einmal
eine Studie iiber die Grotesk-Akrobatik der SittUchkeit
schreiben will, dem sei in dieser gesegneten Zeit ein
kurzer Aufenthalt in Munchen anempfohlen. Er wird sein
hellblaues Wunder erleben.
AUerlei sonderbare Falle von pohzeilicher Fiirsorge
in dieser Richtung habe ich meinen Lesern im Laufe
der verflossenen acht Monate schon mitteilen konnen. Er-
innert sei hier nur an die bodenlosen Chikanen, mit
denen unter dem aneifernden Gejohle Kausenscher Schreib-
soldner, die unumschrankte Zensurbefugnis des Herrn
v. d. Heydte und seiner Gehilfen unausgesetzt an der hohen
Kunst der Wedekindschen Dichtungen herumzwickt. Die
Halfte dieser Werke ist der offentlichen Mitteilung von
den Biihnen her entzogen, und der geniale „Totentanz"
darf nicht einmal vorgelesen werden. Als Riickendeckung
fiir solche Unglaublichkeiten hat sich der Herr Polizei-
prasident einen „Zensurbeirat" engagiert, der ihm helfen
muss, sauberlich zwischen Moral und Schmutz zu trennen,
dessen ethischer Aesthetik das Kunstbedurfnis kultivier-
— 132 —
ter Menschen ausgeliefert ist, und dessen Rat stets beriick-
sichtigt wird, wenn er mit der Ansicht seines Auftrag-
gebers iibereinstimmt.
Frank Wedekind hat im „Kain" Dokumente veroffent-
licht, aus denen ersichtlich ist, wie gewisse Herren des
Zensurbeirats ihre Obliegenheit auffassen. Die Polizei
wurde von Aesthetikern, die moralische Urteile abgeben
sollten, als Ablagerungsstatte asthetischer Wertungen be-
nutzt. Man konnte in Wedekinds Dramen moralische
Gefahren nicht erkennen, daher dokumentierte man vor der
Polizei seine Unfahigkeit von den dichterischen Offenba-
rungen des Dichters ergriffen zu werden. So, von den
ziinftigen Aesthetikern selbst zur asthetischen Jnstanz er-
hoben, verbot die PoUzei die ihr von den Aesthetikern als
Ethiker zur Freigabe empfohlene Auffuhmng und selbst
die offentUche Vorlesung.
Kann man sich da iiber das geschwollene Selbstbe-
wusstsein der Weinstrasse wundern, wenn sie (vgl. „Kain"
Nr. 3 „Die nervenschwache Polizei") behauptet, ihr obliege
die Wahrung des guten Geschmacks? Kann man sich wun-
dern, wenn sie sogar ein Stiick wie „Oaha" verbietet, in
dem selbst der enragierteste Sexualschniiffler kein „un-
sittliches" Motiv linden wird, das als Vorwand zur ge-
wiinschten Unterdriickung denen konnte? Nein, der „gute
Geschmack" der PoUzei wird bemiiht — und jetzt Gnade
uns Gott! Ich will hier ein heiliges Geltibde ablegen: Sollte
ich je im Leben etwas schreiben, sagen oder denken,
was den guten Geschmack der PoUzei nicht in Konfiskati-
onsstimmung versetzt, so wiU ich in meinem Testament
verfugen, dass aus meinen Knochen Leim gekocht werden
soil, mit dem poUzeiUche Aktenmappen geklebt werden
mogen!
Die guten Munchener — Kiinstler, SchriftsteUer, Pro-
fessoren, Burger und Arbeiter - haben bisher die Moral
und den guten Geschmack der PoUzei wiUig iiber sich
ergehen lassen. Wohl haben sich einmal etUche tiichtige
Manner zu einem Protest gegen die an Wedekind veriibten
— 133 —
Rigorositaten der Munchener Zensur aufgeschwungen und
haben Unterschriften dafiir gesammelt. Damals schrieb
ich („Kain", Heft 4): „Bei der Schlafmiitzigkeit, die das
Verhalten der Geistigkeit gegen das Herumwiihlen sub-
alterner Seelen in kulturellen Werten allgemein kenn-
zeichnet, bedeutet der Aufruf fur Wedekind einen ersten
mannlichen Vorstoss. Nur mochte man wiinschen, dass
die Kundgebung nicht in einer Namenstabelle mit ledig-
lich statistischem Wert umkomme". — Du arme Seele!
Die Warnung war uberfliissig. Es ist noch nicht einmal
eine Namenstabelle mit lediglich statistischem Wert her-
ausgekommen. Noch immer wird den Programmen ftir
Wedekindsche Auffuhrungen und Vorlesungen der Auf-
ruf beigelegt, und immer noch sieht man die gleichen
Namen wie anfangs darunter, — keinen einzigen mehr.
Ob wirklich niemand sonst seine Zustimmung ausgedriickt
hat, oder ob zunachst die erste Auflage des Aufrufs
weg sein soil, ehe weitere Namen bekannt gegeben wer-
den, erfahrt man nicht. Daran, dass sich an den Aufruf
einmal eine energische Protestaktion anschliessen konnte,
denkt heute kein Pferd mehr. — Wenn man nicht den
Willen und nicht die Fahigkeit hat, eine begonnene Tat
zu Ende zu fuhren, dann soil man doch lieber ganz die
Finger davon lassen. Sonst macht man sich vor aller Welt
lacherlich und ermutigt Pfaffen und Polizei zu umso un-
genierterer Betriebsamkeit
Durch die stillen Auen der Munchener Kultur weht
wieder einmal ein betuliches Sauseln. In der Geistes-
kinderstube bleibt das Spielzeug liegen. Proteste flak-
kern auf. Was ist geschehen?
Herr Dr. Robert, der Direktor des Lustspielhauses,
hatte sein Theater an die Tanzerin Frl. Adoree Via-Villany
verpachtet, die dort an funf Abenden einem sorgfaltig
ausgewahlten, geladenen Publikum ihre Kiinste zeigen
sollte. Eine Privatveranstaltung also, in die (sollte man
denken) kein Mensch, kein Pfaff, kein Kausen, keine Poli-
zei hineinzureden hatte. Aber wir leben in Miinchen
— 134 —
und zu dem Programm der Dame gehoren Nackttanze.
(Pfiii!)
Ich habe die Darbietungen des Frauleins Villany leider
nicht gesehen. Daher kann ich mich in der Beurteilung
ihrer Kunst nur auf die Zeugnisse solcher Leute berufen,
die mir sachverstandig scheinen, und auf die Prinzipien,
von denen ich meine Stellung zu kulturellen Dingen be-
stimmen lasse. Das Urteil derer, die die Tanze sahen,
geht einmutig dahin, dass nur ein total moralverkleb-
tes Hirn Unzucht und Geilheit in ihnen finden konnte. Alle
die Kiinstler und Aestheten, die gekommen waren, Kunst
zu gemessen, erlebten Kunst. Sie alle — und es sind dar-
unter die bedeutendsten Kunstexperten, die Munchen hat —
riihmen die dezente Schonheit des Korpers, der sich ihnen
zeigte, und die Grazie der Bewegungen und Stellungen
der Kiinstlerin.
Die hohe Polizei war nicht eingeladen; aber sie kam.
Am dritten Tage wurde die Auffuhrung von der be-
amteten Macht unterbrochen, die Kiinstlerin von der Biihne
weg verhaftet und mit ihrem Impresario und dem Direktor
Dr. Robert, zum Polizeiprasidium abgefiihrt. Gegen alle
drei ist ein Verfahren nach § 183 des Strafgesetzbuches
eingeleitet und gegen Dr. Robert auch noch eins auf
Entziehung der Theaterkonzession. (Natiirlich: derm das
Lustspielhaus hat sich in der letzten Zeit ganz erheb-
lich kunstlerisch gebessert. Es bietet jetzt in der Tat
gute Vorstellungen, und hat sich mit den Auffuhrungen
von Tschechows „Move" und Strindbergs „Vater" wirk-
Uches Verdienst erworben. Seit sich Dr. Robert auch
noch — vergeblich — bemiiht, Wedekindsche Stiicke frei
zu bekommen, droht sein Theater im Ernst zu einer
Kulturinstitution zu werden).
Zu einer solchen Gewalttat musste es also erst kom-
men, bis sich endlich, endhch in den Gefuhlen der Geisti-
gen etwas wie Trotz regte. Die Polizeiplempe musste
ihnen erst iiber das Gesicht fahren, ehe ihnen die Rote
an die Schlafen stieg. Nun regt sich's in Protesten und
— 135 —
Kundgebungen, nun werden Unterschritten gesammelt
und wohl auch Reden gehalten. Aber wie lange? Wird
die Erregung vorhalten? Wird sie auch nur dauern, bis
die verantwortliche Person, die die Polizeiaktion vor der
Oeffentlichkeit vertritt, aus dem Amte muss?
Herr v. d. Heydte scheint guten Mutes zu sein. Er
publiziert eine Erklarung, worin er die Meinung vertritt,
dass derartige Unternehmungen seiner Erlaubnis bediirfen,
und worin er beteuert, dass, solange er den Posten des
Miinchener Polizeiprasidenten bekleide, die Erlaubnis zu
ahnlichen Darbietungen verweigert wiirde. Das zeigt, ge-
gen wen der Kampf gehen muss. Was ich immer und
immer betone, woran ich die Kunstlerschaft hier wieder
und wieder gemahnt habe — wird es jetzt endlich klar?
Leuchtet es endlich ein, dass es mit der ewigen Atelier-
Turmwachterei nicht weiter geht? Dass der Kiinstler
an den offentlichen Einrichtungen interessiert ist, wie nur
einer? Die Kunstlerschaft gehort in den sozialen Kampf!
Sie ist bestimmt, die Freiheit des geistigen Lebens zu
schiitzen und zu behiiten gegen Polizeibedrohung und Poli-
zeigewalt! Sie gehort auf die Seite der Unzufriedenen
und Revolutionare! — Allein mit Protesten und witzigen
Schreibereien, wird sie nichts ausrichten gegen die, die
verbiindet stehen mit den pfaffischen Hiitern der Dumm-
heit und Unkultur. Nur im Bunde mit denen, die die
Polizeimacht an anderen Stellen, aber nicht minder
schmerzhaft zu spiiren bekommen, kann der Geist er-
reichen, was sein Lebensrecht verlangt. In den Kampf,
Kiinstler! Auf die Tribune! Auf die Strasse! Tua res
agitur!
Der Fall, um den es heute geht, ist nur ein Symp-
tom, immerhin aber ein wertvolles. Vor hunderten von
Augen hat sich der Vorgang abgespielt, vor Augen, die
meist blind sind fur die Wirklichkeiten unseres vortreff-
lichen Staatsbetriebes. Hunderte von Menschen, die ein
Recht haben, auf ihren Menschenwert stolz zu sein, sind
von der Staatsgewalt beschimpft worden, indem ihnen
— 136 —
gesagt — nein, indem ihnen eingeblaut wurde, dass schmie-
rige Liisternheit sei, was sie als ihr Kulturbediirfnis aus-
geben. Wollt ihr euch das gefallen lassen, Kiinstler?
Dass schoner Frauentanz die Seele kunstfreudiger
Menschen erhebe, wird von der Polizei allenfalls zuge-
standen. Dass nackte Frauenleiber, in Stein gehauen, von
schonheitsdurstigen Menschen bewundert werden, kann
sie nicht verbieten. Aber dass leibhaftiges Leben, das
Edelste, Wundervollste, was die Natur geschaffen hat,
dass ein formschones nacktes Weib im Rhytmus des
Tanzes ihren hochsten Ausdruck sucht, das soil Schwei-
nerei sein, das sollt ihr, ihr Kiinstler, als Schweinerei
anerkennen! Pfaff und Polizei behaupten, es sei Schwei-
nerei, behaupten, ihr seid geile Liistlinge, weil ihr Freude
daran habt! — Habt ihr keine Scham, dass ihr euch
nicht emport?
Jedes letzte Naturvolk unterscheidet zwischen Geil-
heit und Sinnenfreude. Botokuden, Australneger und
Zulukaffern freuen sich an den Tanzen ihrer nackten
Frauen, und keinem von ihnen fallt es ein, mit anderen
Empfindungen als mit denen erhohter Lebenslust hinzu-
schauen. Ihr aber, ihr Kiinstler, ihr westeuropaischen
Kulturtrager, — ihr sollt die Ferkel sein, die beim An-
bhck einer entkleideten Tanzerin vor Brunst schwitzen.
Steigt euch nicht die Galle hoch, da man euch das vor-
wirft? Fiihlt ihr keinen Ekel, keine Wut, keinen Hass?...
Man kann mir glauben, ich will keinem Menschen
sein Miinchen verekeln. Ich Uebe diese ergreifend schone
Stadt, wie wenn sie meine Heimat ware, und ich mochte
— trotz all des Widerwartigen, das einem hier die Freude
am Dasein vergallen kann — nicht mehr in einer andern
deutschen Stadt leben. Aber muss es denn sein, dass diese
Stadt, die von Natur und vom Geschmack der Menschen
so gut behandelt ist wie wenige, sehr wenige andere,
— muss es sein, dass diese Stadt von pfaffischem Geist,
von muckerischem Wesen, von polizeilichen Unertrag-
lichkeiten geknebelt und geknechtet wird?
— 137 —
Menschen, Kiinstler, besinnt euch doch! Das unver-
haltnismassig starke Kontingent, das die Geistigkeit gerade
in Munchen stellt, miisste euch doch Mut machen, stolz
auf euern eigenen Willen zu bestehen! Mit Protestieren,
mit Artikelschreiben, mit Parlamentswahlereien ist es
nicht getan. Der gleiche Landtag, der eben aufgelost ist,
vertrat Niirnberg so gut wie Munchen. Und Niirnberg ist
bisher noch ohne Polizeizensur ausgekommen. Der neue
Landtag mag aussehen, wie er will: durch seine Zusam-
mensetzung wird sich weder in Munchen noch in Niirn-
berg etwas andern.
Auch zu Gewalttatigkeiten rate ich keinem Menschen.
Damit ware nichts zu erreichen als Elend und Verzweif-
lung. Worauf es ankommt, ist starkes Zusammenhalten,
klare und laute Betonung des eigenen Werts, Erkennung
der feindhchen Machte und den Willen, sie zu brechen.
Man mache den Versuch. Man fordere so laut, so
scharf wie moglich die Beseitigung des Polizeiprasiden-
ten, der den Miinchener Kiinstlern vorgeworfen hat, sie
falschen in Kunst um, was nichts als Unzucht sei. Man
mache dem Manne begreiflich, dass er die Autoritat,
auf die er Anspruch erhebt, bei dem gesamten kulturei-
len Teil der Miinchener Bevolkerung nicht besitzt. So
wird er weichen miissen. Hat man das erreicht, so be-
miihe man sich um die Erkenntnis des ganzen Systems,
das man Polizei nennt. Man begreife, dass dieses System
die Herrschaft der rohen Gewalt iiber alle geistigen
Machte bedeutet, — man bekampfe sie in der Erschei-
nungsform, die Zensur heisst, und in jeder andern Er-
scheinungsform.
Ich glaube — lache iiber diesen Glauben, wer will —
dass der Geist starker ist als der Sabel. Ich glaube,
dass wir ohne Polizei friedlicher, gesicherter, nutzbrin-
gender leben konnen als mit ihr, und ich glaube, dass fiir
alle Kultur, fiir alle Freiheit, fur alle Menschenwohlfahrt
viel gewonnen ist, wenn aus Kiinstlerblut endhch Rebel-
lenblut wiirde, und wenn aus dem oden Tagesschwatz
138
der Politik die laute Stimme der Geistigkeit heraustonte:
Gegen die Knechtung! Gegen den Staat! Gegen die
Polizei!
Gedichte.
An E.B.
Du bist nicht schon — und dennoch lieb' ich dich.
Du liigst — und dennoch glaub' ich deinen Worten.
Nie qffnest du mir deiner Gnaden Pforten
Geheiligtes — und dennoch lockst du mich.
Warum verwirrst du, was mein Wesen ist
machst meine Wege strauchelnd und gefdhrlich —
Weil du mir unergriindlich, unerkldrlich —
und dennoch alter Ratsel Losung bist.
An dem kleinen Himmel meiner Liebe
will, mich diinkt, ein neuer Stern erscheinen.
Werden nun die andern Sterne weinen
an dem kleinen Himmel meiner Lieber
Freut euch, meine Sterne, leuchtet heller!
Strahlend steht am Himmel, unverriicklich,
eures jeden Glanz und macht mich glucklich.
Freut euch, meine Sterne, leuchtet heller!
Kommt ein neuer Stern in eure Mitte,
sollt ihr ihn das rechte Leuchten lehren.
Junge Glut wird euer Licht vermehren,
kommt ein neuer Stern in eure Mitte.
An dem kleinen Himmel meiner Liebe
ist ein Funkeln, Glitzern, Leuchten, Spriihen.
Denn ein neuer Stern beginnt zu gliihen
an dem kleinen Himmel meiner Liebe.
— 139 -
Biicher.
Die Tat des Dietrich Stobaus, Roman von Max Halbe. Verlag
Albert Langen, Mlinchen.
Der knappe Raum dieser Zeitschrift erlaubt keine ausfuhr-
lichen Inhalts-Rekapitulationen ganzer Biicher. Und das ist gut
so. Denn wer eines dichterischen Werkes Inhalt nacherzahlen wollte,
tate dem Werk und dem Dichter unrecht. Das muss ein schlechter
Roman sein, auf den man durch das Ausplaudern seiner Gescheh-
nisse neugierig machen konnte. Max Halbes „Die Tat des Diet-
rich Stobaus" aber ist eine Geschichte, deren hoher kunstlerischer
Wert gerade im Rhytmus des dichterischen Berichts, in der sehr
personlichen Sprache des Dichters, in dem merkwiirdigen, wirklich-
keitentriickten und doch so sehr wahrhaftigen Verlauf der Begeben-
heiten besteht. Welches die Tat des Dietrich Stobaus ist, das
wird gleich im Anfang der Erzahlung verraten; Die Ermordung
seiner Geliebten, der schonen, interessanten und sinnlichen Carola.
Wie sie aber geschieht, wie sie aus der Psyche des Morders
und des Opfers wachst, wie sie vom Fatum und von ausserirdi-
schen Kraften vorbereitet, organisiert und endlich ausgefuhrt wird,
das erfahren wir aus den Aufzeichnungen des Taters selbst. Und
ganz zum Schluss wissen wir nicht mehr, was wir das ganze Buch
hindurch glaubten, zu wissen, ob Carola wirklich von Dietrich
Stobaus ermordet wurde, oder ob das Gespenst seines verschollenen
Grossvaters sie ins Meer hinabriss. Wir wissen,, wenn wir das
Buch aus der Hand legen, nicht, ob der, der die Tagebuchblatter
schrieb, ein Vernunftiger oder ein Verworrener war, ein Ver-
riickter oder ein Hellseher; ob das seltsame Eingreifen des ge-
heimnisvollen Kapitans auf dem Ahnenbilde Halluzination und visi-
onare Einbildung war, oder wahrhaftige Erscheinung aus der vierten
Dimension. Wir wissen nur, dass alles, was in der Seele und
im Erleben des Dietrich Stobaus geschah, unausweichliche Not-
wendigkeit war, dass der Leichtsinn und die Unbedenklichkeit des
Madchens, ebenso wie ihre Schonheit und das Leiden um sie, dass
die Jugendfeindschaft gegen den Schulkameraden und die Zeche-
reien mit dem schwindslichtigen Ratskellerkumpanen zugleich mit
den ratselvollen Zeichen des toten Grossvaters — dass alles das
notwendig war, um das Schicksal Carolas durch die Hand ihres
Liebhabers zu erfiillen. — Die Ich-Form, in der der Roman er-
zahlt wird, und die Verlegung der Handlung in die Mitte des vorigen
Jahrhunderts rechtfertigen den behabigen Erzahlerton, und der ist
wiederum wichtig, um die grossen psychologischen Finessen des
— 140 —
Werks hervortreten zu lassen. In dieser ausserordentlich klugen
Psychologie ruht die Spannkraft des Buches, das trotz seiner alt-
modischen Einkleidung und trotz seiner gewagten inneren Struk-
tur eines der fesselndsten ist, die ich seit langem in der Hand
hatte und turmhoch liber dem Niveau der ublichen Unterhaltungs-
romane zu werten ist. — Max Halbe hat sich mit diesem Werke auf
ein Gebiet begeben, auf dem wir ihn bisher nicht kannten. Er
hat die Probe ausgezeichnet bestanden. Sein dramatisches Tempe-
rament und die feine lyrische Betrachtungskunst, die sich in alien
seinen Dramen zeigt, tragen zu der packenden Wirkung des Ro-
mans viel bei. Es ist zu hoffen und anzunehmen, dass umgekehrt
auch das zahe Eindringen in die Psychologie seiner Gestalten,
Wie es zur Tat des Dietrich Stobaus notwendig war, befruchtende
Wirkung auf seine kilnftigen Buhnenwerke zeitigen wird.
Eigenes. Ich glaube, den Lesern wegen der Verzogerung des
langst versprochenen Kain-Kalenders eine Erklarung schuldig zu
sein. Ich hatte die Arbeit, die zur Zusammenstellung eines solchen
Sammelbuches gehort, wesentlich unterschatzt. Dazu kommt, dass
die Ftille laufender Berufsarbeiten und die Aufgabe, die Zeitschrift
selbst regelmassig rechtzeitig zu liefern, tiber meine Zeit so aus-
giebig verfligen, dass es sehr schwer halt, die Freistunden zu
finden, in denen der Kalender entstehen muss. Ich kann jetzt
aber versichern, dass meine Arbeiten dazu so gut wie abgeschlossen
sind, und dass das kleine Buch in wenigen Tagen in den Handen
derer sein wird, die so freundlich sind, sich daflir zu interessieren.
Auf verschiedene Anfragen ilber meine sonstigen Buch-Publi-
kationen fur die nachste Zeit kann ich vorlaufig folgendes antworten:
In den ersten Monaten des kommenden Jahres erscheint im Drei-
lilienverlag in Karlsruhe eine Auswahl von alteren Aufsatzen von
mir unter dem Titel: „Scheinwerfer", Betrachtungen aus der Kunstler-
Perspektive". Ferner bereite ich ein Gedichtbuch vor, in das ich
eine Reihe von Gedichten aus der „Wuste" und dem „Krater" iiber-
nehmen will, und das hauptsachlich neue, bisher in Buchform noch
nicht gedruckte Verse enthalten soil. Es wird voraussichtlich in
einem bekannten Berliner Verlage erscheinen. Wann und wo die
beiden Dramen, die noch der Veroffentlichung harren, erscheinen
werden, ist noch unbestimmt. E. M.
Bemerkungen.
Respekt vor Dichtern! Heinrich Mann, der grosste Stilist der
deutschen Sprache, der eigentliche Entdecker der modernen
Menschenpsyche und ihr (bis jetzt) einziger Gestalter, hat ein Drama
— 141 —
geschrieben, das „Schauspielerin" heisst. In diesem Drama wird ein
Charakter lebendig gemacht, in dem die Welt der Wirklichkeit und die
Welt des Theaters miteinander streiten. Die Heldin ist Schauspie-
lerin und ist es so sehr, dass sie alles Erleben wie Blihnenaufgaben
nimmt, und ihr Leben genial, reich, bewegt — und doch kalt, ilber-
legt, selbstgefallig, auf den Effekt bedacht bis zur Konsequenz de»
Selbstmords — spielt. Ich hatte Gelegenheit, das Stuck in Berlin
im Theater an der Koniggratzer Strasse zu sehen, wo die Schau-
spielerin von Frau Durieux mit unerhorter, unvergesslicher, unver-
gleichlicher Sichtbarkeit und Eindringlichkeit gespielt wurde.
Es ist die Tatsache zu vermerken, dass Heinrich Manns Drama von
samtlichen in Frage kommenden Theatern Munchens abgelehnt wurde.
Haben die Herren, die darilber zu bestimmen hatten, den dichteri-
schen Wert des Werkes schon nicht erkannt, so waren sie es trotz
allem dem Publikum schuldig gewesen, die uberaus interessante lite-
rarische Erscheinung Manns als Dramatiker vorzustellen. Eine Bla-
mage ware gar nicht moglich gewesen, selbst wenn das Stuck nichts
taugte, da der Name des Dichters jeden Theaterdirektor gedeckt
hatte. — Ganz unverstandlich aber ist es, dass den Herren die Be-
obachtung entgangen ist, wie ungemein dankbar die grossen Rollen
des Stlickes sind. Warum gibt das Residenztheater nicht einer so
vortrefflichen Darstellerin wie Frau v. Hagen Gelegenheit, eine so
lohnende Aufgabe zu bewaltigen ? Warum darf sich Frau Ida Roland
nicht im Lustspielhaus an der Rolle versuchen? — Es ist im hochsten
Masse skandalos, dass ein Dichter vom Werte Heinrich Manns in
ganz Mlinchen keine Buhne findet, die es sich zur Ehre anrechnete,
ihn von einer neuen Seite zu zeigen. Es bleibt nur noch der Wunsch
und die Erwartung ubrig, der Neue Verein werde die Schuld gegen
den Dichter auslosen und die beruflichen Theaterleiter Munchens
beschamen.
Heldentaten. Fur wen in dem Kriege, den auf Kosten der
Tripolitaner die Italiener gegen die Tilrken filhren, im Moment
die Aussichten am gunstigsten stehen, weiss man immer noch nicht.
Das einzig zuverlassige, was man vom Schauplatz der Massenmorderei
erfahrt, sind die unsaglichen Grausamkeiten, mit denen Italiens
Heldenschar gegen wehrlose Araber wiltet. Jeder Berichterstatter
weiss scheusslichere Einzelheiten zu melden, und wenn man bei-
spielsweise erfahrt, dass die europaischen Soldaten die gefangenen
Frauen des Feindes vor die Front stellten, um die menschlicheren
„Wilden" von der Gegenwehr abzuschrecken, dann packt einen wohl
die Verzweiflung an allem Streben nach Gesittung, Aufklarung und
Menschentum. Liest man, wie aus Aeroplanen Bomben geschleudert
werden, die zwischen Greisen, Weibern und Kindern krepieren;
dann schiittelt einen der Ekel ilber die Dummheit und den Hoch-
mut aller europaischen Zivilisation, die die Erfindung solches Spiel-
zeugs in einer Zeit als Kulturtat preisen mag, wo nur der organisierte
Volkermord praktische Verwendung dafiir weiss. — Der Verlauf
des nordafrikanischen Krieges legt trilbe Gedanken nahe. Ist es
so sicher, dass die Soldaten anderer Nationen sich viel anders
auffuhren wilrden, als die italienischen, wenn sie gegen einein
„Feind" losgelassen werden sollten? Wer in den Krieg geflihrt
wird, nimmt die Weisung mit, zu morden, mit verheerenden Waffen
Menschen zu toten, die er nicht kennt, von denen er nichts weiss,
die ihm nichts getan haben, und die ihm nie etwas tun mochten,
— 142 —
wlirden sie nicht ebenfalls zum Morden gezwungen. Soil man
sich wirklich gegen die primitiven Mannschaften emporen, die nicht
lange unterscheiden, die, im Eifer, gezwungenermassen zu tun,
was gegen ihr wie gegen jedes Menschen Innerstes und natlirlichstes
Gefuhl geht, tiber die Grenzen der Befehle hinaus Krilppel und
Sauglinge morden, die Weiber derer, die ihnen als „Feinde" de-
nunziert sind, notzlichtigen, brennen und zerstoren, was ihnen in
den Weg kommt ? Am Ende ist das alles ganz naturlich, wenn von
oben herunter Mord befoheln wird und die christliche Religion der
Liebe herhalten muss, um von der ausserirdischen Cerechtigkeit
den Sieg zu erflehen Man sollte wahrlich anfangen, statt in billiger
Entrustung liber fremde Blutschuld zu greinen, den Blick ins eigene
Herz zu lenken. Die Voraussetzungen zu solchen Greueln, wie
sie die Italiener in Tripolitanien vollftihren, sind tiberall gegeben,
wo den Volkern zugemutet wird, das Versehen am Nachsten, Idas
aus personlicher Gekranktheit, aus ehrlichem, von heisser Ueber-
zeugung gelenktem Groll geboren sein kann, als infames Verbrechen,
das sinnlose Wilten gegen recht- und willenlose Volker aber als
heldenhafte Tapferkeit anzuerkennen.
Der politische Kronprinz. Der lederne Kanzler hatte schwere
Tage im deutschen Reichsparlament. Er musste so tun, als galte
es, sein Marokkowerk gegen die patriotischen Volksboten konserva-
tiver, klerikaler, liberaler und sozialdemokratischer Observanz zu
retten, nachdem er diesen Herren bereits bewiesen hatte, dass
sie gar nicht dreinzureden hatten. Der lederne Kanzler wurde
heftig bedrangt. Konservative, Klerikale, Liberale und Sozialdemo-
kraten bewiesen ihm, dass sein Werk schlecht sei, und dass das
Deutsche Reich bei seinem Handel mit Marokkanern und Kongo-
negern ein viel besseres Geschaft hatte machen konnen. Da griff
sich der lederne Kanzler den konservativen Heerfiihrer heraus und
vermobelte ihn zum Gaudium seiner klerikalen, liberalen und sozial-
demokratischen Parteigegner. So wurde der Kanzlerstuhl, der schon
wackeln wollte, geleimt, und Klerikale, Liberale und Sozialdemokraten
freuen sich am jungen Glanze seines Leders und lobpreisen den Mann,
der also tat. — Ach so! Ich wollte ja von dem politischen Kron-
prinzen sprechen. Der glaubte — mit Recht, wie mir scheint —
er sei im Theater, als er den ledernen Kanzler und den konserva-
tiven Heerfiihrer in hellem Zorn Wahlparolen schmettern horte.
Wenn es recht schon war, nickte er, klatschte in die Hande und
schlug mit der Hand auf die Logenbrtistung. War es weniger
schon, schiittelte er den Kopf und lachte hohnvoll. Wie Maxi-
milian Harden in einem Vortrag in Berlin seinen Horern erzahlte,
soil die sozialdemokratische Fraktion erwogen haben, ob man nicht
den Prasidenten des Reichstags veranlassen sollte, den auffalligen
Offizier aus der Hofloge hinauszuweisen. Der alte Bebel aber
(dessen posthumes Gebaren immer possierlicher wird), habe das ver-
hindert. Das Ende war, dass der temperamenthafte Herr zu-
sammen mit dem ledernen Kanzler bei Kaisers soupieren musste.
Die Patrioten aber fanden sein Benehmen ungemein herzig. Marokko
und der Kongo, der lederne Kanzler, der konservative Heerfiihrer,
die Klerikalen, die Liberalen, die Sozialdemokraten und die Wahl-
parole — was gilt das alles gegen die erfreuliche Tatsache, dass
wir wieder einen politischen Kronprinzen haben!
— 143 —
Wahlt! Wahlt! Himmelherrgott, haben die armen Sozialdemo-
kraten zu tun! Die Gemeindewahl ist gliicklich iiberwunden. Wie
zu erwarten war: Brandroter Sieg! Wie man hort, werden die
Erwahlten daflir sorgen, dass in Zukunft die Mlinchener Brieftrager
und Schutzleute statt blauer rote Uniformen bekommen, ferner
aollen von jetzt ab die Hundefanger, die die offentlichen Lokale
nach Vierfiisslern absuchen, durch Volksabstimmung gewahlt wer-
den. — Dannn kommen die Reichstagswahlen. Dass die Sozi
als starkste Mannschaft ins Wallotbrau einkehren werden, steht
ausser Frage. „Unser das Reich — unser die Welt!" jubelte der
„Vorwarts" schon 1903. Jetzt werden sie zeigen, was sie konnen.
Ludwig Frank wird Reichskanzler und Wilhelm II. .nuss seine
Ordres fortab aus der Kreuzbergstrasse beziehen. Alle burgerlichen
Parteien werden in die sozialdemokratische sozusagen eingemeindet,
alle Anarchisten dagegen durch Reichsdekret als Spitzel erklart;
liber ihr sexuelles Vorleben werden amtliche Erhebungen veran-
staltet, und das Resultat bestimmt jeweilig, ob der einzelne im
Zuchthaus oder im Irrenhaus zu internieren ist. Nachher kommen
noch die bayerischen Landtagswahlen. Auch da ist der rote Sieg
so gut wie gesichert. Bayern wird alsdann zur Republik gemacht —
President: Schuster Knieriem (der Mann heisst wirklich so.) Vor
dem Munchener Kindlkeller wird ein Galgen aufgestellt. Wer
in Bayern den Versuch macht, von einer angekundigten freien
Diskussion Gebrauch zu machen, wird daran aufgeknilpft. Herrn
v. Vollmars Geburtstag wird zum nationalen Feiertag erhoben. Alle
Militarkapellen spielen an diesem Tage auf offentlichen Platzen das
Lied: „Das freie Wahlrecht ist das Zeichen" — Wer sich im
Besitz einer Ausweiskarte des Verbandes echt sozialdemokratischer
Leute befindet, darf mitsingen.
Wahlberechtigte, wahlt rot! Herrliche neue Zeiten sind im
Anmarsch!
Versammlungsbericht Am 30. November hielt im Namen
der Gruppe „Tat" des Sozialistischen Bundes der Herausgeber dieser
Hefte in der Schwabinger Brauerei einen offentlichen Vortrag iiber
„Staat, Kirche. Polizei und Abhilfe". Der etwa 1000 Personen
fassende Saal war uberflillt. Was der Redner sagte, wird sich der
Leser des „Kains" ungefahr vorstellen konnen, wenn er gebeten
wird, sich den Inhalt des Eingangsartikels dieser Nummer als
Leitmotiv zu denken. Die Versammlung setzte sich aus Kiinst-
lern, Schriftstellern, Anarchisten, Burgern, sehr vielen Studenten
und dem Chefredakteur der „Munchener Neuesten Nachrichten" zu-
sammen. Der Redner fand grossen Beifall; auch wurde auf Haus-
schlilsseln gepfiffen. An der Diskussion beteiligten sich mehrere
Akademiker und ein revolutionarer Arbeiter. Im Schlusswort fer-
tigte der Referent die Lausbuben ab, die den Ort, wo erwachsene
Menschen iiber sehr ernste Dinge verhandelten, als Statte ihres
geistlosen Bierulks benutzten, bedauerte die Herzenskalte derer, die
angesichts der Widerwartigkeiten der behordlichen Bevormundungen
mit logischen Griinden den Appell an das revolutionare Gewissen
freiheitlicher Menschen widerlegen wollten und forderte noch ein-
mal zum Zusammenschluss derer auf, denen das Leben unter den
bestehenden Verhaltnissen zum Ekel und unertraglich geworden sei.
— 144 —
Es schien angemessen, an dieser Stelle einen Bericht liber
die Versammlung zu bringen, damit auch Leute etwas von ihrem
Verlauf erfahren, die personlich nicht anwesend waren. Der Her-
ausgeber dieser Zeitschrift hatte die „Miinchener Neuesten Nach-
richten" und die „Miinchener Zeitung" gebeten, die Tatsache dass
er einen Vortrag halten wolle, vorher mitzuteilen. Zugleich hatte
er beide Zeitungen eingeladen, Vertreter hinzuschicken. Der kleri-
kalen Presse wollte er aus im Thema begrundeten Bedenken nicht
zumuten, eine ihr so unbequeme Notiz zu bringen. Die sozialdemo-
kratische „Munchener Post" um eine Gefalligkeit zu ersuchen, wollte
er sich selbst nicht zumuten. Die liberalen Blatter brachten aber
in stillschweigender (oder telephonischer?) Uebereinstimmung die An-
kilndigung auch nicht. Sie mlissen wohl gedacht haben, dass jetzt
kein Mensch etwas erfahren konnte.
Sie brachten auch nachher keine Silbe ilber die Versammlung.
Mich kranken sie damit nicht. Das Publikum muss aber einmal
gefragt werden, warum es eigentlich diese Art Zeitungen liest. Ver-
mutlich doch, um zu erfahren, was in der Oeffentlichkeit vorgeht.
Verschweigt ihm die Milnchener Presse eine Veranstaltung, an
der ilber tausend Personen (und ein Chefredakteur) teilnehmen,
so ist das Publikum um eine Tatsache, filr deren Mitteilung es
sein Abonnementgeld bezahlt, betrogen. Psychologisch erklart sich
die Diskretion der Blatter so: Die alldeutsch-nationalliberal-demokra-
tische Presse hat eine Heidenangst vor allem, was nach Charakter
und Wahrheit riecht. Sie traute ihren Reportern die Fahigkeit
nicht zu, den Bericht ilber den Vortrag soweit zu falschen, dass
nicht doch, Gott behilte, ein einleuchtender Gedanke stehen ge-
blieben ware. Schweigend lilgt sich noch leichter als referierend.
Ich personlich aber filhle mich, je toter ich geschwiegen werde,
desto lebendiger.
Wegen Platzmangels musste das Tagebuch aus dem Gefangnis in
dieser Nummer ausfallen.
Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9.
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baaderstr. lu.la. Geschaftsstelle: Miinchen, Baaderstr. la. Tel. 2355
KAIN, Heft 7. Inhalt: Bebel t-
Gefangnis.
Miinchen.
- Miinchner Theater.
K o r r e s p o n d e n z .
— Tagebuch aus dem
Kiew. — Mainz. —
JvAlJN, Hell o. Justiz. — Tagebuch aus dem Gefangnis. —
Miinchner Theater. — Bemerkungen. — Der Kausen. — Zeit-
fragen. — Tripolis und China. — Unser Bittinger.
Pregrelationsbureau „ftanfa"
Itltph. Ami tllodblt tin Berlin NW ZH ■*■ holJleln*r Ufer 7 ♦
Jnh.: Jng. in. Hraufe
litfert allc Ilaflirirtitrn tiber
Kunft, literatur, IDiffenftftaft
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Dft Kt&tCt* eemmtc. 1909. m. 2.-
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Zu brzicl)cn durct) icric Budfj&andlung und den
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Unterzeichneter abonniert hiermit auf die Zeitschrift
„KAIN", Jahrgang 1911/12. (Kain-Verlag Miinchen, Baader-
strasse la.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark.
Betrag wird gleichzeitig eingesandt.*)
Soil durch Nachnahme erhoben werden.*)
Genaue Adresse:
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fc ) Nicht gewlinschtes bitte zu durchstreichen.
Jahrgang I. No. 10. Januar 1912-
KMN
Zeit/chriftfur
rien/ch(ich(\eir
HemuJgeber;
Inhalt: Der Humbng der Wahlen. — Bemerkungen. — Oaha.
Die Speisung der Armen. — Der Lustmorder.
Kain-Verlag Munchen.
30 Pfg.
Kain - Kalender
fur das Jahr 1912
ist erschienen.
Preis 1 Mark.
Zu haben in den Buchhandlungen und
durch den KAIN-VERLAG, Munchen,
Baaderstrasse la.
Jahrgang I Miinchen,
No. 10. Januar 1912
KAIN
Zeitschrift fiir Menschlichkeit.
Herausgeber: Erich Muhsam.
»"'■' ' Ml It MM rTTTI I LI M„|, |,.| ,| ,,TJ |.,l,.|.,|..H.,|.,|.,|„n„|„ t „| ! n. llJ .Eili.ia| l .H,.CTiBT*.|a,'y.rf
„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt
Mir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes), Jahresabonne-
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag",
Miinchen, Baaderstrasse la
Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber.
Mitarbeiter dankend verbeten.
jhJ4.Jl.i iiiiiiii.iii i,i|..i,j., t,.tMt..i .i, h l .„i..tM. iaJTj .i..i..i..i.t.i..ii.i ,. t,,^.i,,i..i,ii,j,^,v.ti.h^ Tr^ ,i,j.,Li^4i4. . ran(i
Der Humbug der Wahlen.
Wir lesen taglich in den Zeitungen, Flugschriften und
Wahlaufrufen der Liberalen und Sozialdemokraten, dass
die Klerikalen finstere Gauche, scheinheilige Jesuiten, Ver-
dummungsapostel und den gemeingefahrlichen Junkern
treu verbriiderte Feinde jeglichen Fortschritts, jeglicher
Entwicklung seien. Die Werbeschriften der Klerikalen
aber behaupten, dass die Liberalen flachkopfige Interessen-
politik treiben, Tropfe und hohle Schreier, die Sozial-
demokraten hingegen rohe Demagogen sind und gewis-
senlose Spekulanten auf die Leichtglaubigkeit der werk-
tatigen Massen. Dass der Gegner Liigner, Verleumder und
geschworener Volksfeind sei, beweist einer dem andern mit
den biindigsten Belegen. — Seien wir hofliche Men-
schen, und glauben wir, dass in der Beurteilung ihrer
Feinde jede Partei die Wahrheit spricht. So haben wir
denn nichts weiter zu tun, als auszusuchen, in wessen
Gefolgschaft wir uns begeben, welcher dieser Gruppen wir
flir die nachsten flinf Jahre die Wahrung unserer Inter-
essen anvertrauen wollen.
— 146 —
Bekanntlich wird durch den AusfaU der Wahlen vom
12. Januar das Schicksal des Deutschen Reiches besiegelt
werden. Es soil sich namlich herausstellen, ob unter einer
konservativ-klerikalen oder unter einer liberal- sozialdemo-
kratischen Reichstagsmehrheit alles beim Alten bleibt
Es soil sich entscheiden, ob wir weiterhin blauschwarze
Tinte saufen miissen, oder ob wir uns an einer rotlich-
gelben Melange den Magen verderben diirfen. Kurz und
gut: Es geht um die letzten Dinge.
Wahltag — Zahltag. Das deutsche Volk wird aufge-
rufen, das eigene Gliick zu Schmieden. Gleiches Recht
fur alle. Jede Stimme zahlt. Jede Stimme ist wichtig. Wer
der Wahlurne fern bleibt, schneidet sich ins eigene Fleisch.
Wer nicht wahlen will, muss flihlen. Wer keinen wahlt,
wahlt seine Feinde. Wer im Reichstag nicht vertreten
sein will, hat sich alles Unheil selbst zuzuschreiben. Auf
gegen die Reaktion! Auf gegen die Verdummung und
Verpfaffung! Auf gegen den roten Umsturz! Auf gegen
den Freihandel! Auf gegen die Schutzzolle! Auf gegen
die Lebensmittelverteuerung! Auf gegen die Feinde der
Landbevolkerung! Auf fur Freiheit, Wahrheit und Recht!
Auf fur die Erhaltung guter deutscher Sitte! Das Vater-
land muss grosser sein! Wir halten fest und treu zu-
sammen! Hurrah! Hurrah! Hurrah!
Es gilt also wieder einmal, das einzige Recht aus-
zuiiben, das der Deutsche hat. Wie denn: das einzige
Recht? Seit 42 Jahren immer noch das einzige Recht? Da
doch seine Ausiibung den Zweck verfolgt, den Deutschen
Rechte zu schaffen? Erklare mir, Graf Oerindur,
diesen Zwiespalt der Natur!
Es ist in der Tat wahr: Das einzige Recht des deut-
schen Mannes besteht darin, dass er im Laufe von funf
Jahren einmal in eine verschwiegene Zelle treten und
einen Zettel in ein verschwiegenes Gefass werfen darf,
worauf er einen (ihm gewohnlich unbekannten) Mitmen-
schen zum Fursprecher seiner Ueberzeugungen bestimmt
hat. Bekommt ein anderer Kandidat mehr Stimmen, so
— 147 —
tritt der Wahler betriibt in den Hintergrund, bleibt fur die
nachsten fiinf Jahre mit seinen Ueberzeugungen unver-
treten und trostet sich mit dem erhebenden Gefiihl, dass
er jedenfalls von seinem einzigen heiligen Recht Gebrauch
gemacht und gezeigt hat, dass er auch mitreden kann.
Aber warum so pessimistisch sein? Es ist ja mog-
lich, dass zwei andere Kandidaten mit einander in Stich-
wahl kommen, und der iiberstimmte Staatsbiirger hat
nun die Entscheidung in der Hand: welcher ist der
Wiirdigere? Wer wird meine Interessen besser vertreten?
Wem kann ich mien soweit anvertrauen, dass ich ihn
mit Generalvollmacht ins Parlament schicken darf? Seine
Parteileitung sagt's ihm — und er wahlt und bewirkt mit
seiner Stimme das Resultat. So kann also doch die
an die Wand gedriickte Minoritat immer noch den stark-
sten Einfluss haben auf die Konstellation der Partei-
vertretungen? Kann sie auch. Hier ist ein Beispiel aus
der Praxis:
Man erinnere sich an die Vorgange, die den Reichs-
kanzler Furs ten Biilow veranlassten, den vorletzten Reichs-
tag aufzulosen. Dem Manne war seine Position unsicher
geworden, und er benutzte eine oppositionelle Regung des
Zentrums, das ihm von einer Kolonialforderung einen
geringfugigen Abstrich machte, dazu, die Volksboten heim-
zuschicken und das Volk unter dem Schlachtruf: Gegen
die Schwarzen und gegen die Roten! an die Ume zu
trommeln. Die Regierung kittete den famosen Block der
Konservativen und Liberalen, und die Ultramontanen und
Sozialdemokraten revanchierten sich mit der Verstandi-
gung zu einer Stichwahlversicherung auf Gegenseitigkeit
Die kaiserliche Regierung hatte geschickt gearbeitet, uud
so ergaben die Hauptwahlen einen starken Erfolg ihrer
Blocktruppen zum Schaden der Sozialdemokraten. Vor
der Stichwahl sah man nun in Miinchen Plakate an den
Tafeln kleben, auf denen etwa folgendes zu lesen war:
„Wir danken der aufopfernden Hilfe der Sozialdemo-
— 148 —
kraten in verschiedenen Wahlbezirken Bayerns mehr als
ein Dutzend Mandate. Zeigen wir uns erkenntlich! Treten
wir bei den Stichwahlen in Miinchen Mann fur Mann
fiir die sozialdemokratischen Kandidaten ein! Das Zen-
trums-Wahlkomitee." Dass zur rechten Zeit der Herr
Erzbischof eingrifF, die Parole des Komitees fur unkirch-
lich erklarte und damit die Wahl des liberalen Kandi-
daten in dem einen zweifelhaften Wahlkreis Miinchens
sicherte, ist in diesem Zusammenhange unbetrachtlich.
Die Kirche hat nie geheuchelt, dass sie andere Nutzlich-
keiten als solche fur sich selbst suche. Lehrreich aber ist
die Feststellung, dass eine grosse Anzahl von Reichs-
tags sitzen nur mit sozialdemokratischen Stimmen fur das
Zentrum gerettet werden konnte. — Nun besinne man
sich auf das Walten des letzten, jetzt verabschiedeter«
Reichstags. Seine bedeutsamste Tat war die Annahme
jener Steuergesetze, durch die die notwendigsten und
popularsten Bedarfsmittel in ganz massloser Weise ver-
teuert wurden, und die die Lebenshaltung der iiberwiegen-
den Mehrheit des deutschen Volks in beangstigendem
Masse verschlechterten. Diese Gesetze hatten ohne ein
starkes Zentrum nicht zustande kommen konnen. Das
starke Zentrum aber ware — nach eigenem Gestand-
nis — nicht vorhanden gewesen ohne die nachdruckliche
Unterstiitzung der Sozialdemokraten, die ihre Stimmen
bedingungslos den jetzt so gelasterten Volksfeinden zur
Verfugung gestellt hatten. Jede ungezwungene Logik wird
gestehen miissen, dass somit die unertragliche Belastung
des Volks durch die neuen Steuem auf die parteioffiziose
Leitung vieler tausender sozialdemokratischer Wahler zu-
ruckzufuhren ist. — Die zahnefletschende Wut der sozial-
demokratischen Agitation, wie sie jetzt gegen die Kleri-
kalen anknurrt, wird man also nicht allzu feierhch zu
nehmen brauchen. Vielleicht gehen die Roten das nachste
Mai mit den Blauen. Wundern soil man sich iiber gar
nichts.
— 149 —
Freilich sind die armen Sozi bei den Wahlen besonders
iibel daran. Sympathisch sind sie mit ihrer unproduk-
tiven Betulichkeit, mit ihrer anschmeisserischen Opposition
und ihrer phrasenschwulstigen Alleswisserei niemandem,
ausser den Kinderstuben-Politikern des „Berliner Tage-
blatts". Man lasst sich schliesslich, wenn das Geschaft
lohnend aussieht, von ihnen unter die Arme greifen. Nach-
her gibt man ihnen den Tritt. Wahrend sich aber die so-
eben derart emporgehobenen biirgerlichen Gegner von der
peinlichen Beriihrung den Rock abputzen, schreien die
Sozialdemokraten schon durchs Land, dass sie die Starken
seien, die auf die eigene Kraft angewiesen sind.
Nein, die Rolle, die die roten Herren im pohtischen
Leben spielen, ist nicht beneidenswert. In der Theorie
miissen sie immer noch so tun, als seien sie Sozialisten,
Revolutionare, denen die kapitalistische Gesellschaftsord-
nung ein Greuel ist, und deren Kampf ein konsequentes
Sturmlaufen gegen Monarchic, Heer, Kapital und jeg-
Uche Ungleichheit und Unfreiheit darstellt. In der Praxis
aber posaunen sie lauter als irgendwer andres das Recht
auf die Wahlstimme, das Recht, sich in der bescheidenen
Form, die (zumal der deutsche) Parlamentarismus er-
laubt, an der Verwaltung des so arg befehdeten Staats-
wesens zu beteiligen. In der Praxis gilt ihnen das allge-
meine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht als letztes
Ziel ihres revolutionaren Strebens, und sie merken nicht,
wie lacherlich sie selbst im Gesichtsfelde eines biirger-
lichen Betrachters aussehen, da sie heute als hochste Sehn-
sucht eine Forderung aufstellen, die unter den Forderun-
gen der nationalliberalen Revolutionare von 1843 die unter-
geordnete Komponente eines grossen Programms war.
Die Teilnahme am Parlamentarismus war nicht immer
der Inhalt aller sozialdemokratischer Aktion. Solange die
Partei sozialistisch fuhlte und in Wahrheit den Umsturz
wollte, lehnte sie die Wahlerei als Konzession an die
kapitalistischen Staatseinrichtungen ab. Im Jahre 1860
— 150 —
warnte Wilhelm Liebknecht eindringlich vor diesem Schritt
ins Lager der Feinde. Damals hob er auch die Konse-
quenzen hervor, die das Beharren auf den revolutionaren
Grundsatzen im parlamentarischen Leben zeitigen miisste.
Damals kiindigte er die Kompagnie Soldaten an,
die eine unbequeme Parlamentsmehrheit zum Tempel hin-
ausjagen wiirde: 40 Jahre, bevor Herr v. Oldenburg-
Januschau den Leutnant und die zehn Mann an die kahle
Wand des Reichstagssaales malte. — Marx und Engels
sprachen vom „parlamentarischen Kretinismus", und erst
1890 entschloss sich die Partei, die „Jungen", die immer
noch nicht unters Stimmjoch wollten, aus ihren Reihen zu
weisen.
Und gibt nicht die Entwicklung der Sozialdemokratie
in diesen 42 Jahren parlamentarischer Betriebsamkeit den
skeptischsten Befurchtungen recht? Was hat sie im Laufe
dieser langen Jahrzehnte Positives erreicht, was einer
Wandlung von kapitalistischem zu soziahstischem Gesell-
schaftsgefuge entfernt ahnlich sahe? Man muss beschamt
gestehen: garnichts.
Und fragt man weiter, was infolge der sozialdemokra-
tischen Parlamentstatigkeit auch nur innerhalb der gelten-
den Ordnung zugunsten des arbeitenden Volks Nennens-
wertes geschehen ist, so fallt die Antwort leider nicht
viel giinstiger aus. Die Herren selbst weisen ja bei so
unangenehmen Erinnerungen gewohnlich auf die herr-
liche Arbeiterschutzgesetzgebung hin. Aber es muss zu
ihrer Ehre gesagt werden, dass sie damals noch, als
diese Verhohnung des Arbeiter-Elends ans Licht des
Tages trat, dagegen stimmten, und wenn sie spater, in
heller Angst, bourgeoise Sympathieen zu verlieren, ihren
Standpunkt revidierten, so verrieten sie damit den letzten
Rest ihrer sozialistischen Gesinnung. Ich habe das im
Anschluss an Gustav Landauers ,Aufruf zum Sozialis-
mus" in diesen Blattern ausfuhrlich exphziert (vgl. „Kain"
Heft 3.)
— 151 —
In der positiven Arbeit hat also der ganze mit unge-
heurer Miihe, ungeheuren Kosten, ungeheurer Energie
und ungeheurer Ausdauer konstruierte Apparat der prole-
tarischen Parlamentspolitik versagt. Angeblich soil er sich
aber sehr bewahrt haben, wenn es gait, reaktionare
Beschliisse der iibrigen Parteien zu verhindern. Auch auf
diese Behauptung darf man vernehmlich fragen: Was habt
ihr verhindert? Wo habt ihr etwas verhindert? Wie habt
ihr es verhindert?
Die grosste Mandatzahl hatten die Sozialdemokraten
in der Legislaturperiode von 1903 — 1907. Sie verfugten
damals zeitweilig iiber mehr als achtzig Sitze. In jener
Zeit aber wurde Deutschland mit der Wiedereinfuhrung
hoher Schutzzolle begliickt, gegen die wiitende Opposition,
ja Obstruktion der 80 Revolutionare, die ubrigens ohne
Mitwirkung der Liberalen (damals: Liberale Vereinigung)
gamicht gewagt hatten zu obstruieren. Die Sozialdemo-
kraten haben es mit all ihrem Krakehl nicht zu verhindern
vermocht, dass Herr v. Tirpitz uns ein Flottengesetz
nach dem andern bescherte. Das biirgerliche Gesetzbuch,
das Vereinsgesetz, samtliche Kolonialgesetze mit all ihren
militarischen Folgerungen sind trotz ihres Widerspruchs
in ihrer Anwesenheit beschlossen worden.
Man rede nicht von den paar Gesetzentwiirfen, die
von der Regierung eingebracht und vom Reichstage ab-
gelehnt wurden. Die „Zuchthausvorlage", das „Umsturz-
gesetz" waren Totgeburten, weil die geschaftskundigen
Burger, die im Reichstage sitzen, viel zu intelligent sind,
um sich nach den Erfahrungen mit dem Sozialistengesetz
noch in solche Wespenneste zu setzen. Hatten die biirger-
lichen Mittelparteien diese Gesetze gewollt, dann hatten
die Sozi sich auf den Kopf stellen und mit den Beinen
strampeln konnen — sie hatten sie gekriegt.
Im Parlament geht es eben demokratisch zu: die
Mehrheit hat recht, die Minderheit hat unrecht. Die So-
zialdemokraten sollten die Letzten sein, die das beman-
— 152 —
gelten. Sie verkiinden ja dies Prinzip als uniibertreff-
liche Gerechtigkeit. Ihr ganzes Streben bei den Wahlen
selbst geht ja dahin, durch eine zuverlassige Geometrie
der Wahlkreise die absolute Majoritat wirklich auszu-
mitteln, um die Minderheit damit knebeln zu konnen. Ge-
wiss ist das Streben nach gleicher Wahlkreiseinteilung
berechtigt, wenn man iiberhaupt das parlamentarische
Prinzip will. Aber dieses parlamentarische Prinzip selbst,
scheint mir, ist eine Absurditat, ein Humbug, ein Prinzip
der Ungerechtigkeit.
Zunachst: die iibergrosse Mehrheit der Menschen
ist vom Wahlen eo ipso ausgeschlossen. Die gesamte
Halfte der Menschheit, die nicht Hosen sondern Rocke
tragt, gilt in unsern erfreulichen Zeitlauften als geistig
unterbegabt. Jeder Dorfkuster hat infolgedessen grossere
Rechte als etwa einer Madame Curie, einer Duse oder
Ebner-Eschenbach zugebilligt werden konnten. Es ist zu
dumm, als dass man es tragisch nehmen sollte. — Aber
gleichzeitig sind hunderttausend Soldaten, und alle die
vielen ausgeschlossen, die grade in Gefangnissen und
Zuchthausern sitzen, und sogar alle solche, die dem Staate
als Arme „zur Last fallen". Gewiss: hier mochten die
Sozialdemokraten manches andern (die Liberalen iibrigens
auch). Aber sie konnen es nicht andern, und anderten
sie es, so ware auch weiter nichts erreicht, als dass dem
Parlamentarismus eine Spur von dem sittlich Widerwarti-
gen genommen wiirde, das ihm anhaftet.
Die Ungerechtigkeit bleibt auch bei Zulassung der
Frauen, Soldaten, Armen und Gefangenen und selbst bei
Einfuhrung des konsequentesten Proportionalwahlsystems
bestehen, dass sich unter die Mehrheitsbeschliisse eines
Parlaments jede Minderheit zu beugen hat, die sich da-
durch vergewaltigt fuhlt. Die Ungerechtigkeit vor allem
ist unertraglich, dass von eine; Zentralstelle aus durch
Schacher und Kompromisse aller Art Gesetze ausgebrutet
werden, die zugleich fur alle Menschen eines grossen
— 153 —
Landes Geltung haben, deren Bediirfiiisse und Anspriiche
auf ganz verschiedenen geographischen und Charakter-
Grundlagen beruhen. Ein Parlament kann nur dann niitz-
lich wirken, wenn es ausschliesslich ein Institut zur Aus-
sprache und Verstandigung im Einzelfalle gleichmassig
interessierter Menschen wird, ein Institut also, zu dem
jede Meinung ihre Vertreter mit imperativem Mandat
entsenden und an dem jeder Einzelne auch personlich
mitwirken kann. Es ist klar, dass solche gemeinsamen
Interessen immer nur zwischen Menschen bestehen kon-
nen, die entweder durch eine sittliche Idee oder aber
durch praktische, sich aus raumlicher Narbarschaft er-
gebende Notwendigkeiten mit einander verbunden sind.
Entstaatlichung der Gesellschaft, Dezentralisation ist also
anzustreben, um einen Zustand zu erhalten, in dem die
Menschen Beratungen pflegen konnen, ohne einander
die Luft abzuschniiren zu brauchen.
Es mag noch ein Einwand erledigt werden, mit dem
man die Beteiligung am Parlamentarismus haufig ver-
teidigen hort. Das ist das Bediirfnis prominenter Person-
Uchkeiten, sich von Tribiinen mit weiter Akustik reden zu
horen. Nun zeigt aber ein Blick in die Sitzungssale deut-
scher Parlamente, dass die Redepulte dieser Anstalten
gemeinhin von alien eher als von iiberragenden Person-
Uchkeiten bestiegen werden. Das liegt zum einen Teil an
der Einflusslosigkeit des Parlaments auf die Geschicke
der Volker, zum andern Teil am Reintichkeitsbedurfnis
betrachtlicher Leute, die wissen, dass sie Einfluss nur
gewinnen konnen, wenn sie sowohl ihren Charakter wie
ihre Intelligenz zu Konzessionen bereit halten. In Wirk-
lichkeit ist aber auch garnicht einzusehen, wieso derm
ein Reichstagsabgeordneter etwa freier aus sich heraus-
reden konnte als ein Volksredner oder Publizist, der
ehrhche eigene Ansichten zu vertreten hat. Wer gehort
werden will, der wird sich auf die Dauer Gehor verschaf-
fen, und wenn selbst der willenlosen Menge von ihren
— 154 —
journalistischen Seelsorgern das dickste Totschweigewachs
in die Ohren getraufelt wird.
Das Wort aber, das ans Volk direkt gerichtet wird,
hat allemal starkere Wirkungen auf die Ereignisse als das,
das unter taktischen Verschnorkelungen auf dem Umweg
iiber Parlamentsstenogramme zu ihm gelangt. Denn
der Burger hat sich ja mit der Wahl eines Vertreters
der eigenen Aktionsbereitschaft begeben und verzichtet
von vornherein darauf, aus dem, was er aus dem Sitzungs-
saal vernimmt, andere Schliisse zu Ziehen, als solche,
die sich auf die Auswahl des in fiinf Jahren zu entsenden-
den Vertreters erstrecken. Der Appell ans Volk selbst
aber kann unmittelbares Eingreifen in die Geschichte eines
Landes bewirken. Noch ein Beispiel aus der Praxis der
Sozialdemokratie.
In den romanischen Landern hat man mit der An-
wendung umfassender Streikaktionen sehr gute Erfah-
rungen gemacht, wenn man damit politischen Unzutrag-
lichkeiten begegnen wollte. In Deutschland wurde dieses
Mittel der direkten Massenaktionen von den Anarchisten
und SyndikaUsten solange propagiert, bis es in Arbeiter-
kreisen Anklang fand und die sozialdemokratische Partei
sich um den peinhchen Gegenstand nicht langer herum-
driicken konnte. Vor einigen Jahren kam die Sache auf
einem Parteitage zur Sprache und man entschloss sich,
den politischen Massenstreik als Kampfmittel in das Waf-
fenarsenal der Arbeiterschaft einzustellen. Um aber nicht
den alten Aberglauben von der allein seligmachenden
Wahlerei zu erschiittern, erklarte man, der pohtische Mas-
senstreik solle nur angewandt werden, wenn es gelte,
ein gefahrdetes Wahlrecht zu verteidigen oder in Landem
mit unfreiem Wahlrecht ein freieres zu erzwingen. Man
gab also zu, dass das Volk selbst, wenn es Forderungen
durchsetzen wolle, die mit dem Parlamentarismus nicht
zu erzwingen sind, iiber das starkere Mitte! verfuge.
Man reservierte aber das starkere Mittel zu dem ein-
— 156 —
zigen Zweck, das schwachere Mittel zu schiitzen. Wie
konsequent die Herren Sozialdemokraten diesen Stand-
punkt wahren, beweist ihr Verhalten den Anregungen
gegeniiber, einer Kriegsgefahr mit dem Massenstreik zu
begegnen. Sie konnten sich dadurch — das haben sie
selbst zugegeben — ihre Position im parlamentarischen
Schachergeschaft erschweren.
Man iiberlege einmal: Wenn alle die unzahligen Mil-
lionen, die im Laufe von vier Jahrzehnten fur die Agita-
tion zu den Wahlen verausgabt wurden, benutzt waren,
um revolutionare Genossenschaften zu beleben, wenn alle
zum Stimmenfang verbrauchte Arbeitskraft in produk-
tiver Arbeit tatig gewesen ware, um den eigenen Unter-
halt unabhangig von der kapitalistischen Ausbeutung zu
beschaffen, wenn also alle Propaganda der Vorbereitung
des Volkes zur Uebernahme der Produktionsmittel in
eigene Regie gedient hatte — zweifelt jemand, dass unser
gesellschaftliches Sein ein sehr anderes, ein sehr viel er-
freulicheres Bild bote als heute? Aber die Masse wird
von ihren streberischen Fiihrern geflissentlich in Untatig-
keit gehalten. Ueberall wird ihr der Wille der „Vertre-
ter" aufoktroyiert, und mit dem Humbug der Wahlerei
wird ihr vorgespiegelt, dass sie selbst die Herrin ihrer
Geschicke sei.
Ob und wen alle diejenigen wahlen, die im Prinzip
mit der geltenden Staatsordnung einverstanden sind,
scheint mir sehr wenig belangvoll. Jedes Parlament, ob
seine Mehrheit links oder rechts vom Prasidenten sitzt,
ist seiner Natur nach konservativ. Derm es muss den
bestehenden Staat wollen — oder abtreten. Es kann
nichts beschliessen, was den Bestand der heutigen Ge-
sellschaft gefahrdet, also auch nichts, was denen, die
unter der geltenden Ordnung leiden, ntitzt Die Ent-
scheidung fur diesen oder fur jenen Kandidaten ist nicht
die Frage des Stichwahltages. Die Frage heisst: Soil
ich uberhaupt wahlen oder tue ich besser, zu Hause zu
— 156 —
bleiben? Ueberlege jeder, dass er mit jedem Schritte,
den er zum Wahllokal lenkt, sich offentlich zur Erhaltung
des kapitalistischen Staatssystems bekennt. Frage er sich
vorher, ob er das tun will. Wer aber denen glaubt, die
vorgeben, durch Ansammlung von moglichst vielen Stim-
men, mogen sie gehoren, wem sie wollen, die Fahigkeit
zu erlangen, in parlamentarischer Diskussion sozialisti-
sche Anspriiche zu ertrotzen, dem sei erklart: solche
Behauptung ist blanker Schwindel.
Bemerkungen.
Oaha. Frank Wedekinds „Oaha", das frilher schlicht „Schau-
spiel" hiess, ftihrt jetzt den Untertitel ,, Satire der Satire". Der
Ausdruck ist nicht besonders glucklich. Man wlinscht nicht, schon
in der Ueberschrift eines Werkes den Kommentar des Dichters zu
finden. Die auch sprachlich misslungene Wendung („Satire auf die
Satire" ware besser gewesen) wird aber als kulturhistorisches Zeugnis
zeitgenossischen Banausengeistes die Kummerlichkeit derer uberdauern,
die Wedekind zu der Konzession an den guten Geschmack der Polizei
genotigt haben. „Oaha" ist keineswegs, wie das Kausen) log, ein
„Bordellstuck", sondern es behandelt in sehr amusanter Weise die
Entthronung eines Witzblattverlegers durch seine Satiriker. Der
Dichter benutzt zum Teil gewisse allgemein bekannte Tatsachen,
die sich vor einigen Jahren in den Redaktionsraumen des bekanntesten,
scharfsten und klinstlerisch feinsten satirischen Blattes zutrugen. Nun
kann man der Ansicht sein, dass die tatsachlichen Unterlagen einer
Dichtung keinen Menschen etwas angehen (man lese, was Thomas
Mann in seiner ausgezeichneten Broschtire „Bilse und ich" ttber diesen
Gegenstand geschrieben hat). Die Munchener Polizei ist jedoch
nicht dieser Ansicht, Mit dem ihr eigenen Scharfsinn fand sie
heraus, dass mit den Personen des Wedekindschen Schauspiels be-
stimmte Personen gemeint sein mlissten, deren Namen mit jener
') Ich bin nach meinem Artikel „Der Kausen" von sehr vielen
Seiten darauf aufmerksam gemacht worden, dass der Herausgeber
der Zotenanthologie „Die allgemeine Rundschau" schon von dem
verstorbenen Begrtinder des „Bayerischen Vaterlands", Dr. Sigl,
konsequent „das Kausen" genannt wurde. Da durch den sachlichen
Artikel die Eigenschaft des Mannes als sittliche Einrichtung deutlicher
zur Geltung kommt, als durch den mannlichen, soil hier fortan die
Siglsche Tradition zu Ehren kommen. Dr. Armin Kausen und
Otto v. Erlbach (der Thamerus behauptete neulich eine besondere
Identitat zu haben) werden hier also von jetzt ab „das Kausen"
heissen.
— 167 —
satirischen Zeitschrift in Zusammenhang zu bringen sind, und da ihr
Scharfsinn !zu der Erkenntnis nicht ausreichte, dass die Figur in
einem Kunstwerk immer eine andere ist, als das lebendige Modell,
so erklarte sie „Oaha" fur ein „Schlusselstuck" und verbot es.
Die Mitarbeiter des aggressivsten deutschen Witzblattes, das die
Polizei schon oft sehr empfindlich geargert hat, und an dem sich
die Polizei durch zahllose Konfiskationen rachte, befinden sich jetzt
also in der peinlichen Lage, durchaus gegen ihren Willen von einer
betriebsamen Polizeibehorde gegen angebliche Verhohnungen beschutzt
zu werden. Die Henne, die aus Angst, es konnte ein Blitz drein-
schlagen, mit schirmenden Fittichen um einen Fuchsbau gackert:
dieses Bild bietet gegenwartig die von einem nachgerade berilchtig-
ten Zensurbeirat bediente Munchener Polizei.
Der liebe Zensurbeirat. Das ist eine verflucht gescheite Ein-
richtung. Lauter von der Polizei ausgesuchte Herren, die unter
absoluter Sicherung des Beichtgeheimnisses, dem Polizeiassessor (der
neuerdings Roth heisst) Winke geben, wie der Geist mit dem Sabel
bevormundet werden kann. Die Polizei war sehr sorgfaltig bei der
Auswahl der Herren. Sie hat daflir gesorgt, dass sie stets eine
Majoritat hat, mit der sich im Geiste der Weinstrasse arbeiten
lasst. Hat sie diese Majoritat aber einmal nicht, so hat sie sich
immerhin vorbehalten, auch selbstandig und unter Ausschaltung
des Zensurbeirats zu entscheiden. Ein paar freiheitlichere Renom-
mier-Zensoren hat sie sich weislich ebenfalls engagiert. Da kein
Mensch erfahrt, welches Urteil der Einzelne abgegeben hat, sieht
ein geachteter Name in der Liste der Zensurbeirate immer hubsch aus.
Einer von ihnen hat jetzt endlich der Polizei sein Ehrenamt
hingeschmissen: Dr. Max Halbe, dessen prinzipielle Abneigung gegen
Polizeieinmischungen in geistige Angelegenheiten schon lange bekannt
war. Er hat wohl eingesehen, dass in Gemeinschaft mit der Polizei
in freiheitlichem Sinne nicht zu wirken ist, und dass sein guter Name
nur als Aushangeschild fur die Loyalitat der Behorde dienen sollte.
Dass Halbes Beispiel bisher ohne Nachahmung geblieben ist, lasst
in die Psychen der iibrigen Zensurbeirate tief hineinblicken. Einer von
ihnen heisst Dr. Georg Kerschensteiner und ist Stadtschulrat und
Reichstagskandidat der liberalen Partei Munchens. In dem Wahl-
aufruf, in dem der liberale Herr so freundlich war, um meine Stimme
zu werben, versichert er, dass er sich der „sorgenvollen Erwagung"
nicht entziehe, „dass das Deutsche Reich als Weltmacht nur
kraftvoll und in eiserner Wehr zu Wasser und zu Lande seine . . .
Interessen als nationaler Machtfaktor wahren kann." Bravo, Herr
Dr. Kerschensteiner ! Das nenne ich mir ein liberates Mannes,
wort. Nun aber gestatten Sie mir, da ich ja doch wahlberechtigter
Anwohner Ihres Wahlkreises bin, die Anfrage: Erkennen Sie der
— 158 —
Polizei das Recht zu, dichterische Werke durch ihren Machtspruch der
offentlichen Wirkung zu entziehen ? Haben Sie als liberates Mit-
glied des Zensurbeirates jemals fur die Unterdrilckung eines Theater-
stlicks gestimmt ? Waren Sie fiir oder gegen die Zulassung der annoch
von der Zensur verbotenen Werke Frank Wedekinds ? Von welchen
Gesichtspunkten lassen Sie sich bei Ihrem Urteil ilber kunstlerische
Dinge leiten? Da Sie verklinden: Munchen soil eine liberate Stadt
sein und bleiben! werden Sie gewiss bereit sein, diese Fragen
in liberaler Weise zu beantworten. Der „Kain" stellt Ihren Darle-
gungen den Raum gern zur Verfiigung.
Die Speisung der Armen. Die Fursorge fiir die Armen und
Elenden, wie sie in unseren Zeiten zutage tritt, wird leider von denen,
fiir die sie geiibt wird, gar nicht genligend anerkannt. Der Hungernde
findet immer noch zum Amtsvorstand, der ihm eine Suppenmarke
gibt, fur den Frierenden sammelt man in Krippen die abgelegte Klei-
dung der Reicheren, und selbst den Obdachlosen nimmt mit Frau und
Kind ein staatlich unterhaltenes warmes Asyl auf. Zu Tausenden
hocken sie da beieinander und harren der Suppe, die ihnen am
Abend aufgetragen wird, und der Stunde, wo sie sich — hundert
Personen in einem Saal — zur Ruhe niederlegen dilrfen. Das Trau-
rige aber ist, dass diese Leute begehrlich sind und noch immer nicht
zufrieden mit all den Wohltaten, die ihnen erwiesen werden.
Nicht einmal sparsam sind sie. Haben sie wirklich ein paar erbettelte
oder gestohlene Kupferpfennige in der Tasche, so heben sie das
Geld nicht etwa auf, bis es genug ist, um damit zur Sparkasse zu
gehen. Nein, — sie kaufen sich daflir Schnaps, saufen sich daran
voll und wundern sich nachher, dass sie in Schmutz und Jammer
leben. Sogar an der guten Suppe haben sie nicht genug. Sie
wollen noch etwas Besonderes und uberfressen sich an allerlei Ess-
waren, die spekulative Geister in den Asylen feilhalten. Es ist
schon arg: alle Milne geben sich edeldenkende Menschen mit diesem
Gesindel — und zum Dank fur alle Aufopferung schlingen die
Leute fauliges und giftiges Zeug in sich hinein und krepieren
scharenweise, wie zur Verhohnung derer, die es gut mit ihnen
meinten. Die aber haben Boses mit Gutem vergolten. Sie haben
am Massengrabe der leichtfertigen Vergifteten nicht danach gefragt,
ob die Fleppe des Toten den Namen eines oft bestraften Diebes oder
Zuhalters aufwies; sie haben sich gesagt; im Tode sind alle Men-
schen gleich, und haben den Zylinder in der Hand gedreht und das
Bedauern der gesamten Oeffentlichkeit in die Falten ihrer Mienen
gelegt. Strafen und um ihrer Verkommenheit willen verabscheuen
kann man die Ueberlebenden. Den Eingegangenen tropft eine christ-
liche Trane nach.
In der Reichshauptstadt war man sehr eifrig, um festzustellen,
von welchem Gift das Weihnachtsmahl der Asylisten in der Frobel-
strasse gewilrzt war. Die Aerzte meinten, es milssten verfaulte Blick-
linge gewesen sein; die Polizei stellte fest, dass es statt Schnaps
Methylalkohol gegeben habe. Da die Aerzteschaft um der Un-
fehlbarkeit ihrer Wissenschaft willen, die Polizei wegen der Autoritat
nicht nachgeben konnte, einigte man sich dahin, dass sowohl ver.
— 159 —
faulte Bucklinge als auch Methylalkohol als Todesursache anzusehen
seien, und es wird dafilr gesorgt werden, dass allzu billige Speisen
und Getranke furderhin keinen Eingang mehr in die Herbergen der
Obdachlosen finden sollen. Denen, die bisher wahlen konnten, ob sie
an Hunger oder an Gift sterben wollen, soil die zweite Moglichkeit
fortan aus sozialen und hygienischen Grilnden verwehrt werden.
Die „Munchener Post", sozialdemokratisches Spezialorgan fur
Entlarvung nichtsozialdemokratischer Geschlechtlichkeit, besitzt die
bodenlose Unverfrorenheit, bei der vorgeschriebenen Beweinung der
Opfer der Frobelstrasse „die Aermsten und Elendesten" mit sozial-
gefilhltem Schmalz zu betraufeln. Seht doch die biederen Ratgeber
auf dem Kleinkapitalsmarkt ! Seht doch die sauberen Buchmacher
auf dem Rennplatz der Tarifmeierl Seht die Heuchler und Pharisaer!
Sie entdecken ihr frommes Herz — vierzehn Tage vor den Reichs-
tagswahlen. Wartet, Burschen! Ich mochte euerm Gedachtnis auf-
helfen, damit nicht ihr noch sonst jemand denke, euer menschen-
freundliches Gegreine sei Natur, damit vor alien die „Aermsten
uhd Elendesten", die ihr jetzt fur eure Parteiplane braucht, wissen,
was fur Freunde sie an euch haben.
Es ist etwas fiber ein Jahr her, da hielt der Reichstagsabge-
ordnete Dr. Ludwig Frank im Munchener Kindlkeller einen offent-
lichen Vortrag liber die politische Lage in Deutschland. Ich be-
schloss, in der Diskussion zu sprechen und schrieb an Herrn Dr.
Frank, den ich seit Jahren personlich kenne, einen Brief, in dem
ich ihn bat, er mochte dafur sorgen, dass ich diesesmal von dem
Recht der freien Meinungsausserung ungefahrdet Gebrauch machen
konnte. Ich hatte es namlich schon mehrfach er ebt, dass die demo-
kratischen Herren, wenn ich reden wollte, ihre folgsame Herde
unter den schamlosesten Verleumdungen auf mich gehetzt hatten,
und es gibt in Mlinchen Tausende Personen, die gesehen haben,
wie ich unter der Anstachelung durch die „Fuhrer" in sozialdemo-
kratischen Versammlungen tatlich insultiert wurde und buchstablich
in Lebensgefahr geriet. Warum? Weil ich es unternahm, mich vor
diesen „Sozialisten" fur die gleichen „Aermsten und Elendesten" ein-
zusetzen, die jetzt der treuen Fursorge und Sympathie der Mlin-
chener Post" versichert werden. In jener Frank-Versammlung gab der
Vorsitzende, der hier schon erwahnte Schuster Knieriem, das mit
der plumpsten Ehrlichkeit zu. Als ich mich namlich zum Wort ge-
meldet hatte — es war vorher erklart worden, dass nach alter
demokratischer Gepflogenheit jeder Gegner frei heraus sprechen
diirfe — verklindete der Herr: „Zum Wort gemeldet hat sich nur
der Ihnen ja sattsam bekannte Schriftsteller Muhsam. Das ist der
Hauptbeteiligte aus dem Sollerprozess. Ich glaube, in Ihrem Sinne
zu handeln, wenn ich einem solchen Menschen das Wort verweigere."
— Der „Sollerprozess" war gegen mich und einige meiner Freunde
gefiihrt worden, weil wir uns der Gaste, die in der Munchener
Elenden-Kneipe, dem „Soller", verkehrten, angenommen hatten und
bemtiht waren, ihnen durch Zufiihrung sozialistischer Ideen ihr
klagliches Los ertraglicher zu machen. Wir wurden von den burger-
lichen Richtern, die fiber uns judizierten, freigesprochen, die Mun-
chener Sozialdemokraten aber erkannten uns wegen der Beteiligung
an diesem politischen Prozess die politischen Ehrenrechte ab, und
— 160 —
Herr Abgeordneter Dr. Frank, seit langen Jahren mein personlicher
Bekannter, horte das mit an und schien einverstanden.
Die „Munchener Post" ist nur eine bescheidene Beule am
Pestkorper der sozialdemokratischen Partei. Sie hat aber den Vorzug,
ofter als irgend ein anderes Geschwiir ihre heuchlerische Ver-
logenheit zu demonstrieren. — Die „Aermsten und Elendesten" haben
den Eiter schon wiederholt fliessen sehen. Sie halten ihn schon
lange nicht mehr fur Tranen der Nachstenliebe. Sie spucken aus
und gehen ihrer Wege.
Der Lustmorder. Der Zimmermaler Anton Speckner ist in
Bayerischzell verhaftet worden und hat eingestanden, die elfjahrige
Frieda Pracher im sexuellen Rausch umgebracht zu haben. Er will
der Kleinen, um sie am Schreien zu verhindern, den Mund zugehalten
haben, wobei sie erstickt sei. In der Tat wurde ja als Todes-
ursache Erstickung festgestellt. Es handelt sich also strafrechtlich,
wie es scheint, um Verfiihrung eines Kindes in idealer Konkur-
renz mit fahrlassiger Totung. Das sei in aller Niichternheit vermerkt,
ehe das Rachegezeter der Presse gegen den „Lustm6rder" diejenigen
suggeriert, die als Geschworene ttber Speckner zu Gericht zu sitzen
haben.
Man beruhige sich. Ich finde die Tat des Mannes keineswegs
schon. Ich will diese Tat auch nicht verteidigen, wohl aber den Mann,
der sie beging. Speckner hatte vor wenigen Wochen das Zucht-
haus verlassen, in dem er vier Jahre zugebracht hat. Er ist 25 Jahre
alt. Manniglich weiss, dass der Strafvollzug in Gefangnissen und
Zuchthausern ganzliche Geschlechtsenthaltsamkeit in sich schliesst.
Speckner war also vom 21ten bis zum 25ten Lebensjahr zwangsweise
Von jedem Verkehr mit Frauen abgesperrt. Dass eine derartige
Tortur die Geschlechtsnerven in furchterlicher Weise martern muss,
liegt auf der Hand, und es ist sehr begreiflich, dass ein nach langer
Zeit aus der Gefangenschaft befreiter Mensch hemmungs- und willenlos
seinen entfesselten Trieben folgt. Es sei dem Verteidiger des ungllick-
lichen Morders dringend nahe .gelegt, den Geschworenen aufzu-
zeigen, wie leicht die Sittlichkeit, die in den Gefangnissen die
Naturbedilrfnisse der Menschen hungern lasst, allein verantwortlich
wird fur kriminelle Unsittlichkeiten. Die Verweigerung der Ge-
schlechtsbetatigung in den Strafanstalten gehort zu den brutalsten
Begleiterscheinungen des herrschenden Systems. Anton Speckner
ist ein Opfer dieser unsinnigen Grausamkeit. Er ist unseres Mit-
leids nicht weniger wert als die arme kleine Frieda Pracher.
Wegen Raummangel musste das Tagebuch aus dem Gefangnis auch
in dieser Nummer ausfallen.
Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9.
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Miinchen, Baaderstr. la. Tel. 2355
Notizen.
Ich werde um Abdruck folgender Mitteilung ersucht:
Ein Fachschriftsteller-Kongress findet am 17. und 18. Mai in
Berlin statt. Derselbe wird von dem soeben gegriindeten Fach-
schriftsteller-Verbande veranstaltet. Mitgliederverzeichnisse, Bedingun-
gen usw. versendet der Allgemeine Schriftstellerverein, Berlin W.
Goltzstr. 23, unentgeltlich.
Der „Kain" wird in Zukunft nicht mehr an einem bestimmten
Tage erscheinen, da es dem Herausgeber lieber ist, seine Zeit nach
Stimmung und Bequemlichkeit einzurichten. Da.s Blatt soil nach Mog-
lichkeit in der ersten Halite jedes Monats fertiggestellt werden.
Die Abonnenten werden aber gebeten, bei kurzen Verzogerungen
nicht ungeduldig zu werden. E. M.
Pregrelationsbureau „ftanfa"
Ulcpb. Him mojbtr tin Berlin NW t*3 ♦ tiolftetner Ufrr 7 -«•
Jnli.: J mi 111. Kr.uifr
iiffrrt allt Ilaainrtltcn uber
Kunft, literatur, roiffenftSaft
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Hkademird) und litrranfrti gebildete lebtorm.
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Dft KtdtCt* ecdt(6te. 1909. m. 2.-
DlC IiOd)ft3plCr* mwpiei. 1906. m.2.-
Zu btEictjcn durd) icilc Budtjfcandlung unci den
KdiivUcritig, niundifn, BaadcrfttaBe la.
Bitte hier abzutrennen.
Unterzeichneter abonniert hiermit auf die Zeitschrift
„KAIN", Jahrgang 1911/12. (Kain-Verlag Miinchen, Baader-
strasse la.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark.
Betrag wird gleichzeitig eingesandt.*)
Soil durch Nachnahme erhoben werden.*)
Genaue Adresse:
Name:
fc ) Nicht gewtlnschtes bitte zu durchstreichen.
Jahrgang I. No u Februar 1912
KAlN
Zeit/chriftfur
hen/chd'chM
Hemuigeber;
(rich Huh fm
Inhalt : Fasching-. — Tagebuch aus dem Gefangnis. — Miinchner
Theater. — Bemerkungen. — Georg Heym. — Vom politischen
Kasperltheater. — Abel. — Mlinchen-Schilda.
Kain-Verlag Munchen.
30 Pfg.
Wiederholt machen wir auf den im Kain-
V e r 1 a g erschienenen
Kain-Kalender
:: fur das Jahr 1912 ::
herausgegeben von ERICH MUHSAM
aufmerksam.
Die in Wien erscheinende Zeitschrift „Wohl-
stand filr Alle" schreibt: Ein wunderhiibsches
Neujahrsgeschenk bereitet uns der Dichter, unser
Kamerad Miihsam, mit diesem Kalender eines
Geachteten, der das Kainszeichen einer freien,
edlen Gesinnung tragt.
Der Gediegene Inhalt umfasst ein Kalen-
darium, Aufsatze und Gedichte iiber Tolstois
Tod, Anarchie, Schwiile Nacht, Die Freivermahl-
ten, Fleischeslust, Thekla, Volksfestspiele, Ver-
such einer Reformation der Sprichworter, Gol-
gatha, Carmen; mit dem schneidenden Gedicht
„Im Bruch" findet das reichhaltige Biichlein sein
Ende,
Ein Bildnis des Dichters schmiickt das Band-
chen und macht es dadurch vielen Geistesfreun-
den seiner Poesie umso wertvoller.
Der Preis von K 1.20 (M 1. — ) ist so gering!
fur den poetischen Inhalt und die gediegene
Ausstattung des Werkchens, dass wir dessen An-
schaffung alien Kampfern fur freie Geisteskul-
tur warmstens empfehlen konnen.
Jahrgang I Miinchen,
No. 11. Februar 1912.
KAIN
Zeitschrift fLir Menschlichkeit.
Herausgeber: Erich Miihsam.
+ + ■ , , ;«. I -,!■■-» .-.*. ■» . i "I . i.-, ■ . . . ■ ... ... . I . , , . .- .._...!., ,..,,» I ,
„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt
fiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne-
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag",
Miinchen, Baaderstrasse la
Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber.
Mitarbeiter dankend verbeten.
»^.<"r. t..» ^"»..»*,.ii.i~frTTlv^.i»iti*..i<.iT*i¥. 1 c.ryi^r'.»..«^^^^
Fasching.
Die Menschen sind die merkwiirdigsten Leute unter
der Sonne. Sie turnen in ungeheurer Geschaftigkeit um-
einander her, weil einer dem andern das bischen Futter
nicht gonnt, und weil jeder glaubt, sein Lebensgliick
hange davon ab, ob er das Sechsfache statt nur das Dop-
pelte von dem besitzt, was er zum Dasein braucht. Man
drangt und schubst sich ja nicht, urn einen Platz am
gewaltigen Futtemapf der Natur zu erwischen — Mal-
thusianer gibt es seit langer Zeit nur noch unter den
Professoren der zunftigen Nationalokonomie und in den
Redaktionen Uberaler Borsenblatter — , derm wenn man
nur in friedlicher Ordnung herantrate, konnten alle weit
mehr als sie begehren aus dem Vorrat bekommen, nein:
ein Kliingel Begnadeter mit robustem Stammbaum tanzt
wie besessen um den Futtemapf herum, stosst sich mit
den Ellenbogen gegenseitig in die Rippen und schleudert
Fauste und Fiisse jedem gegen den Leib, der auch fur sich
und seine Kinder etwas abhaben mochte. Wollte eine gesit-
tete und in vemunftiger Gemeinschaft wirkende Gesell-
schaft eine groteske Karnevalsmaskerade auffuhren, sie
— 162 —
brauchte nur einen Staat mit den Ausdrucksformen peiner
Klasseneinteilung in verstandlichen Symbolen darzustellen.
Die Bewohner Utopiens wiirden sich schieflachen.
Dass es Gegenwart gibt, dass der Tag und die
Stunde ein Recht auf Frohlichkeit, Unbesorgtheit, Ver-
sunkenheit hat, haben die Meisten in der rasenden Bal-
gerei um ein Phantom, das ihnen zukunftiges Heil scheint,
vergessen. Sie wollen sammeln und haufen, und was
sie sammeln und haufen sind diirftige Tagewerte, sind
Papiere, Geld, Besitztum, die ein Brand, ein Erdbeben,
ein Krieg, eine Revolution von heute auf morgen zer-
storen konnen. An die Verwertung seiner Schatze zur
eigenen Freude denkt keiner mehr, keiner schiirft auch
nur zusammen, um die Macht, die der Besitz verleiht, von
Person zu Person auszuiiben, — das Raffen und Tiirmen,
das Spekulieren und Hasten ist Selbstzweck geworden,
und die Menschen wiiten gegeneinander in einem blin-
den Taumel, in dem keiner mehr sich auf sich selbst
besinnt.
AUes Personliche, Eigene, Individuelle erstickt im
Qualm triiber Geschaftserwagungen, jedes besondere Be-
durfnis nach wesensadaquater Betatigung, nach Beto-
nung singularer Eigenschaften wird unter der Zwangs-
vorstellung praktischer Notwendigkeiten erwiirgt, und der
Verkehr der Menschen untereinander, ihre Verstandigung
und GeselUgkeit wird in einem Masse diszipliniert, para-
graphiert und uniformiert, dass keine Unterscheidung des
Sinns und der Art mehr moglich bleibt.
Ein Hexensabbath der Unvernunft, ein satanischer
Fasching abstruser Verworrenheit — das ist die Zivili-
sation der Gegenwart, und am Satanischsten, weil jeder
sich miiht, die gleiche Maske zu tragen, wie der Nachbar,
sein manisches Irresein depressiv scheinen zu lassen, und
weil deshalb die Tollheit und der Wahn nicht einmal
bunt und aufgeregt aussieht, sondern trostlos eintonig
und langweilig.
— 163 —
En einziges Mai im Jahre nur, wenige kurze Wochen
hindurch, kommen die Menschen da, wo sich noch etwas
vorlutherischer Geist erhalten hat, zur Besinnung und
Freude. Es ist, als ob im Karneval die Einsicht uber
sie kame, dass all ihr alltagliches Gehaben grauenvoll
alberner Mummenschanz ist, und als ob das verschiittete
Gefuhl der selbstandigen Wesenheit jedes Einzelnen ein-
mal wenigstens sich emporwiihlen miisse, um tief Atem
zu holen und dann wieder, am Aschermittwoch, zuriick-
zusinken in den Alpdruckschlaf der unwahrscheinhchen
Wirklichkeit.
Dieselben Leute, die sonst nicht weit genug abriicken
konnen von denen, die in Kleidung, Haartracht oder Be-
nehmen von den ubUchen Konventionen abweichen, oder
sich gar zu einer Weltanschauung bekennen, die von
den. demokratischen Vorschriften im Kem unterschieden
ist, — diese selben Leute kleiden sich plotzlich in bunte
Lappen, putzen sich so originell zurecht wie es ihnen
nur moglich ist, und bewegen sich ungezwungen, lebendig,
herzlich unter den gleichfalls verkleideten Nebenmenschen.
Sie empfinden mit einem Male, dass sie, je singularer ihre
Erscheinung in der Menge wirkt, den iibrigen Larven
umso enger verbunden sind, und sie linden die ihnen
im gewohnlichen Leben ganz fremde Freiheit, iibermiitig
zu sein, die Zwangsformen der Geschaftlichkeit beiseite
zu schieben und offentlich vor aller Augen menschliche
Regungen einzugestehen.
Die Behorden selbst miissen die uberall aufgepflanzten
Verbotspfahle zuriickstecken, um der Ausgelassenheit
freiere Bahn zu schaffen, und wo sie es nicht tun, wo
verknocherter Beamteneifer mit Polizeistunden und Sitt-
lichkeitsverordnungen auch noch im Getriebe der Fa-
scWngsfrohlichkeit herumfuhrwerkt, da hort man von den
bravsten Burgern kraftige Verwiinschungen und erfri-
schende Bekenntnisse zu anarchischen Lebensformen. Sie
vergessen, dass sie das ganze Jahr vor dem Fasching die
— 164 —
Beaufsichtigung durch den Schutzmann selbst gewiinscht
haben, dass sie sie das ganze Jahr nach dem Fasching
wieder wiinschen werden, und dass sie willig Steuern
gezahlt haben fur die Besoldung der Niichternheit, die,
verkorpert in Paragraphendrechslern, die vielleicht selbst
ganz gern mit den andern trinken, tanzen und kiissen
mochten, auch in dem kurzen Zeitraum der pflichtent-
bundenen Freude mechanisch weiterfunktioniert.
Es ist verzweifelt schade, dass von dem Geiste des
Karnevals, der recht eigentlich der Geist der Rebellion
ist, so gar keine Spur tiber den Faschingdienstag hinaus
gerettet werden kann. Nachher wird die Rechnerei und
Schacherei und all das verriickte Getue wieder losgehen.
Aber dass es iiberhaupt eine Zeit gibt, in der die Ver-
nunft der Lust starker ist als der Unverstand der Pein, das
ist Grand genug fur den, der neue Unterlagen einer
menschlichen Gemeinschaft sucht, begliickt zu sein und
mitzutun. Nichtig ist alles Leben, und eitel sind seine
Freuden, sagen die Kirchenvater. Schon, aber trotzdem
und gerade darum lasst uns ja! sagen zu diesen Freuden
und zu aller Farbe und zu aller Glut!
Demaskiert euer bes seres Selbst, indem ihr euch in
Masken und Narrenkleider hiillt! Seid keine moralischen
Asketen, sondem unbefangene Geniesser! Knausert nicht
mit eurem Geld, sondem schmeisst einmal mit vollen
Handen hinaus von dem, was iibrig ist! — Friih genug
miisst ihr die Larven von den Gesichtem nehmen und
wieder vor euere Seelen binden. Fin ganzes JahrAscher-
mittwoch steht wieder vor der Tiir, da werdet ihr weisen
Harlekine wieder stumpfe Burger, und unter der Musik
misstonigen Maschinengerassels beginnt von neuem die
Trauermaskerade des Alltags.
— 165 —
Tagebuch aus dem Gefangnis.
(Fortsetzung.)
Ich zog auch mein Geschirr aus dem „Leibstuhl", wobei ich
wahrnahm, dass bei dieser Einrichtung alles so sinnreich ineinanderge-
fllgt war, dass man nicht nur bequem den Deckel oben durch das Sitz-
loch heben, sondern auch unten das Gefass mitsamt dem Deckel
unter dem Sitzbrett wegziehen konnte, was zwei Knopfe an den
Seiten des Troges sehr erleichterten. Ich folgte also mit meinem
Kiibel den Schritten der ubrigen. Gleich um die Ecke herum war
das Ziel, ein grosser Raum, nicht unahnlich einer Waschkuche, nur
dass an Stelle des Herdes, auf dem die Waschfrauen ihr heisses
Laugenwasser praparieren, ein gewaltiger Lokus stand, eine „latrina",
ebenso umfanglich und ebenso nur zum Sichdraufstellen geeignet,
wie die in Italien ublichen derartigen Anstalten. In den offenen
Rachen dieser Baulichkeit goss einer nach dem andern das. was
aus den ewigen Suppen, die hier als Nahrung dienen, geworden war.
Der entleerte Steintopf wurde alsdann in das riesige schwarzliche
Bassin einer Wasserleitung gestellt und mit einer schmierigen Kloset-
bttrste unter dem Strom des nach alien Seiten spritzenden Leitungs-
wassers von den Resten, die an seine Bestimmung gemahnten, ge-
saubert. Ich unterzog mich der Aufgabe dieser Reinigung mutig und
gefasst, war aber doch froh, als alles wieder an Ort und Stelle stand.
Die Waschschussel, als deren Gestell der Klapptisch hatte dienen
milssen, und den Trinkbecher, aus dem ich mir den Mund gesplilt
hatte, goss ich gleich rechts neben meiner Zelle in eine Wasserleitung
aus, wie ich es von den andern sah, und versaumte nicht, mir bei
dieser Gelegenheit noch einmal grundlich die Hande zu waschen.
Aber ich beging den Fehler, auch den steifgewordenen Rest meiner
Kartoffelsuppe in die Wasserleitung zu giessen, was das Ablaufen
des Wassers sehr erschwerte. Ein junger Gefangener, der meine
Nachbarzelle bewohnte und wegen Unterschlagung seiner Aburteilung
entgegensieht, orientierte mich daruber, dass man Speisereste ins
Nachtgeschirr giesse, was ich dankend zur Kenntnis nahm. — Als
ich kaum wieder eingeschlossen war, ging die Tiir von neuem auf:
„Essnapf"! Wieder standen die zwei Straflinge da mit einem grossen
Kiibel weissen Kaffees. Ich zog vor, ihnen nur den Trinkbecher
hinzuhalten, einmal, weil ich dem Getrank Misstrauen entgegen-
brachte, dann auch, weil ich der Sorgfalt nicht traute, mit der ich
den Essnapf von der Kartoffelsuppe gereinigt hatte. Wieder erhielt
ich eine Riesenportion Brot. Weisser Kaffee ist mir ein Greuel, zum
Teil schon deswegen, weil ich immer Haut darin befurchte, die mir
Brechreiz erregt. Der Kaffee war nach eingehender Prufung zuver-
— 166 —
lassig hautfrei, auch dampfte er angenehm, und ich bekam ihn, ganz
wie am Tage vorher im Polizeigefangnis, ohne Widerwillen hin-
unter.
Nach dem Fruhstuck war ich wieder meinen Gedanken und
mir selbst ilberlassen. Was jetzt ? Die Erlaubnis zu lesen und zu
schreiben hatte ich, aber keine Bticher ausser dem Testament und
der Verhaltungsvorschrift und weder Papier noch Bleistift, weder Tinte
noch Feder. Was ist ein Dichter ohne Schreibmaterial ? Ein photo-
graphischer Apparat ohne Linse, ein Revolver ohne Patronen, ein
Liebhaber ohne Madchen. Ich klopfte energisch an die Tur. Der
Aufseher fragte nach meinem Begehr. „Bitte holen Sie mir doch
von meinen Sachen Papier und Bleistift herauf." — „Vor der Kirche
kann ich Ihnen nichts besorgen." Bums — die Tilr war wieder im
Schloss. Ich nahm mir also die Bibel vor und begann die Apostel-
geschichte zu lesen. Immerhin keine schlechte Lektiire, und in
meiner Situation nicht ohne interessante Parallelen. Lauter Manner,
die ihrer Ueberzeugung lebten und fur sie litten, und als Gegen-
spieler die aufs Wort versessenen Konservativen, die sie verfolgten
und einsperrten und vor nichts grossere Angst hatten als vor dem
Wirksamwerden neuer Ideen, dem Lebengewinnen neuer Einsichten.
Wahrend ich las, ertonte plotzlich Gesang. „Ein' feste Burg ist
unser Gott", von einem kraftigen Chor von Mannern und Trauen
einstimmig gesungen. Auf mich macht kein Gesang grosseren Ein-
druck, als der, der auf alle Hilfsmittel wie zweite und dritte Stimme,
auf die sorgfaltige Scheidung zwischen Bass, Bariton, Tenor, Alt
und Sopran verzichtet, und der einfach durch die schlichte Melodie
wirkt, die aus hundert ganz verschiedenen Kehlen stromt. Mag
ruhig mal ein besonders Begeisterter alle ubersingend im Ton
vorbeihauen, — ich glaube nicht, dass der „musikalisch Gebildete",
dem erst kontrapunktische Finessen einen Ohrengenuss ermoglichen,
wirklich feiner benervt sei als ich, dem, wenn Landschaft, Menschen,
Gefiihle und Beschaftigung nur einheitlich zusammenstimmen, schon
eine Handharmonika die Tranen in die Augen treiben kann. — Ich
horte das prachtvolle Luthersche Lied mit grosser Freude an und
folgte aufmerksam einer inbrunstigen Sopranstimme, die immer wieder
leidenschaftlich und suss liber den ganzen Chor hinausdrang. Ich
hatte etwas drum geben mogen, um die Frau zu sehen, die so sang.
Aber sie stand zwei Stockwerke unter mir in der grossen Halle,
wo das rote Heizungsrohr wie eine dicke Raupe an der Wand ent-
lang kroch, — und ich war eingesperrt. Ich glaube, dass sie sehr
schon war.
Aber kaum war der Choral verklungen, als die schrecklich
geschraubte, saccharinsiisse Stimme eines Predigers in den hallenden
Raum gellte. Auf das, was er sagte, mochte ich nicht hinhoren,
— 167 —
nur manchmal drang ein Wort an mein Ohr, etwa „Gott", — und
der Mann brachte es fertig, selbst in dies starke harte Wort noch
einen f-Laut hineinzuhauchen, wahrscheinlich, um damit die Milde
und Giite dessen zu bezeichnen, als dessen Stellvertreter er im
Charlottenburger Gerichtsgefangnis engagiert war. Ware ich an
seinen Platz gestellt gewesen, ich hatte doch gerade diesem Audi-
torium Gott lieber als die kalte Faust der rachenden Gewalt ge-
schildert, die den Sundern eben im Nacken sass. Aber sie,
die nicht herauskonnen aus ihrer Gefangenschaft, die bei jedem
Atemzug die Luft einatmen, die von der Geissei schwingt, mit der
sich armselige Machthaber auf Gottes Gerechtigkeit berufen, sie
mussten an diesem Ort das Salbol des Friedens- und Liebespredigers
in ihre geketteten Seelen triefen lassen, der wahrscheinlich mit aus-
gebreiteten Armen unter der pedantischen runden Uhr stand mit der
Aufschrift: „Normafzeit der Sternwarte". — Ich vertiefte mich
wieder in die Apostelgeschichte, und wenn die sanften Laute des
Nachfolgers dieser wundervollen Menschen in dem Buche in meine
Zelle drangen, dann dachte ich verwundert dartiber nach, was politische
Geister aus reiner schonen Idealen machen konnen, und wurde um
Sozialismus und Anarchismus ehrlich besorgt.
Die Andacht ging zu Ende, und kurz nachher brachte mir der
Warter ein Buch aus der Gefangnis-Bibliothek. Ich beschwor ihn,
mir Papier und Bleistift zu bringen. Dann sah ich mir die Lekture
an: „Wie Heinrich von Eichenfels zur Erkenntnis Gottes kam. Das
Weihnachtslied. Die Ostereier. Drei Erzahlungen fur die Jugend
von Christoph von Schmid". — Ich kam mir wirklich wie der
Teufel vor, den die Not zum Fliegenfressen bewegt. Ich tauschte
also die Apostelgeschichte, die ich ja schon einigermassen kenne,
gegen die frommen Geschichten des wlirdigen Herrn vor Schmid
um, und las geduldig und immerhin amilsiert, wie hochst wunder-
bar der kleine Heinrich von Eichenfels von bosen Raubern ent-
flihrt wird und ohne jemals das Sonnenlicht zu sehen zu kriegen,
bis zu seinem achten Jahre in einer Hohle aufwachst, dann zufallig
ins Freie gerat, natlirlich zu einem Einsiedler kommt, der ihm
alle Fragen, wer die schonen Blumen, das Wasser, die grosse
Lampe am Himmel und was noch alles gemacht hat, zufrieden-
stellend beantwortet, und ihn mit Zuhilfenahme etlicher Zufallig-
keiten und wunderbarer Begegnungen in die Arme der ubergluck-
lichen Eltern zurlickfiihrt; die bosen Rauber aber werden von
Papa Eichenfels blutig gestraft. Diese Caspar Hauser-Geschichte
ist gar nicht ungeschickt erzahlt. Wenn ich mir aber vorstelle,
dass solche Naivetaten — und erst die Geschichte vom Weih-
nachtslied, darin es der frommen Begegnungen und Wunder gar
kein Ende nimmt — den erwachsenen Menschen im Gefangnis
— 168 —
vorgesetzt werden, um sie damit zu erbauen und zur rechten Ueber-
zeugung van Gottes Barmherzigkeit und Allmachtigkeit zu brin-
gen, dann emport sich etwas in mir, — dann ist's mir, als dekou-
vriere sich hier etwas im letzten Grunde Erbarmliches und Ver-
logenes. — Von der Ostereier-Begebenheit brauchte ich zum Gllick
keine Kenntnis mehr zu nehmen, sintemalen mir im Laufe des
Nachmittags Gelegenheit zu erfreulicherer Beschaftigung ward.
Fortsetzung folgt.
Munchner Theater.
Mehrere Monate hindurch habe ich notgedrungen darauf ver
ziehten mtissen, meinen Lesern ttber die Kultur-Bemuhungen der
Miinchener Blihnen zu berichten. Der Versuch, auch nur die wesent-
lichen Theaterereignisse nachtraglich in gedrangter Form, aber doch
so instruktiv zu behandeln, dass ein sichtbareres Bild entstehe, als es
die „Kritiken" der Miinchener Tagespresse bieten, wilrde mich den
Raum eines ganzen „Kain"-Heftes kosten. So mag man es hin
nehmen, dass ich ein paar Worte nur ilber Regisseure und Schau-
spieler sage, wobei ich zur Illustration mich ausschliesslich auf ihre
Wirksamkeit in den allerletzten Darbietungen beschranke.
An meinem im ersten Hefte dieser Zeitschrift ausgesprochenen
Urteil, dass die Miinchener Theaterkunst, im Ganzen betrachtet, hinter
den Anforderungen eines kultivierten Geschmacks sehr erheblich
zuriickbleibt, finde ich leider immer noch wenig zu andern, und
der Wunsch, es mochte hier eines Tages ein grosses, modernes
Theater entstehen unter einheitlicher, fahiger Leitung, mit literarisch
moglichem Repertoire und erlesenen schauspielerischen Kraften ist
nicht eine weltfremde Caprice meiner privaten Sehnsucht, sondern
wird von vielen, die nach jedem Theaterbesuch ttble Laune zeigen
inbrlinstig geteilt.
Gegen das Repertoire der grossen Blihnen sind noch am
wenigsten Einwande zu erheben. Es ist auch misslich, einem Theater-
direktor, der das berechtigte Verlangen hat, mit seiner Tatigkeit
Geld zu verdienen, aus der Idealisten-Perspektive raten zu wollen
was er spielen lassen soil. Er muss ja wissen, was sein Publikum
verlangt. Deshalb mag hier iiber die Kunstbeflissenheit des Volks-
theaters etwa mit der resignierten Anerkennung hinweggegangen wer
den, dass das Parkett dieser Anstalt wahrscheinlich das unbezahm-
bare Verlangen nach minderwertigen Volksstiicken im Busen tragt
Auch die Operette am Gartnerplatz interessiert nicht. Sie ist in
ihren Auffiihrungen genau so schlecht wie die unsaglichen Operetten
der Wiener und der Budapester Autoren es gebieten. Und schliess-
— 169 —
lich braucht man auch dariiber nicht zu verzweifeln, dass am Schau-
spielhause und am Residenztheater zwischen wertvollen oder minde-
stens anspruchsvollen Stucken immer wieder abgedroschene Possen
auf dem Spielplan erscheinen. Das Publikum wird es wohl ver-
langen.
Das einzige Theater, das sich nachhaltig bestrebt zeigt, anstan-
diges Niveau in der Auswahl seiner Stlicke zu halten, ist das Lust-
spielhaus. Ich habe dies Theater bei meinem ersten Ueberblick
recht ilbel behandelt. Das tut mir garnicht leid. Das Etablissement
fuhrte sich schlimm genug ein, und den Fanfaren der Zeitungs-
referenten, deren Urteilsunfahigkeit an jedem besseren Kneiptiscn
ein beliebter Unterhaltungsstoff ist, war der Dampfer dringend notig.
Die Herren (und die Dame) haben sich allmahlich beruhigt, sie
haben die Leistungen des Lustspielhauses nach und nach in das
nlichterne Ragout hineingepantscht, aus dem sie das Milnchener
Publikum mit ihren vorsichtigen, nachsichtigen und kurzsichtigen
Meinungen flittern, und jetzt scheint es mir Zeit zu dem Bekenntnis,
dass mir das Theater im ungekehrten Verhaltnis zum Ausklingen der
journalistischen Trompetenstosse von Monat zu Monat klinstlerischer
und lobenswerter geworden scheint.
Herr Dr. Robert hat im Laufe des letzten Jahres sehr viel ge-
lernt, vor allem: anstandige Regiefuhrung. Erweckte frliher jede Vor-
stellung den Anschein, als ob die Schauspieler mit den Kenntnissen
der ersten Leseprobe auf die Szene losgelassen waren, so erlebt
man jetzt in immer steigendem Masse die Freude, ein wechsel-
seitiges Eingehen auf die Art des andern und somit ein gluckliches
Zusammenspielen zu beobachten. Auch ist es dem Direktor gelungen,
die hilflosen Debtitanten, die anfangs jedes Dichterwerk zerfetzten,
durch erprobte und teilweise recht gute Schauspieler zu ersetzen,
sodass oft saubere Auffiihrungen entstehen, die man im Einzelnen
wohl scharf kritisieren kann, die aber niemals mehr im Ganzen den
Eindruck absoluter Trostlosigkeit hinterlassen.
Aus dem ersten Ensemble ist Frau Ida Roland dem Theater
treu geblieben. Die grosse Begabung dieser Schauspielerin und
die grossen Moglichkeiten ihrer Ausdruckskunst bedlirfen keines
neuen Kommentars. Sie ist nicht besser geworden als ehedem,
aber wirksamer, weil sie inziwschen bessere Partner fand. Was ich
an Frau Roland heute wie friiher aussetze, ist ihre zu grosse Routi-
niertheit, die in ihr die gefahrliche Neigung starkt, ins Publikum
hineinzuspielen und damit das Bild des Gesamtspiels zu zerreissen.
Ich sehe die Kunstlerin deshalb lieber in ernsten Rollen — in
Heinrich Manns „die Unschuldige" und in Tschechows „die Move"
war sie am besten — , als in lustigen, wie in Bahrs „Josephine".
Das deutsche Publikum will (und hat darin Recht) wahrend einer
— 170 —
Vorstellung keine Verstandigung mit dem einzelnen Darsteller, und
Staralluren gehoren nicht in eine klinstlerische Darbietung. Kann sich
die Dame von solchen Angewohnheiten frei machen, so wird ihr
ausserordentlich starkes Talent unendlich viel an Schatzbarkeit ge-
winnen. — Unter den mannlichen Kraften des Lustspielhauses steht
Carl Gotz bei weitem obenan. Es gibt sehr wenige Schauspieler auf
deutschen Buhnen, die mit so feinen Nerven Charaktere durchdringen
und gestalten konnen. In Strindbergs „Vater", als Talma in Jose-
phine", als der riihrend-komische „vazierende Hausknecht" in Nestroys
„Einen Jux will er sich machen" gab Gotz Kabinettstiicke subtiler
Charakteristik. Herr Dr. Robert darf sich ehrlich gratulieren, tiber
diesen Mann zu verfiigen. Er sollte ihn (und den kostlichen Alexan-
der Ekert) soviel wie irgend moglich herausstellen. Lasst er sich, wie
in Nestroys Posse, auch in wichtigeren Stilcken von Max Reinhardts
Regiekunst inspirieren, so hat das Lustspielhaus in der Tat Anwart-
schaft, das zu werden, was kritiklose Kritiker schon vor einem Jahr
daraus machen wollten.
Die Hoffnung, am Residenztheater werde Steinriicks Einfluss
die Einflusse der Hofeklektiker bezwingen, war leider trugerisch.
Es ist immer noch das alte Leid: heute das gute Werk eines moder-
nen Dichters, von kluger kunstlerischer Energie geleitet und —
wenigstens in einigen Rollen — mit kraftigen Individualitaten besetzt,
morgen ein beliebiger Schwankschmarrn, in Aufmachung und Dar-
stellung die Leistung des Stadttheaters von Kyritz an der Knatter,
ubermorgen eine Klassiker-Vorstellung, von einem Oberlehrer insze-
niert und mit einer Leidenschaftlichkeit vorgetragen, die sich aus
wildrollenden R-Lauten und weitausholenden Hantelbewegungen zu-
sammensetzt. Der ziinftige Referent weiss von dem Unterschied
nichts. Er sagt sich vielleicht: Variatio delectat und kompensiert
die Abwechslungen, die ihn ergotzen, durch die ewig gleichge-
stimmte Bekundung einer klinstlerischen Erfreutheit. Fur zwei Drittel
der Auffiihrungen an der Hofbuhne genligten als Kritik tatsachlich
Reproduktionen der Referate aus dem glorreichen Jahre 1871, als
— na ja: hurrah!! — Am Repertoire hat sich da seitdem nichts,
an agierenden Kraften wenig geandert. Das ubrige Drittel sollte
man aber doch wohl ernsthafter behandeln. Es gab unter Stein-
riicks und unter Basils Regie Auffiihrungen, die ohne Riickhalt gelobt
werden diirfen, und die Ueberzeugung, dass das Miinchener Hof-
theater in Steinriick einen Regisseur sowohl wie einen Darsteller
besitzt, der in die allererste Linie der lebenden Biihnenkiinsfler gehort,
bekam in der letzten Zeit wiederholt Gelegenheit, sich zu bestatigen
Ich erinnere an Schnitzlers Drama „Das weite Land", an Adolf
Pauls „Die Sprache der Vogel", vor allem aber an Strindbergs
„Totentanz". Als die beste Darstellerin am Residenztheater wird
171
man Frau v. Hagen betrachten miissen, die leider lange nicht genug
in modernen Rollen beschaftigt wird. Diese noble, feine Schau-
spielerin zeigte am Schonsten in Max Halbes Spiel „Der Ring
des Gauklers", wie gross ihre Sicherheit und wie echt ihre Darstellung
ist. Das Zusammenspiel zwischen ihr und Steinrtick im „Ring des
Gauklers" war filr den, der vornehme Kunst von effektvoller Klobig-
keit zu unterscheiden weiss, ein erlesener Genuss. — Leider ist es
dem Hoftheater nicht gelungen, fur Johanna Terwin einen ver-
gleichbaren Ersatz zu finden. Ich will der jungen Dame, die sich
jetzt um die Ausfilllung des jugendlichen Charakterfaches mtiht,
gewiss nicht wehtun. Ich will auch ihr Talent nicht in Frage
stellen. Aber wir waren durch die Terwin verwohnt und die Inten-
danz sollte sich die Frage vorlegen, ob es vorteilhaft sein kann, dass
man nach jeder Premiere die Kopfe schilttelt und die fortgegangene
Klinstlerin zuruckwiinscht. Der Mangel an hervorragenden Kraften
an unserm ersten Theater wird immer peinlicher flihlbar, und die
Schwierigkeit, grosse Dramen, die sorgfaltige Regiebehandlung ver-
langen, ihrem Anspruch entsprechend zu besetzen, ist dem Renommee
Miinchens als Theaterstadt kaum forderlich. Es gibt namlich auch
Leute, die ihr Urteil liber das Milnchener Kunstleben nicht allein auf
die Notizen zur Forderung des Fremdenverkehrs in den „Munchener
Neuesten Nachrichten", sondern auf eigene Studien griinden.
Bleibt noch das Milnchener Schauspielhaus. Auch iiber dieses
Institut ist bedauerlich wenig Erfreuliches zu melden. Das Theater
hat leidliche Schauspieler aber eine gewohnlich unleidliche Regie.
Da unterzog sich kurzlich die Direktion der uberaus verdienstlichen
Aufgabe, Eulenbergs „Alles um Geld" herauszubringen. Herbert
Eulenberg ist ganz und gar Romantiker. Sein Drama, eines der
wertvollsten und zukunftstrachtigsten Buhnenwerke, die seit dem
Entstehen einer modernen Kultur geschaffen worden sind, erfor-
dert das vorsichtigste Eingehen auf unwirkliche, symbolhafte Gescheh-
nisse. Alles geht wie hinter Schleiern vor sich. Die Regie des
Schauspielhauses aber griff vollig daneben. Aus dem schwarme-
rischen Traumen einer „Kreatur Gottes" wurde das legere Sichab-
finden eines fidelen Pechvogels. Was von einem Regisseur zualler-
erst verlangt werden muss, ist die Erkennung dessen, worauf es in
einem Drama ankommt. Ferner gehort zu seinen Obliegenheiten eine
gewisse Instruktion der Schauspieler, wie sie sich auf der Bilhne
zu benehmen haben. Wenn, wie haufig im Schauspielhause, jeder
seinen eigenen Intentionen uberlassen bleibt, so geschieht dem Stuck
unrecht, dem Publikum und auch den Schauspielern selbst, deren
Leistungsfahigkeit infolge fortwahrender Fehlleistungen natlirlich unter-
schatzt wird. Das Schauspielhaus hat ein Darstellerpersonal, mit dem
es viel bessere Wirkungen erzielen kann, als gemeinhin erzielt werden.
— 172 —
Die Damen Lina Woiwode und Consuela Nicoletti fanden in „Alles
um Geld" selbst heraus, was der Dichter von ihnen wollte, ebenso Frau
Gliimer. In Rosslers reizendem Lustspiel „Die flinf Frankfurter"
boten Frau Gliimer und Frl. Woiwode ebenfalls ausgezeichnete
Leistungen. Gute Schauspieler sind Herr Dumke, Herr Hans Raabe,
Herr Steiner, — aber sie haben alle nicht die Anleitung, die not
tate, und der einzige Darsteller, der dem Theater Licht, Warme,
Wohligkeit gibt, der unersetzliche Gustav Waldau, ist die langste
Zeit am Schauspielhause gewesen. Herr Direktor Stolberg sollte
sich daran erinnern, dass das Schauspielhaus einen guten Ruf zu
wahren hat. Er sollte das Theater in Acht nehmen, dass dieser
gute Ruf nicht zum Teufel geht. An seinen Schauspielern lage es
nicht, es lage an ihm selbst.
Das Bild, das ich da vom Munchener Theaterzustand zeich-
nen musste, sieht nicht sonderlich erhebend aus. Das Hoftheater ein
Schartekenarsenal, das Lustspielhaus ein unzulanglicher Bau in ent-
legener Gegend, das Schauspielhaus im Begriff, zu verwahrlosen.
Wie soil das enden ? Ob wir einmal ein ausserlich und innerlich
ausreichendes Theater nach Munchen bekommen werden ? Oder bleibt
alles wie es ist, und die Fachkollegen von der Tagespresse sorgen
auch fiirderhin daftir, dass sich das Kulturstreben dieser Stadt im
Spiegel der Kritik blank und hubsch ausnimmt ? Lasst uns die Fahne
des Fortschritts unentwegt hochhalten und frohlich weiterwursteln!
Bemerkungen.
Georg Heym. Aus den nachsten Freundeskreisen des jungen
Dichters geht mir dieser Brief zu:
„Sehr geehrter Herr Muhsami . . . Am 16. Januar ist Georg
Heym, 24 Jahre alt, im Wannsee ertrunken. Man wird spater die
verschiedenen Entwicklungs-Stufen dieses Dichters analysieren mtis-
sen ; denn die Mannigfaltigkeit der Ausdrucksformen, die er fur
seine Erlebnisse fand, ist — bei der Klirze seiner Schaffens-Zeit
— iiberraschend. Er veroffentlichte, wie Ihnen wol bekannt ist,
einen Band Verse: „Der ewige Tag" (Rowohlt 1911) und eine
Reihe einzelner Gedichte in der „Aktion" und im „Pan". An
diesen Werken fiel zunachst die Scharfe und die Wucht seines
Sehens auf, mit der er seine Umwelt (die grossen Stadte), Ueber-
liefertes (die franzosische Revolution) und durch seine Fantasie
Gegebenes (die Reiche der Toten) erfasste und in sich zog. —
Wesentlich erscheint nun, dass er — und je spater, je mehr —
nicht ein festes plastisches Bild hinzustellen suchte, sondern den
— 173 —
Strom der Bilder, wie sie ihm auftauchten, den pulsenden Bilder-
Strom einfing, ohne sonderlich auf die reale Verkniipfung zu achten,
(Besonders ist dies erkennbar in den „Schwarzen Visionen", dem
zuletzt entstandenen Gedicht seines Buches). Bei der — hoffentlich
bald erfolgenden — Herausgabe des Nachlasses wird sich zeigen,
wie er so die starre Grausigkeit, die an seinen alteren Versen
Fremde erschreckte und auch wol abstiess, in klingende Farbig-
keit aufloste. —
Vielleicht gelingt es dieser kurzen Notiz, fur deren Abdruck ich
Ihnen sehr danken wlirde, bei einigen Lesern Ihrer Zeitschrift, In-
teresse fur Georg Heym hervorzurufen. Ich verbleibe, sehr ge-
ehrter Herr Milhsam,
Ihr ganz ergebener
Mlinchen, 3. 2. 1911. Robert Jentzsch.
Herr Jentzsch stellt mir gleichzeitig aus dem ungedruckten
Nachlass Heyms ein im Spatherbst 1911 entstandenes Gedicht zur
Verfligung, das hier folgt:
Frohlichkeit.
Es rauscht und saust von manchen Karussellen
wie Sonnen flammend in den Nackmittagen,
und viele Leute sehen mit Behagen,
wie sich Kamele drehn und Rosse schnelle.
Die starren Schwdne und die Elefanzen,
der eine hebt vor Freude schon das Bein
und grunzt im hohlen Bauche wie ein Schwein,
und alle Tiere fangen an zu tanzen.
Doch nebenan, im Sonnenlicht, dem hellen,
gehen die Maurer, schwarz, wie Lduse klein,
hoch im Gertist, ein feuriger Verein,
und schlagen Takt mit ihren Maurer-Kellen.
An diesem Gedicht gibt es viel auszusetzen: gewiss. Man
soil nicht um eines Reimes willen Witze machen (dazu hat bislang
nur Christian Morgenstern die Berechtigung erwiesen), man soil
auch den Rhytmus nicht so salopp behandeln, wie es hier geschehen
ist. — Aber wodurch mir dieses Gedicht, wie alle, die ich von
Georg Heym gelesen habe, vor den Versen fast aller seiner Alters-
genossen ausgezeichnet scheint, das ist die Lebendigkeit seiner Em-
— 174 —
pfindung. Man kann sagen: ein schlechtes Gedicht A ein nachlassiges
Gedicht, ein schluderiges Gedicht, — aber nie kann man sagen:
ein belangloses Gedicht. Die Hoffnungen auf die Entwicklung der
HeymBchen! Kunst setzten, taten es, weil sie in seinen Versen
innere Notwendigkeit erkannten. Er schrieb seine Gedichte, weil
er ein Dichter war, nicht weil er die Absicht hatte, Gedichte zu
machen.
Hermann Bahr hat einmal das hiibsche Wort gefunden: Es
ist der Trost der alternden Generation, dass es immer wieder
Zwanzigjahrige gibt. Ist es Hermann Bahr schon einmal aufgefallen,
dass heute wir, die wir zwischen dreissig und vierzig stehen, eigentlich
die Jtingsten sind? Seit in Wien das Versemachen zum Sport gewor-
den ist, seit man dort bewiesen hat, dass mit einem Band Hoffmanns-
thai in der Hand jeder Gymnasiast gute Gedichte machen kann,
gibt es keinen Nachwuchs mehr. Die Berliner Produktivitat aber hat
sich von der Produktion emanzipiert. Sie begntigt sich mit der
Verherrlichung der Reproduktion. Lasst uns Musik komponieren,
Bilder malen, Lyrik dichten, wie Kerr und Hardekopf Kritiken schrei-
ben! — Mit diesem Programm grlinden die Jtingsten Literatur-
zirkel. Unsere Zwanzigjahrigen sind senil. Hoffentlich werden die
Nobel-Preisrichter bald auf sie aufmerksam.
Georg Heym war anders als seine Altersgefahrten. In seiner
Kunst war Leben, Fiihlen, Schwingen, Sehen, Wollen, Werden.
Der Trost, den wir Dreissigjahrigen der Generation Bahr gegeben
haben, ist uns versagt. Eine diinne Stelle auf dem Wannsee-Eis,
— und wir bleiben die Jtinersten.
Vom politischen Kasperltheater. Im Reiche und in Bayern
haben wir den erhebenden Anblick genossen, wie Links geschlossen
gegen Rechts, wie der Fortschritt gegen die Reaktion marschierte, und
wie die Macht des „schwarzblauen Blocks" ein fur allemale ge-
brochen wurde. — Die Sozialdemokraten haben vier und eine viertel
Million Stimmen gesammelt und einhundertundzehn Abgeordnete in
den Reichstag entsandt. Nun muss sich alles, alles wenden.
Der liebe Gott hat die Welt ungemein sinnvoll eingerichtet.
Die Dinge, die zu einander gehoren, hat er wie im Museum tiberall
zu einander gestellt. Deutschland hat die starkste sozialdemokrati-
sche Partei — vier und eine viertel Million Republikaner: nirgends
in der Welt steht die Monarchie auf sichererem Grund als in Deutsch-
land. Deutschland hat die ttichtigste sozialdemokratische Partei —
vier und eine viertel Million Antikapitalisten: eine Kapitalsanlage
in deutschen Unternehmungen gilt tiberall als die solideste Vorsicht.
Deutschland hat die erfolgreichste sozialdemokratische Partei — vier
und eine viertel Million internationaler Revolutionare, vertreten durch
einhundertundzehn zahnefletschende Mandatare: Der deutsche Soldat
ist der verlasslichste, den es gibt, in seine Seele ist noch kein zwei-
felnder Gedanke eingezogen, wenn der Kaiser eines Tages den
— 175 —
beliebten „Ernstfall" erlebt, dann kann er sich auf vier und eine
viertel Million sozialdemokraitscher Wahler, reprasentiert durch ein-
hundertundzehn Abgeordnete, verlassen,
Auch im engeren Vaterlande sind heisse Schlachten geschla-
gen worden. Die „vereinigten Zentrumsgegner", Liberale, Sozial-
demokraten und Bauernbiindler, zogen mit gemeinsamen Kandidaten-
listen ins Feld, um die schwarze Majoritat des Landtags zu besiegen
Fast ein Dutzend Sitze verloren die Ultramontanen in diesem Gemetzel,
und wenn sie zusammen mit den Konservativen auch noch ilber eine
Stimmenzahl von einigen neunzig verfligen, wogegen der ^inks-
block" bloss 69 Vertreter hat, sagen uns doch die Zeitungen
der vereinigten staatserhaltenden und staatssturzlerischen Zentrums-
gegner taglich, dass die Differenz das nachste Mai noch kleiner sein
wird, wenn man inzwischen nur fleissig zusammenhalt. Das nachste
Mai — das ist nach sechs Jahren. Und nach aber und aber sechs
Jahren wird die Zentrumsmajoritat vielleicht gebrochen sein, und dann
bekommt Bayern eine neue Wahlkreiseinteilung und jede freiheitliche
Sehnsucht erflillt sich. Nur Geduld muss man haben.
Vorerst wurde der bisherige Fraktionsvorsitzende des Zentrums
im Reichstage, Freiherr von Hertling, bayerischer Ministerprasident.
Der soeben konstuierte freiheitliche Reichstag aber erwahlte zu seinem
Prasidenten den ultramontanen Dr. Spahn.
Ein slisser Trost ist uns geblieben: Munchen ist in Reichs-
und Landtag ausschliesslich sozialdemokratisch und liberal vertreten.
Munchen verfligt auch ilber eine liberale Stadt- und Polizeiverwal-
tung, und die liberalen und sozialdemokratischen Stadtvater haben
einwandfrei bewiesen, dass sie fur die Erhaltung von Tugend und
Sittlichkeit in dieser Stadt imstande sind, unabhangig von schwarzen
Einfllissen, ihre Mucker selbst zu stellen.
Abel. „Abel, Zeitschrift flir Sklaverei" nennt sich eine Faschings-
zeitschrift, die im Verlage von Hans Goltz in Munchen erschienen und
von Grafen Paul von Keyserling jr. herausgegeben ist. Der „Kain"
wird schon in der Aufmachung des Heftes sehr niedlich parodiert,
und ich personlich muss mir allerlei Frozzeleien gefallen lassen
Ich bin nicht sehr empfindlich. Vor allem verschliesse ich mich keines-
wegs der geschaftlichen Erwagung, dass meinem Blatte da eine,
vielleicht ungewollte, jedenfalls aber sehr schatzbare Reklame gemacht
wird. Ich revanchiere mich, indem ich meine Leser unter Vermeidung
jeglicher Kritik des Heftchens auf sein Erscheinen hinweise. Es
kostet filnfzig Pfennige.
Miinchen-Schilda. Da es gerade Faschingszeit ist, mag hier
eine kleine Geschichte von neuem erzahlt werden, die zwar schon
zwei Jahre zurtickliegt, aber den Vorzug hat, wahr zu sein. Aeltere
Einwohner Milnchens erinnern sich noch des Jahres 1909. Das war das
Jahr der Freiheit und der ungebundenen Lebensfreude fur Bayerns
Hauptstadt. Damals gab es dicht beim Bahnhof ein Cafehaus, das
die ganze Nacht geoffnet war: das Cafe Imperial. Fur unsereinen,
der die polizeiwidrige Gewohnheit hat, manchmal bis in spate Nacht-
stunden zu arbeiten, und der dann das Bedurfnis spurt, auszugehen,
eine Tasse Bouillon oder einen Schnaps zu sich zu nehmen oder gar
noch mit Bekannten Gesprache zu fuhren, war das Cafe Imperial
— 176 —
in diesem Jahre sehr oft das Ziel nachtlicher Wanderungen. Schach,
Karten oder Billard spielen durfte man nach drei Uhr zwar nicht
mehr in dem Lokal, auch Zeitungen wurden, wenn ich mich recht
erinnere, den Gasten nicht mehr zu lesen gegeben — denn die Polizei
wusste wohl Mass zu halten mit ihrer Freigiebigkeit. Aber man
wusste doch, wo man bleiben konnte, falls man noch einen freien
Platz im Cafe Imperial fand. Denn von alien Gegenden Munchens
stromten jede Nacht ungeheure Menschenmassen zu dem einzigen
Etablissement, das nach 3 Uhr Gaste empfing. Das Jahr 1909 ging
herum. Man hatte sich daran gewohnt, Milnchen filr eine freiheit-
liche Stadt zu halten. Aber die Polizei war bei Erteilung der
Nachtkonzession an den Wirt des Cafes Imperial vorsichtig gewesen.
Sie hatte sie ihm nur versuchsweise filr ein Jahr zugebilligt. Als das
Jahr zu Ende ging, und der Mann um Verlangerung seiner Ver-
gilnstigung nachsuchte, wurde sie ihm verweigert. Mit dieser Begrlin-
dung: Es habe sich gezeigt, dass die Lokalitaten des Cafes Imperial
nicht imstande seien, dem Andrang der unterkunftheischenden Nacht-
besucher gerecht zu werden. Dieses Cafehaus sei deshalb wie alle
andern wieder von 3 Uhr ab zu schliessen.
Als dieser Bescheid an den Wirt des Cafes Imperial erging,
lagen der Mlinchener Polizei noch einige dreissig Gesuche um Be-
willigung des Nachtbetriebes vor. Aber heute noch wird an 355 Tagen
des Jahres — zehn Redoutentage wahrend des Karnevals sind aus-
genommen — die Bedtirfnisfrage nach einem Munchener Nachtlokal
von der liberalen Stadtverwaltung verneint, und der Dorfbuttel Miln-
chens qualt sich Nacht fiir Nacht unter den vielen hundert Personen
Ordnung zu halten, die nach 3 Uhr planlos durch die Strassen der
Residenz Ziehen und Unterkunft suchen.
Prefirelationsbureau „fcanfa"
Ztltpb. ami moabit tui SCfUll NW 23 -*> holpnner Ufer 7 «.
Jnt).: Jng. m. Kraufe
lirfert alle Ilact)n(J)teil tiber
Kunft literatur, rUiffcnfdE)aft
ftjnell — Dotlftandig — preisroert.
flKademijjJ) und lUerarifd) fjebildete refetoren.
DoTjiiulidiE Organifation 3
Verantwortlich fiir Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9.
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baaderstr. I u. la. Geschaftsstelle: Miinchen, Baaderstr. la. Tel. 2355
■*■■**■■*■*»■■*■■■■■
Oicr Urtette
iibcr di« farblg Mlusfrkrte
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t)cr Kotnct
Die CagesprcBet
On ntnAer:
. . . ein derartiges Blatt,
du an allem und jedem
norgelt u. von dessen Spott
nichts sicher ist, gehen
Tarboten!
Ote elegante lOelt;
. . . ein Blatt, das weiteste
Verbreitung verdient, denn
mit kraftigen Peitschen-
hieben geht es gegen alle
Verlogenheiten, gegen Ban-
ausen und Philister vor.
. . . ein solches Blatt, das
mutig gegen alle falsche
Pruderie und Heuchelei »a
Felde zieht, hat an* schon
lang* gefehlt!
Der Honftrnattnti
. . . Wir mochten das
Blatt, du an alien Ein-
richtungen etwas zu tadeln
hat, gerne unterdriicken,
aber wie anfangen ?
Prcls pro nummcr 20 Pfg., pro Qua rial (13 Itr.) j
mk. 2,50. Rctmhalttgc Probebaiide 50 Pfg.
Zu t>ab«n btl alien Bud)- u. Zeftungsfyandltrn odtr 00m j
Komrtocriau munften. — — •
Bitte hier abzutrennen.
Biicherzettel.
Mit
3 Pfennig
zu
frankieren.
An
Don
erift mutifam
crfdiifncn folgende BUcJicr.
OlC IDllftC* Oedlflte. 1904. m. 2.40.
Dft Kt&tCt* ecdKfite. 1909. m. 2.-
Oic liodtjft&plct* luwptei. 1906. m.2.-
Zu btEictjcn durd) icdc Budtjftandlung unci den
Kiim Derlag, niundirn, DaadcrftrdBc la.
Bitte hier abzutrennen.
Unterzeichneter abonniert hiermit auf die Zeitschrift
„KAIN", Jahrgang 1911/12. (Kain-Verlag Miinchen, Baader-
strasse la.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark.
Betrag wird gleichzeitig eingesandt.*)
Soil durch Nachnahme erhoben werden.*)
Genaue Adresse:
Name:
*) Nicht gewiinschtes bitte zu durch streichen.
Jahrgang I. No. 12. Marz 1912.
KMN
Zeif/chrifffiir
rien/ch(ich(\eir
HemuJgeber;
(rich Huh/am
Inhalt: Die Bergarbeiter. — Tagebuch aus dem Gefangnis.
„M. N. N." — Bemerkungen. — Die Stimmrechts-Amazonen.
Die Geheimnisse von Czenstochau. — Ein Opfer seines Berufs.
Bittingers Fehltritt.
Kain-Verlag Munchen.
30 Pfa.
Kain-Kalender
fiir das Jahr 1912
Herausgeber: ERICH MUHSAM
Samtl. Beitrage sind vom Herausgeber :: Preis 1 Mark
Zu beziehen durch jede Buchhandlung und den
KAIN-VERLAG, MUNCHEN, Baaderstrasse 1 a.
NEUE BLATTER
HALBMONATSSCHRIFT
erscheint am 5. und 20 jeden Monats im Format von 24X32 mit ein
bis zwei Handzeichnungen zum Preise von 25 Pf., jahrlich Mk. 5.50.
I N H A LT
des ersten Heftes: MATISSE: Akt / CLAUDEL
Rezitation aus der Einsetzung des Ruhetages / PASCOLI
Der Taumel / DAUBLER : Der Nachtwandler / PHILIPPE
Briefe / LEHMBRUCK: Akt /
des zweiten Heftes: GENGWA HIROMI: Chinesi-
scher Holzschnitt / CLAUDEL: Magnificat / CLAUDEL:
Aufbau der Kirche / CLAUDEL: Ausschau vom Meer
auf das Land / CLAUDEL: Besuch / CLAUDEL: Der
Schauende / CLAUDEL: Beschluss /
des dritten Heftes: DERAIN: Holzschnitt / GEIGER :
Ode / GIDE: Mopsus / RAY: Jules Romain
des vierten Heftes: RODIN: Akt / PEGUY:Myste-
rium / GIDE: Anmerkungen / TREUGE: Gedichte /
L'ARBAUD: Barnabas /
Spatere Nummern bringen Handzeichnungen von
RODIN / MUNCH / PICASSO / BARLACH / RENOIR
Probenummern werden umsonst nicht abgegeben,
jede gute Buchhandlung wird zum Bezug der NEUEN BLATTER
empfohlen. Wo diese Art des Bezuges auf Schwierigkeiten stosst, erfolgt
derVersand gern durch den Verlag, der das Porto besonders berechnet.
ERICH BARON /VERLAG/ BERLIN W. 15/205
Jahrgang I. Munchen,
No. 12. Marz 1912.
KAIN
Zeitschrift fiir Menschlichkeit.
Herausgeber: Erich Miihsam.
-^imr^^T tr 31-1 ip^m^Trrn mora niininnLH" t -r t t. t.~\ it n -i - ,j i in ei rr a lit nam mjiiinim
„KAIN" erscheint vorlaufig im Monat einmal. Der Preis betragt
fiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne-
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag".
Munchen, Baaderstrasse la.
Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber.
Mitarbeiter dankend verbeten.
Dieses Heft schliesst den ersten J ahrgang des „Kain" ab.
Die Ataonnenten werden gebeten, den Abonnementspteis fiir das
nachste Jahr an die Geschaftsstelle einzusenden. Von denen,
de das Blatt weder neu- noch abbestellen, wird das J ahres-
abomement, ihr Einverstandnis vorausgesetzt, bei Zusendung
des Aprilheftes dirch Postnachnahme einkassiert werden. Dem
Aprilheft wird Titelblatt ind Inhaltsverzeichnis zim ersten J ahr-
gang beigelegt werden, damit sich de Leser den „Kain" nach
J ahrgangen binden lassen konnen.
KAIN-VERLAG.
Die Bergarbeiter.
Abgesperrt von jeglichem Sonnenlicht, klaftertief unter
dem Erdreich, in jedem Moment der Gefahr schlagen-
der Wetter ausgesetzt, verrichten die Kohlenarbeiter ihr
schweres Werk. Giftiger Staub setzt sich in ihre Lungen
fest und zerstort ihre Lebenskraft vor der Zeit, — ihre
Aufseher aber, die Stellvertreter ihrer Arbeitgeber, priifen,
messen und wagen, ob jeder einzelne auch genug Kohlen
zutage fordert, und feilschen, um ihren Auftraggebern ge-
— 178 —
Mlig zu sein, dem armen Arbeiter von seiner karglichen
Besoldung immer noch ein Weniges ab. Akkordarbeit
nennt man das System, nach dem sich die Entlohnung
nicht um die Zeit einer Anstrengung, sondern um die
Quantitat des Geleisteten kiimmert. In jeder verniinftig
eingerichteten Gesellschaft ware es selbstverstandlich, dass
das Resultat einer Leistung den Nutzen bestimmte, den der
Arbeiter von seiner Miihe hatte. In der kapitalistischen
Gesellschaft hingegen ist diese Methode die denkbar unge-
rechteste, und der Hinweis der Kapitalisten auf das mora-
lische Prinzip, dass sich der Lohn einer Arbeit nach dem
Ausmass ihres Ertrages richten miisse, ist tiickisch und
verlogen.
Diejenigen, die mit dem Risiko ihrer Gesundheit und
ihres Lebens die Arbeitsgeratschaften fremder Menschen
handhaben und dem Besitze einer privilegierten Minder-
heit seine Nutzbarkeit verschaffen, haben an der Verwer-
tung ihrer Produktion nicht das geringste Interesse. Hir
Arbeitstrieb wird von keinem ethischen Gefuhl, von keiner
Gegenseitigkeitsverpflichtung gespornt, sondern aus-
schliessUch von dem Zwang, fur sich und ihre Familien
den notwendigsten Unterhalt herauszuschlagen. Die Un-
ternehmer dagegen, die als einziges Risiko ihr spekulatori-
sches Interesse einsetzen, fordem die hochste Anspannung
der manuellen Leistungskraft der Arbeiter, weil ihnen
bei der Ueberzahl arbeitsfahiger Menschen am Leben des
einzelnen gar nichts, an der Ergiebigkeit der Arbeit mog-
lichst Weniger alles liegt. Um dieses Hochstmass der
Anstrengung zu erzielen, werfen sie die Aussicht auf bes-
sere Lebensfuhrung ausserhalb der Grube den Arbeitern
als Koder hin und bewirken dadurch bei alien Arbeitern
eine Ueberspannung der Leistungskraft, mithin friihzeitige
Abwirtschaftung der Organe und verkiirzte Arbeitsfahig-
keit, die nur dem Arbeiter zum Schaden gereicht, weil
der Unternehmer ja jederzeit jungen unerschopften Er-
satz findet, Untergrabung des kameradschafflichen Ge-
— 179 —
fuhls und bei den Beamten und Aufsehern Herausforde-
rung chikanoser Willkiir und Grossmannssucht
Die englischen Grubenarbeiter fordern angesichts die-
ser Verhaltnisse die Festsetzung von Mindestlohnen, um
dadurch der unumschrankten Despotie der Bergwerks-
besitzer entgegenzuwirken. Der Wille derer, deren Ar-
beitskraft das Kapital ausbeutet, um Kapital sein zu kon-
nen, hat nur einen Weg, sich Geltung zu verschaffen:
die Verweigerung der Arbeitskraft, den organisierten, soli-
darischen, konsequenzbereiten Streik. Diesen Weg hat
die englische Bergarbeiterschaft beschritten, und wir sehen
gegenwartig einer der grossartigsten Kraftproben zwi-
schen Ann und Reich zu, die die Geschichte der Arbeiter-
bewegung bisher geboten hat.
Der Umfang des Kampfes (und noch weniger die
Forderungen der Streikenden) ist das Wichtigste nicht,
was bei der Beobachtung des Vorgangs den sozial beweg-
ten Zeitgenossen in Atem halt. Es ist vielmehr das Land,
in dem die Aktion gefuhrt wird, und der Vergleich mit
parallelen Streikerscheinungen, was hier so ungeheuer
interessant und aufregend ist. England ist — daran andert
die monarchische Verfassung gar nichts — eines der
demokratischsten Lander der Erde. Radikal-demokratische
Oppositionsparteien haben dort infolgedessen mangels gros-
ser und umwalzender Programmforderungen sehr wenig
Aussicht auf starke Popularitat. Auf wirtschaftUchem Ge-
biet haben die Trades-Unions so ausgiebig auf eine rela-
tive Friedlichkeit zwischen Kapital und Arbeit hingearbeitet,
dass England vielen als ein Beispiel fur die Lehre gait,
die eine natiirhche eruptionslose Entwicklung von kapita-
Ustischem zu sozialistischem Gesellschaftgefuge behauptet.
Man traute den grossbritannischen Arbeitern die Ent-
schlossenheit zu radikaler Selbsthilfe umsoweniger zu,
als eine politische Parlaments-Vertretung der Proletarier
in den drei Konigreichen so gut wie gar nicht existiert.
— 180 —
Da traten vor einem halben Jahre plotzlich die Seeleute
in den Streik. Mit einer Bewusstheit, mit einer in sich
selbst gegriindeten Disziplin wurde der Kampf begonnen
und mit Hilfe der verwandten Gewerke zum Erfolg gefuhrt,
die auf dem ganzen europaischen Festland verbluffte, und
die plotzlich zeigte, dass gerade England Vielleicht den
bestgediingten Boden fur radikale sozialistische Wand-
lungen hat.
Zumal in Deutschland, dessen Arbeiterschaft sich nir-
gends laut genug ihrer straffen Gewerkschaftsorganisa-
tionen riihmen kann, konnte ein grosser Streik, der die.
Besserung der Lebenslage einer das ganze Reich um-
spannenden Arbeitergruppe zum Ziele hatte, noch nie
durchgefiihrt werden, obwohl doch gerade hier die Ver-
fassung der Arbeiterorganisationen eine durchaus zentra-
listische ist, und obwohl doch hier die Meinung allgemeine
Giiltigkeit hat, dass ein zentrales Kommando allein ge-
eignet ist, eine grosse gemeinsame Aktion zu dirigieren.
Ueberschauen wir aber nach riickwarts die grossen Ar-
beiterkampfe der letzten Jahre in Deutschland, so stosst
die Erinnerung immer nur auf partielle Lohnbewegungen.
Handelte es sich einmal um Kampfe, die gleichzeitig in
verschiedenen Distrikten gefuhrt werden mussten, so hor-
ten wir stets von den Arbeitern die bittere Anklage, ihnen
sei der Kampf von den Arbeitgebern aufgezwungen, sie
hatten keinen Streik begonnen, sondem seien ausgesperrt
worden. Die reichste, disziplinierteste und an Zahl machtigste
organisierte Arbeiterschaft der Welt lasst sich also immer
wieder in die Defensive drangen und findet auf keinem
Gebiet den Mut zu einer entschlossenen Aggressivitat.
Man erinnere sich an den grossen Textilarbeiterstreik
in Crimmitschau im Jahre 1902. Die Kasse der Gewerk-
schaft war bis zum Rande voll. Taglich liefen aus alien
Teilen des Landes und des Auslandes tausende und aber-
tausende Mark fur die Ausstandigen ein, die sich bei der
Klaglichkeit ihrer Lage aller Sympathien erfreuten. Der
— 181 —
„Vorwarts" berichtete triumphierend, der Streik sei mit
den vorhandenen Mitteln noch monatelang zu halten. Am
Tage nach dieser Mitteilung aber brachte derselbe „Vor-
warts" die Nachricht, die Arbeit sei von den Streiken-
den bedingungslos wieder aufgenommen worden, und als
Grund wurde angegeben, bei langerer Arbeitsstockung
ware die ganze Industrie zugrunde gegangen, diese Ver-
antwortung habe die Streikleitung nicht tragen wollen
Einmal angenommen, diese Begriindung sei aus ehrlichem
Herzen gekommen (in Wahrheit wurde der Streik natiir-
lich von der sozialdemokratischen Partei inhibiert, die
furchtete, durch den fortwahrenden Zustrom von Arbei-
tergroschen in die Streikkasse werde der Reichstagswahl-
fonds fur 1903 Schaden leiden), — also die Aufrichtig-
keit der Entschuldigung fur die Niederlage einmal vor-
ausgesetzt, erheben sich diese Fragen: 1st es Sache der
Arbeiter, sich um den Bestand einer Industrie zu sorgen,
fur die zu schaffen so unertraglich ist, dass selbst sachsi-
sche Weber gegen sie in den Streik treten mussten?
Weiter: Treibt eine Industrie ihre Unerbittlichkeit gegen
Streikforderungen bis zum eigenen Zusammenbruch, da
doch das Bedurfhis nach Leinenproduktion angebhch nach
wie vor bestand, ist dann nicht die Zeit gekommen, wo
die Arbeiter mit Hilfe der grossen fur den Streik ge-
sammelten Kapitalien die Fabriken in eigene Regie neh-
men und die soziahstische Tat der Begriindung einer
Produktivgenossenschaft untemehmen sollten? Drittens
aber: Ware nicht die selbstverstandliche Folge der Beden-
ken der Streikleitung die gewesen, in samflichen Textil-
fabriken Deutschlands den Solidaritatsstreik zu prokla-
mieren, um dadurch der Konkurrenz den Profit aus dem
Streik abzuschneiden und gleichzeitig die Arbeiter der
anderen Gegenden von der Verantwortung streikbrecheri-
scher Verraterei zu entlasten? Die zentralgewaltigen Drat-
zieher aber dachten anders, bliesen zum Riickzug und
— 182 —
bangten den armen Webern das alte Elend wieder auf
den Buckel.
Noch widerlicher war das Verhalten der politischen
Klassenkampfer bei dem Bergarbeiterstreik im Ruhrge-
biet im Jahre 1905. Die Aussichten standen fur die Ar-
beiter glanzend. Sehr gegen den Willen der Zentral-
leitung griff die Bewegung immer weiter um sich, alles
Bremsen half nichts, die Ausstandigen begriffen den Vor-
teil ihrer Situation und beschlossen uber die Kopfe der
Herren Sachse und Hue hinweg, den Streik weiterzufiihren
und auszudehnen. Franzosische und belgische Gruben
erklarten sich mit den Deutschen solidarisch, sodass in
einem sehr umfanglichen Bezirk die Bergarbeit ruhte.
Inzwischen hatte sich die preussische Regierung ins Mit-
tel gelegt und mit den parlamentarischen Streikfuhrern
unterhandelt. Der Handelsminister Moller versprach ein
Bergarbeitergesetz, und obgleich er keinerlei Garantien
gab, was darin verfugt werden sollte, und obendrein noch
im preussischen Abgeordnetenhaus eine Rede hielt, in
der er unverhohlen seine Sympathie fur die Bergwerks-
besitzer aussprach, ging jetzt in der Parteipresse, in den
Knappschaftszeitungen und in den Reden der sogenann-
ten Vertrauensleute ein aufgeregtes Gegacker an, die Berg-
arbeiter durften der Legislator nicht vorgreifen, sie miiss-
ten ihrem Fiihrern folgen, sie vergingen sich gegen die
Disziplin, und wenn sie nicht aufhorten zu streiken, seien
alle Bande frommer Scheu gelockert. NatiirUch liessen
sich die Streikenden nicht storen und verweigerten den
Leitern den Gehorsam, die das unglaubliche Ansinnen
an sie stellten, ihre Position im giinstigsten Moment auf-
zugeben. Selbst die Drohung, die Streikzuschiisse wiirden
gesperrt werden, verfing nicht. Da griff man endlich zu
einem ganz infamen Mittel. Man verbreitete — das alles
ist erweislich wahr — in wichtigen Streikorten Flugblatter
mit der Behauptung, anderwarts sei die Arbeit wieder
aufgenommen worden. Diese Luge brachte natiirlich Ver-
— 183 —
wirrung in den Kampf. Wurde erst wieder in einigen Ze-
chen gearbeitet, so hatte der Streik in den andern kei-
nen Sinn mehr. Der Streik ging also verloren und es trat
der beispiellose Fall ein, dass die deutschen Arbeiter an
ihren belgischen Kollegen, die fur sie in den Solidaritats-
streik getreten waren, zu Streikbrechern wurden. Dass
bei ihren Bemiihungen, die Arbeiter zur „Vernunft" zu
bringen, die Herren Hue und Sachse von ihren eigenen
Pfleglingen Priigel bekamen, ist das Erfreulichste, was
die deutsche Bergarbeiterbewegung von 1905 der Nach-
welt hinterlassen hat. Das von Herrn Moller angekiin-
digte preussische Bergarbeitergesetz kam wirklich. Es
sah so aus, dass samtliche sozialdemokratische Zeitun-
gen in wiitender Entriistung erklarten, jetzt seien die
Bergarbeiter noch iibler daran als vorher. Natiirlich ist
die Aussicht, einen neuen Streik erfolgreich durchzufiih-
ren, seither betrachtlich gesunken.
Welcher Unterschied zwischen den deutschen Strei-
kern und den englischen! — Von heute auf morgen
legen auf der ganzen Insel eine Million Arbeiter das
Werkzeug nieder, ohne Zentralleitung, ohne jahrzehnte-
lange Schulung durch Diplomaten und Advokaten, ohne
angstliches Fragen: diirfen wir auch? — Jeder kennt
sein Interesse, jeder hat eigene Initiative, jeder beschliesst
nach eigenem Willen. Aber gerade darum ist Einigkeit in
der Menge, gerade darum Solidaritat und Entschlossenheit.
Schon schliessen sich andere Organisationen an. Die Eisen-
bahner weigern sich, Kohlen zu befordern, die belgischen
und franzosischen Seeleute weigern sich, Kohlen, die fur
England bestimmt sind und — natiirlich! — aus Deutsch-
land kommen, zu verladen und iibers Meer zu fahren.
Im ganzen Land steigen die Kohlenpreise ins Unerschwing-
liche, und die Arbeiter werden ihre Anspriiche durchset-
zen, weil sie sich nicht auf gefiillte Kassen verlassen,
sondern auf ihre wohlangewandte Energie, und weil sie
— 184 —
sich nicht von besoldeten Fiihrern kommandieren lassen,
sondern den eigenen Verstand nach dem Rechten fragen.
Mit Geld kann nie ein Streik gewonnen werden,
weil auf der andern Seite stets mehr Geld ist. Von einer
Zentralmacht kann nie ein Streik dirigiert werden, weil
die, die mit ihrem eigenen Leibe fur ihre eigene Sache
kampfen, keine Tatkraft haben konnen, wenn sie nicht
selbst beschliessen diirfen was not tut. Wehe der Ar-
beiterbewegung, die Politikern in die Klauen gerat, denn
die kummert nicht die Arbeiterbewegung, sondern die
Politik. Werden die deutschen Arbeiter von den engli-
schen lernen? — Sie werden nicht. Sie werden wahlen
und wieder wahlen und immer wahlen. Die Gewahlten
aber haben keine Zeit, sich um Arbeiterfragen zu kiim-
mern. Sie miissen streiten und schachern, wer bei ihren
Beratungen das Presidium fiihren soil, und sie miissen
untereinander darum raufen, ob ein Sozialist den Hof-
knix machen darf oder nicht.
Seit der Niederschrift der vorigen Betrachtung kommen aus
Dortmund und Essen taglich Nachrichten, die es wahrscheinlich
machen, dass beim Erscheinen dieses Heftes die Bergarbeiter des
Ruhrreviers von neuem im Streik stehen werden. Das jammerliche
Verhalten der dem „alten Verbande" eng verbtindeten „christlichen"
Gewerkschaften zeigt, dass die Initiative auch diesmal wieder von
den Arbeitern ausgeht, die, durch die Erfahrungen von 1905 ge-
witzigt, hoffentlich den eigenen Entschlilssen mehr vertrauen wer-
den als den diplomatischen Kunststlicken der Zentralverbands-Leiter.
Die foderalistisch organisierten Syndikalisten, die zumeist radikal-
sozialistische und anarchistische Tendenzen verfolgen, haben im Streik-
bezirk erfreulich starken Einfluss. Ihre zweckbewusste Beratung
wird voraussichtlich ein zu fruhes Paktieren mit den Zechenbesitzern
und ein Eingehen auf Vermittlungsvorschlage der zur Aufrechthal-
tung der kapitalistischen Einrichtungen erkorenen Regierang zu ver-
hindern wissen. Die gleichzeitige Ruhe der Bergwerke in England
und Deutschland muss in kurzester Frist den Kohlenmangel in
ganz Europa so nachdrucklich fiihlbar machen, dass der Lebenswille
der gesamten Bevolkerung einen Vergleich nach dem Diktat der
Arbeiter erzwingen wird. Die Streikenden konnen nicht laut genug
— 185 —
vor den Vertrostungen ihrer Flihrer auf eine gelegenere Zeit gewarnt
werden. Mag das englische Beispiel anfeuernd auf sie wirken,
damit wir endlich einmal auch in Deutschland einen energisch durch-
gefuhrten Wirtschaftskampf erleben. Die Englander haben die Ver-
gleichsvorschlage ihrer Regierung abgelehnt und sich damit das
Missfallen der liberalen Zeitungen zugezogen. Denen, die nach
der Sympathie des Burgertums schielen, sei gesagt, dass sie immer
nur solange dauert, wie das Interesse der Grubenaktionare nicht
gefahrdet ist. Sobald eine Einschrankung der Ausbeutungsmoglich-
keit der Arbeitskrafte akut zu werden droht, ist die ganze arbeiter-
freundliche Bourgeosie nicht nur mit der Zusammenziehung zahl-
reicher Gendarmerie im Streikgebiet einverstanden, sondern zetert
auch noch nach Maschinengewehren und Standrecht. Die Arbeitet;
des Ruhrreviers sind als mutige Kampfer bewahrt. Sie warten
nicht, bis die Unternehmer sie bei entsprechender Konjunktur aus-
sperren, und mlissen daher nicht, wie vor zwei Jahren die Bau-
arbeiter und jetzt wieder die Schneider, notwendig die Schwacheren
bleiben. Es ist zu hoffen, dass durch ihre entschlossene Offensive
die durch die schlappe Betulichkeit der parlamentarischen Klug-
schnacker arg misskreditierte deutsche Gewerkschaftsbewegung neue
Kraft und Festigkeit gewinne.
Tagebuch aus dem Gefangnis.
(Fortsetzung.)
Mittags wurde mir eine Graupensuppe gebracht, in der hier
und da Rindfleischfetzen schwammen. Mir grauste allmahlich vor den
Suppen, und ich fragte, wie es denn eigentlich mit meiner Selbst-
bekostigung bestellt sei. Der Aufseher erklarte mir, dass ich das
eher hatte sagen mussen, und dass er mir jetzt nichts holen konne.
So zwang ich also wieder meine Suppe herunter und ass das
klitschige Brot dazu. Aber nachmittags, als ich fast am Ende der
zweiten Schmidschen Erzahlung war, kam ein uniformierter Herr in
meine Zelle, der mir mein Briefpapier nebst Bleistift brachte (nach-
dem kurz vorher schon auf mein energisches Bitten der Warter
zwei Bogen Schreibpapier nebst Tinte und Feder gebracht hatte), und
fragte nach meinen ubrigen Wunschen. Ich hielt den Herrn zuerst
filr einen Oberaufseher, nachdem ich ihn aber mehrfach so be-
titelt hatte, nahm er vor einigen Tagen eine Gelegenheit wahr, um
mich dariiber aufzuklaren, dass er der Inspektor sei und das ganze
Gefangnis unter sich habe. Ich kann sagen, dass ich an diesem
Inspektor hier meinen besten Freund, meine zuverlassigste Sttitze habe.
Der Mann erleichtert mir das Leben, soviel er irgend kann und
— 186 —
hat mir tatsachlich schon soviel geholfen und genutzt, dass ich
ihm aus dieser unangenehmen Zeit ein sehr gutes Andenken bewahren
werde. Zunachst orientierte er mich iiber die Methode, zu der ge-
nehmigten Selbsfbekostigung zu gelangen, indem er mir eine Speise-
karte des Restaurateurs Fahrland iiberbrachte, mit dem die Ge-
fangnisverwaltung das dort Bezeichnete mit angegebenen Preisen
vereinbart habe. Ich solle nur taglich aufschreiben, was ich haben
wolle und morgens den Zettel fur den ganzen Tag abgeben. Zum
Essen erlaubte er mir, taglich zwei Flaschen Bier zu trinken, Charlot-
tenburger Schlossbrau, dessen Qualitat er mir sehr pries. Ich bestellte
noch fur den gleichen Abend ein Schnitzel mit Kompott nebst zwei
Flaschen Bier und filr den nachsten Morgen schwarzen Kaffee mit
zwei geschmierten Brotchen. Dann bat ich den Inspektor inbrtinstig,
mir das Rauchen zu gestatten. Ich hatte dieses Anliegen schon dem
Assessor B. vorgetragen, der hatte mich aber damit an den Arzt
verwiesen, einen Herrn, den ich bis zum heutigen Tage noch nicht
zu Gesicht bekommen habe. Ich setzte dem Inspektor auseinander A
dass ich gewohnt sei, taglich 10, 12 bis 15 schwere Zigarren
zu rauchen, und dass mich die zwei Tage, die ich das Rauchen jetzt
entbehren musste, schon ganz schwermiltig gemacht hatten. In der
Tat glaube ich, dass ziemlich arges Kopfweh und viele sehr qualende
Gedanken, die mich hier bedrlicken, bei hinlanglichem Zigarren-
genuss vermieden werden konnten. Ich bat also, mir von den
neun Zigarren, die ich auf der Reise nach Zurich rauchen wollte,
jeden Tag wenigstens zwei zu bewilligen. Der Inspektor versicherte
mir, dass er mir ohne ausdruckliche Genehmigung keine geben
diirfe, als ich ihm aber begreiflich machte, dass meine Gesund-
heit bei weiterer Nikotinenthaltsamkeit nach meinem Geftihl Schaden
leiden musse, erklarte er endlich, dass er mir zwei Zigarren herauf-
schicken wolle und die Bewilligung dazu nachholen werde. Ich
gestehe, dass ich dem Manne sehr dankbar war und bin.
Nachdem er mich allein gelassen hatte, schrieb ich zuerst auf
das Gefangnispapier, das so geknifft war, dass der Briefbogen gleich-
zeitig das Kuvert darstellte, zwei Briefe: an Landauer und an
Caro, worin ich eine Reihe von Wiinschen liber Massnahmen ausserte,
die mir fui meine Verteidigung wichtig schienen. Vor allem bat ich
Landauer, meinen Artikel „Neue Freunde"), in dem ich iiber
meine Absichten mit den „Vagabunden" berichtete und seine Aus-
einandersetzung iiber die rechtliche Beziehung des Sozialistischen
Bundes zum Vereinsgesetz an Caro und an Bernstein zu schicken,
und Caro bat ich, mir Lektiire zu bc„jrgen. Ob alle Briefe, die ich
von hier absende, ihr Ziel erreichen, weiss ich nicht. Auf eine
') „Sozialist" vom 1. August 1909 (Jahrg. I. Nr. 12).
— 187 —
ganze Fiille von Briefen, die ich schrieb, ist gar keine Antwort ge-
kommen. Von Wohl erhielt ich am dritten November ein Telegramm,
das am ersten abgesandt war und in dem er versprach, er werde
„noch heute" schreiben. Ein Brief von ihm ist aber bis jetzt nicht
in meine Hande gelangt. Ausser diesem Telegramm brachte mir
die Post in der ganzen Zeit meines Aufenthaltes hier nur eine
Postkarte und eine Nummer der „Schaubilhne" . . . Ob nun in
der Regel meine Briefe nicht befordert werden, oder ob die Briefe
an mich nicht abgeliefert werden, entzieht sich meiner Beurteilung.
Vielleicht kommt vieles, was irgend etwas an Wilnschen, Meinun-
gen und dergleichen enthalt, was sich auf meine „Straftat" bezieht,
einfach zu den Gerichtsakten. Dass seit einer vollen Woche kein
Brief an mich geschrieben sein sollte, halte ich fiir ausgeschlossen.
Jedenfalls wirkt diese Unsicherheit im Verkehr mit der Aussenwelt
auf mich ausserst deprimierend.
Fortsetzung folgt.
„M. N. N."
Nordlich von Augsburg wohnen die Preussen, ostlich von Rosen-
heim die Schlawiner. Der von diesen beiden Volkerschaften flan-
kierte Winkel begrenzt den Wirkungsbezirk der „Munchener Neuesten
Nachrichten".
Man konnte meinen: Zeitung ist Zeitung, Schmock ist Schmock,
die „M. N. N." aber sind eine lokale Munchener Angelegenheit,
die 'jenseits von Augsburg und Rosenheim keine Seele interessiert.
Mich dtinkt jedoch die Aufgabe lohnend, einmal an einem Muster-
beispiel aufzuzeigen, welche Jammerlichkeit in den Bergen Lese-
papiers gespeichert ist, aus der der deutsche Burger beim Fruhstuck,
beim Abendbrot und bei der Verdauung seine geistige Nah-
rung zieht.
Um meine Ansicht tiber das Munchener Zentral-Intelligenz-Organ
vorweg in einem Satze zusammenzufassen: Die „Munchener Neue-
sten Nachrichten" schlagen in intellektueller Hinsicht an Dummheit,
in ethischer Hinsicht an Gesinnungslosigkeit unter alien deutschen
Zeitungen jeden Rekord. Diese Meinung spreche ich unter aus-
drilcklicher Wahrung meiner sehr geringschatzigen Beurteilung samt-
licher ubrigen in Mlinchen oder sonstwo erscheinenden Tagesblatter
aus. — Und ich gehe noch weiter und behaupte: Die Kummerlich-
keit und Indolenz der „Munchener Neuesten Nachrichten" tragt als
wesentliches Moment zur Stagnation im Munchener Geistesleben bei.
Vom Ochsen kann man bekanntlich nicht mehr verlangen als
Rindfleisch, von einer liberalen Zeitung also nicht mehr als schwan-
kenden Charakter. Von einer einigermassen intelligenten Redaktion
— 188 —
sollte man aber erwarten dtirfen, dass schneller Wechsel in der
Beurteilung dieser oder jener Angelegenheit durch allmahliche Ueber-
gange wenigstens notdilrftig verdeckt wird. Hat z. B. das „Berliner
Tageblatt" einmal eine Weile in orgiastischer Arbeiterfreundlich-
keit geschwelgt, und es entsteht in irgendeinem Gewerbe ein Konflikt
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, so geschieht die von der
Rilcksicht auf die kapitalkraftigen Abonnenten gebotene Schwenkung
so vorsichtig und geschickt, dass sparer an der Borse kein Mensch
mehr Weiss, wie eng das gesinnungstuchtige Blatt noch vor kurzem
den begehrlichen Massen verbilndet war. Auf der Redaktion der
„M. N. N." aber wird mit der rechten Hand schon ein konser-
vativer Artikel geschrieben, wenn die linke noch von roter Tinte klebt.
Heute alldeutsch, morgen kosmopolitisch; heute Preussen in
Deutschland voran, morgen bayerisch-partikularistisch; heute anglo-
phil, morgen Krieg mit England; heute droht der temperamentvolle
Dr. Hirth mit der Revision der monarchischen Gefuhle, morgen wird
gedampft, besanftigt, gebremst und eine Devotion vor der Dynastie
an den Tag gelegt, dass sich einem der Magen umdreht. Halt
irgend ein Freidenker und Hornachaffer in Mlinchen atheistische
Sonntagspredigten, so ist man stramm gottlos; spricht im Kindlkeller
ein abgesetzter protest-protestantischer Pfarrer, so beschimpft man
mit ihm vom christlichen Standpunkt her die protestantische Kirche;
geht's gegen den Katholizismus, wird der evangelische Glaube als einzig
seligmachend empfohlen, und am Fronleichnamstag trieft man ilber
von katholischer Frommigkeit. Nicht anders wird's mit der Sitt-
lichkeit gehalten: wo sich Autoritaten fur freie Kunstiibungen ein-
setzen, kann es gar nicht nackt genug hergehen, tagt aber gerade
ein Kongress zur Bekampfung von „Schmutz und Schund in Wort
und Bild", dann verdreht man die Augen und das Kausen vollfilhrt
seine moralischen Grotesktanze unter der Cimbelbegleitung liberaler
Tugendwachter. Vermutlich angstigt man sich vor der Moglichkeit,
der Kongress konnte bei seiner Jagd nach dem „Schund in Wort"
einer Nummer der „M. N. N." habhaft werden. Dass die moralische
Entrtistung tiber Prostitution und Kuppelei im redaktionellen Teil des
Blattes mit gewissen Anzeigen im Inseratenteil oft in amtisantem
Gegensatz steht, braucht nicht aufzuregen. Das ist fast uberall
so, und in Wien gibt es zum Nachweis solcher Diskrepanzen seit vier-
zehn Jahren ein Spezialorgan.
Am wiistesten sieht es im Feuilleton aus. Die Langweiligkeit
der Abhandlungen in alien Ehren. Das Publikum soil wohl darauf
aufmerksam gemacht werden, dass die Essays lediglich dem Zweck
der Raumausfullung zu genugen haben. Dass die Romane unter
dem Strich minderer Durchschnitt sind, mag auch hingehen. Gute
Romane, noch dazu Erstdrucke, kosten viel Geld, und das spart
— 189 —
man am besten da, wo Kulturbedtirfnisse berlicksichtigt werden
mlissen. Aber man iiberwinde sich einmal und sehe sich an, in
welcher Weise die Kunststadt Munchen von ihrer grossten Zeitung
iiber die aktuellen Vorgange im kunstlerischen Leben orientiert wird.
Den einzelnen Kritikern soil gar kein Vorwurf gemacht werden.
Man hat oft den Eindruck, als ob sie es viel besser wussten, als sie
es aussprechen durfen. In den Berichten liber Theater, Musik und
bildende Kttnste werden Eiertanze aufgefiihrt, die jeden Variete
Jongleur beschamen konnen. Niemals ein freies, kraftiges Wort
fur etwas Neues, Unerhortes, Besonderes, niemals ein mannliches
Eintreten filr einen Verkannten, niemals eine Derbheit gegen ein
iiberschatztes Werk gegen einen Chlarlatan und Bluffer. Was der
Geschmack der Masse gebilligt hat, ist sakrosankt, was er ablehnt,
ist Tabu. Kultiviertere Nerven empfangen aus den Ausschleimungen
solcher Kritiken nichts als Ekel und Wut.
Haufig liest man in den Zeitungen die geschwollene Selbst-
anpreisung, dass aus ihren Urteilen der Geschmack der Menge ge-
lautert und gebildet werde. Das Gegenteil trifft zu. Die Meinung der
Kasehandler wird aufgefangen, mit einer gebildeten Sauce Ubergossen
und splchen, die lernen mochten, die unsicher sind in ihren kunstleri-
schen Urteilen, als letzte Wahrheit serviert.
Dass es aber bei den „Milnchener Neuesten Nachrichten" Ab-
sicht ist, nur dem untergeordneten Geschmack zu schmeicheln, daftir
kann der Beweis erbracht werden. Ueber das, was auf dem Gebiete
der Kunst in Munchen vorgeht, kann sich hier jemand, der in die
Berichte seines Leiborgans Zweifel setzt, zur Not auch selbst unter-
richten und dann lachelnd gestehen, dass der Kritiker, den er
nachprilfen wollte, aufgesessen ist oder aber seine Aufgabe sehr
oberflachlich genommen hat. Man wiinscht aber auch zu wissen A
wie die Dinge in Berlin stehen.
Der Berliner Korrespondent der „Munchener Neuesten Nach-
richten" heisst Richard Nordhausen. Der Herr braucht hier kaum
charakterisiert zu werden. Er ist Redakteur einer der reaktio-
narsten Zeitungen, die je auf dem Sumpfe deutscher Volksaufklarung
erbliiht sind. Das weiss man in der Sendlingerstrasse genau so gut
wie ich es weiss. Herr Nordhausen (auch unter dem Namen
Caliban peinlich bekannt), ist preussisch-konservativ, antisemitisch und
jedem Fortschritt, jeder Entwicklung im Grunde seines Herzens
abgeneigt. Dieser Herr versorgt Munchen mit Mitteilungen iiber
das Berliner Kulturleben, wobei er konsequent das Gute, Forderliche,
Neue beschimpft und in den Dreck zieht, die iiberlebte Mittelmassig-
keit aber streichelt und preist. Aber er schreibt ja nur furs Feuille-
ton, er ist ja nur Plauderer unterm Strich: die Manner, deren kraftige
Konstitution die Verantwortung fiir die „M. N. N." aushalt, scheinen
— 190 —
nicht zu wissen, dass alle Gemeinschaft unter den Menschen in ihren
ausseren Formungen abhangig ist von den kulturellen Grundlagen
ihrer Gesittung. Wird diese Gesittung — unter Hinzuziehung des
Herrn Nordhausen — kiinstlich gebogen, so kann eine liberale Gestal-
tung (das maltratierte Wort „liberal" hat ursprunglich eine sehr
gute Bedeutung), der offentlichen Dinge nicht erwartet werden. —
Den „Munchener Neuesten Nachrichten" kann also bloss der Rat
erteilt werden, ihren Liberalismus entweder oder sich selbst aufzu-
geben (von ihrem „Geiste" mochte ich doch lieber nicht reden). —
Dass Munchen ohne sein Intelligenzblatt ohne Nachrichten liber die
Vorgange bei den Preussen und Schlawinern bliebe, ware nicht zu
befilrchten. Auch heute schon hat man die Mitteilungen, die die
„M. N. N." im Morgenblatt bringen, meistens am Abend vorher
bereits in einer Berliner Zeitung vom vergangenen Tage gelesen.
Daher ja der Name: „Neueste Nachrichten".
Bemerkungen.
Die Stimmrechts-Amazonen. Es scheint am Platze, dem torich-
ten Hohn gegenilber, mit dem allgemein die Bemlihungen der eng-
lischen Wahlrechtskampferinnen betrachtet werden, das Streben dieser
Frauen und die Versuche, ihr Ziel zu erreichen, in respektvoller
Form zu kritisieren. Schon dass wirklich von Kampferinnen gesprochen
werden darf, und dass ehrliche Leidenschaft ihr fur Frauen sehr
ungewohnliches Vorgehen leitet, zwingt zu Achtung und Gruss.
Zehntausende am Leben der Gesamtheit beteiligte Frauen sind zu der
Erkenntnis gekommen, dass sie neben den Pflichten, die ihnen die
Gesellschaft auferlegt, auch Rechte zu beanspruchen haben, und da
ihre Pflichten gegen den Staat die gleichen sind wie die der Manner,
so verlangen sie auch die gleichen Rechte, zu allernachst das Recht,
an der Legislative aktiv teilzunehmen. Ihre Schriften, Petitionen,
Resolutionen hat man ignoriert, man hat geglaubt, ilber die Wlinsche
der Frauen mit einem Achselzucken hinweggehen zu dilrfen. Dieses
Verhalten hat die natlirliche Antwort provoziert: fand die Diskussion
kein Gehor, so musste man die Ohren der Manner durch Larm
willig machen. Man musste die Bewegung inszenieren, die die
ganze Oeffentlichkeit als Zeugin reklamierte, um der Missachtung
der massgebenden Manner wirksam zu begegnen. Wenn eine so
grosse Zahl Frauen, wie sich in London an den Strassendemonstra-
tionen zur Erringung des Frauenwahlrechts beteiligt, den Entschluss
fassen kann, in rebellischer Haltung durch die Strassen zu Ziehen,
Fenster einzuwerfen und die kleinen Fauste drohend und kampf-
bereit gegen die von starken Mannermuskeln bediente Staatsgewalt
zu erheben, dann gehort schon die ganze stupide Arroganz einer auf
dem Vorurteil von der Ueberlegenheit des Mannes aufgebauten
Kultur dazu, um den Ernst des Wollens dieser Frauen zu bezweifeln.
Es ist beschamend fur das sittliche Niveau der Manner, dass
ihnen erst gesagt werden muss, dass es keine Pose sein kann, wenn
sich Frauen scharenweise unter den Dachern ihrer Gatten und Kinder
— 191 —
weg um einer Idee willen ins Gefangnis setzen lassen.
Was die Forderung der weiblichen Demonstranten selbst an-
geht, so wissen meine Leser, wie weit ich davon entfernt bin, die
Einflihrung des Frauenwahlrechts filr einen kulturellen Fortschritt
zu halten. Dass die Frauen nicht wahlen diirfen, ist gewiss albern
und ungerecht, da nun einmal der Parlamentarismus als eine frei-
heitliche Errungenschaft gilt. Aber man mochte wiinschen, dass so
entschlossene Vertreterinnen ihres Geschlechts sich fur wichtigere
Dinge aufopferten, als filr Mannerrechte, die keine Rechte sind
Die Verweigerung der politischen Mitwirkung ist unter den Miss-
handlungen, denen die Frauen in alien Landern ausgesetzt sind,
die gleichgultigste. Ist es ihnen um freieren Atem zu tun, so sollten
sie ihre Anstrengungen zunachst auf eine wiirdigere Einschatzung
ihrer personlichen Lebensbedlirfnisse richten. Solange das private
Tun des Weibes der Kontrolle der Manner untersteht, solange die
geschlechtliche Unerfahrenheit des Madchens von der Gesellschaft
als Wertmass der Tugend Geltung hat, solange das sexuelle Leben
der Frauen ausserhalb der staatlich gestempelten Ehe als verachtlich
und unsittlich angesehen wird, solange wird das weibliche Geschlecht
in der Tat dem mannlichen untenan sein, und solange sollten die
Frauen nicht nach ausserlichen Gleichberechtigungs-Titeln greifen.
Eine Frau, die sich schamt, Mutter illegitimer Kinder zu werden,
hat keinen Anspruch auf Aemter, fur die Energie, Selbstandigkeit
und eigene Verantwortung geforden werden. Mogen sich die Frauen
zunachst einmal von den Vorurteilen einer prliden Moral befreien,
mogen sie in ihren personlichen EntSchliessungen den eigenen Willen
statt des Urteils der Mitmenschen bestimmen lassen, dann werden
sie sich bei den Mannern schnell genug die Achtung verschafft
haben, die auch ihren politischen Wiinschen den erforderlichen
Nachdruck geben wird, — zumal in England.
Die Geheimnisse von Czenstochau. Die Berichte liber die
Vorgange im Kloster von Czenstochau lesen sich wie eine roman-
tische Erzahlung aus der Renaissance-Zeit: Kirchenraub, sexuelle
Orgien, Ehebruch, Mord — alles mit abenteuerlichen Finessen garniert,
alles von den patentierten Hutern christlicher Demut und Frommig-
keit exekutiert. Bruder Macoch wird ja wohl von den sibirischen
Bergwerken nicht zurilckkehren, und der urns Heil der Kirche
besorgten Menschheit bleibt die Zuversicht, dass soviel klosterliche
Niedertracht nie wieder an der Rampe des offentlichen Theaters
erscheinen wird. Ueberaus beruhigend muss auch die Versicherung
des Anklagevertreters wirken, der zu Beginn seines Plaidoyers die
Erklarung abgab, die Mutter Gottes von Czenstochau werde trotz der
bedauerlichen Entgleisungen ihrer priesterlichen Anbeter ihre wunder-
tatige Wirksamkeit keineswegs einstellen. Der ermordete Waclof drehte
sich bei diesen Worten des Staatsanwalts im Sofa um.
Ein Opfer seines Berufs. In Berlin wurde ein Herr arretiert,
der sich bei jiingeren Strassenpassanten mannlichen Geschlechts da-
durch unbeliebt gemacht hatte, dass er ihnen, ohne seinerseits sinn-
liche Begierden zu erregen, zartliche Antrage stellte. Et legitimierte
sich der Polizei als Pastor a. D. und ist identisch mit einem eifrigen
— 192 —
im Evangelischen Bunde an bevorzugter Stelle tatigen Bekampfer
der Unsittlichkeit. Nun wird er sich vor dem Strafgericht verant-
worten mttssen. Es kann ja aber auch nicht ausbleiben, dass die
standige Sorge um die Moral der lieben Nachsten und mithin die
unausgesetzte Beschaftigung mit sexuellen Dingen die Geschlechts-
nerven scheusslich strapazieren muss, und so strauchelt denn der
sittliche Mensch viel leichter als der unsittliche. Dass aber die
jungen Leute dem Herrn Pastor samt und sonders einen Korb
gegeben haben, muss das Missgeschick unseres Tugendpredigers be-
sonders beklagenswert erscheinen lassen. Hatte er wenigstens etwas
von seinen Bemilhungen gehabt !
Bittingers Fehltritt. In allem muss es die Munchener Polizei
der Berliner nachtun. Schutzmanns-Helmspitzen, Zensur-Verbote,
Schliessung der Bordelle, Anarchistenprozesse — eins nach dem
andern hat man den preussischen Brudern abgekuckt, und nach-
dem Herr v. Jagow eine moralische Affaire gehabt hat, durfte
naturlich in Munchen ein „Fall Bittinger" nicht ausbleiben. Eine
ungeschickte Hand hat die Munchener Polizei in all ihren Unterneh-
mungen gezeigt, und so ist auch der bisherige Leiter der Kausen-
Filiale in der Weinstrasse nur recht bescheiden fehlgetreten. Um
sich fiber sein Pech amiisieren zu konnen, muss man zunachst schon
den Ekel gegen die Sensationskulis hinunterschlucken, die nach drei
Jahren die von der Polizeihand getatschelten Madchenhoschen ins
Licht gehangt haben. Man wird von mir schwerlich erwarten, dass
ich mich in sittlichen Entrustungskrampfen winden sollte, weil der
Chef der Munchener Sittenpolizei in der Sektlaune beim Bal pare einer
jungen Dame an die Beine gelangt hat. Ich werde mich hiiten,
eine Handlung zu verurteilen, zu der ich jederzeit selbst kapabel
ware. Immerhin mochte ich aber eine gelinde Schadenfreude nicht
verhehlen, die mir von der Betrachtung erweckt wird, dass die
— an sich recht schabige — offentliche Breitwalzung einer solchen
Angelegenheit ausgerechnet einen Mann angeht, dem Gott das Amt
gab, den Lebenswandel seiner Mitmenschen zu uberwachen, einen
Mann obendrein, der sich um mich personlich sehr ausgiebig bemiiht
hat. Er hat mir nieine Koffer durchwiihlen lassen, er hat mich
eingesperrt, und er hat bei seiner verdienstvollen Vorarbeit zur
Inszenierung des Sollerprozesses den redlichsten Eifer gezeigt, mir
in meiner Verbindung mit den Munchener Strizzi und Lustknaben
(die allesamt keine Florentiner oder Capueser sind) innigere als
nur kameradschaftliche Beziehungen nachzuweisen. Nun wissen wir
also, dass auch in dieser keuschen Brust menschliche Geflihle
wohnen. Ich meine, man kann iiber die Tatsache ruhig zur Tages-
ordnung ubergehen, dass der derzeitige Stuttgarter Polizeidirektor
einmal seiner Tischnachbarin unter die Rocke gegriffen hat, zumal
er ja, nach seiner eigenen Gerichtsaussage, nichts dabei fand.
Verantwortlich fiir Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Munchen, Akademiestrasse 9.
Druck von Max Steinebach, Munchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaftstelle: Munchen, Baaderstr. la. Tel. 2355
KAIN, Heft 10. Inhalt: Der Humbug der Wahlen. —
Oaha. — Die Speisung der Armen. — Der Lustmorder.
KAIN, Heft 11. Inhalt: Fasching. — Tagebuch aus dem
Gefangnis. — Miinchner Theater. — Georg Heym. — Vom
politischen Kasperltheater. Abel. Miinchen-Schilda.
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„KAIN", Jahrgang 1911/12. (Kain-VerlagMiinchen, Baader-
strasse la.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark.
Betrag wird gleichzeitig eingesandt.*)
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fc ) Nicht gewtlnschtes bitte zu durchstreichen.
Jahrgang II.
No. 1.
April 1912.
KMN
Zeif/chriftfur
Men/chlichfy
HerauJcjeber;
(rich Huh fm
In halt: Anarchistisches Bekenntnis. — Miinchner Theater. —
Intrlguen. — Bemerkungen. — Karl May. — Die Pleite im
Ruhrrevier. — Mottl und die „Munchener Post". — Die Tugend
hat gesiegt.
Kain-Verlag Munchen.
30 Pfg.
Kain-Kalender
fur das Jahr 1912
Herausgeber: ERICH MUHSAM
Samtl. Beitrage sind vom Herausgeber :: Preis 1 Mark
Zu beziehen durch jede Buchhandlung und den
KAIN-VERLAG, MUNCHEN, Baaderstrasse 1 a.
Kulturgemeinschaft Freie Generation.
Soeben erschienen:
<■#* .Tahrbuch der Freien *#*
= Generation fur 1912 ^^
Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus —
Sozialismus.
Aus dem reichhaltigen Inhalt des 128 Seiten umfassen-
den, illustrierten Bandes heben wir hervor:
Peter Krapotkin: lieber Leo Tolstoi. — Luipi: Die Grundlagen des freien
Sozialismus. — Pierre Ramus: Aus den Folterkammern des Staates. —
Aufruf der Internat Antimilitarischen Assoziation: An die Rekruten Frank-
reichs ! Fritz Brupbacher: Die Aufgaben des Anarchismus im demokratischen
Staate. — Otto Karmin: Sylvain Marechal und die Verschworung der
Gleichen. — Alexander Berkmann: Der Fehlschlag des Kompromisses
zwischen ideal und Wirklichkeit — Andreas Kleinlein: Der Syndikalismus
in Deutschland. — Domele F. Nieuwenhuis Aus dem Lehen eines revo-
oo lutionaren Kampfers etc. etc. oo
Einzelexemplar (inkl. Porto) Mk. 1. — , bei Bezug von 3 Exempl. fur
insges. Mk. 2.25.
Samtliche Geldsendungen richte man an :
Rudolf Grossmann, Klostemeuburg (bei Wien)
Kierlingerstr. 183, Nd.-Oesterreich.
Jahrgang II Miinchen,
No. 1. April 1912.
KAIN
Zeitschrift fiir Menschlichkeit.
Herausgeber: Erich Miihsam.
■ ■MHiilim.li.Mi<*I^J.M..MtM-M.M,ifcXi l .li.^ ^
„ K A I N " erscheint im Monat einmal. Der Preis betragt
fiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne-
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag",
Miinchen, Baaderstrasse la.
Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber.
Mitarbeiter dankend verbeten.
'-^Ti'.Gim-Tza'iinj-jr^r.rz pTanm iEms mrn-rxrE^^rcsm^mmr-rrrTTTrTiTTrn-rrTTJirr-ri 5x j. n jiu i
Anarchistisches Bekenntnis.
En rundes Jahr ist abgelaufen, seit ich zum ersten
Male die Freude hatte, mit dieser Bekenntnis-Zeitschrift
vor die Oeffentlichkeit zu treten. Der „Kain" hat sich seit-
dem gute Freunde geworben, zwar noch nicht genug,
um aus eigener Kraft leben zu konnet aber doch so
viele, dass begriindete Aussicht besteht, ihn in kurzer Zeit
ohne weitere personliche Opfer wirken zu sehen. Es ent-
spricht nicht meinem Geschmack, das Schallrohr an den
Mund zu setzen und mit marktschreierischer Anpreisung
der eigenen Leistung neue Abonnenten anzulocken. Ich
muss es denen, die an meiner Art, iiber die Dinge der
Welt zu urteilen, Gefallen gefunden haben, iiberlassen,
ihre Lektiire weiterzuempfehlen, ich personlich beschranke
mich auf das Versprechen, auch den neuen Jahrgang und
alle, die ihm hoffentlich folgen werden, in der Ehrlichkeit
und in dem Bemiihen um Gerechtigkeit und menschlichen
Anstand entstehen zu lassen, die dem „Kain" bisher niitz-
lich gewesen sind.
Ueberschaue ich heute das sittliche Resultat der bisher
im „Kain" akkumulierten Arbeit, so glaube ich mich zu
einem Erfolge froh begliickwunschen zu diirfen: ich, habe
bewirkt, dass eine betrachtliche Anzahl vor sich selbst
aufrichtiger Menschen zu einer Revision ihrer Ansichten
iiber anarchistische Tendenzen gelangt ist. Sowenig mir
prinzipiell an einer Festlegung meiner Sinnesart in einen
programmatischen Begriff liegt, so wichtig ist mir doch
das Bekenntnis grade zum Anarchismus, weil dieses Wort
von intriganten Politikern geflissentlich in seiner Bedeu-
tung verwirrt wurde und, wenigstens in Deutschland, im
Urteil der Meisten als die verbrecherische Konfession
zugelloser Naturen aufgefasst wird. Grade jetzt aber ist
mir die Betonung meiner Eigenschaft als Anarchist umso
wichtiger, als die Schiisse aus dem Revolver des Italieners
Dalba den Giftmischern neuen Anlass gegeben haben,
diesen Aberglauben zu starken.
Das Wort Anarchismus bezeichnet ethymologisch et-
was Negatives, die Abwesenheit von Zwang und Knech-
tung, genau wie das Wort Freiheit eine Negation bedeutet,
da es erst mit Beziehung auf die Frage: wo von? einen
Sinn erhalt. Aber ebenso wie Freiheit ist Anarchismus
ein Begriff voll positiver jauchzender Bejahung. Derm
der Gedanke an die Erlosung von Gewalt, Gesetz und Staat
kann nur entstehen in der Verbindung mit einer grossen
heiligen Sehnsucht nach neuen schonen Lebensformen.
Diese Sehnsucht ist es, die um Freiheit ringende
Menschen zu anarchistischen Verbindungen vereinigt, der
Glaube an die Moglichkeit einer Wandlung und der Wille,
die neue Gesellschaft vorzubereiten. Bestimmte Mittel zur
Aenderung oder Beseitigung waltender Zustande konnen
wohl unter Anarchisten verabredet werden, wenn aber
eine sozialethische Idee mit einer von einzelnen ihrer
Anhanger gelegentlich angewandten Kampfmethode iden-
tirlziert wird, so kann man, um hoflich zu bleiben, eine
solche Dummheit nur mit bosartiger Absicht entschuldi-
gen. Das Christentum ist nicht falsch, weil zu seiner Eta-
blierung unendhch viel Blut vergossen wurde, aber die
Christen, die um ihrer Ueberzeugung willen mordeten,
handelten falsch, weil ihr Tun unchristlich war. Das-
selbe gilt fur den Anarchismus: wer in der Meinung,
damit seiner Sache dienen zu konnen, die Waffe gegen
einen widerstrebenden Nebenmenschen erhebt, verletzt die
Grundidee des Anarchismus, die Gewaltlosigkeit, und han-
delt also unanarchistisch. Deshalb lehne ich den politischen
Mord als anarchistisches Kampfmittel ab. Mit diesem Ar-
gument ware ich auch dem jungen Dalba begegnet, hatte
ich Einfluss auf seine Entschliessungen gehabt.
Leider konnte ich mit dem tapferen jungen Italiener
nicht polemisieren, — und so will ich mien jetzt, da er
getan hat, was sein Temperament gebot, schiitzend vor
inn stellen und inn verteidigen gegen das journalistische
Geschmeiss, das inn begeifert. Hande weg! Diesen Mann
reklamiere ich als meinen Kameraden!
Wohl, was Dalba tat, widersprach dem anarchistischen
Grundprinzip. Aber es geschah aus reinem begeistertem
Herzen, und fem liegt es mir wie jedem Anarchisten,
solchem Kampfer den kameradschaftlichen Gruss zu ver-
weigern. Kaiser Karl, den man den Grossen nennt, mor-
dete Tausende, um dem Christentum die Bahn zu ebnen.
Sein Kampf war unchristlich, da die christliche Lehre
den Mord verbietet. Aber kein Christ wird dem Bekeh-
rungs-Kaiser die Eigenschaft als Christ bestreiten, der aus
reinem uberzeugtem Herzen tat, was er seinem Glauben
zu schulden meinte. Damals fuhrte man namlich noch
Kriege um sittlicher Ideen willen, — die Christen von
heute morden fur realere Nutzlichkeiten.
In Tripolis stehen viele Tausende italienischer Man-
ner unter Waffen. Sie haben die Aufgabe, das Land den
Tiirken, die es bisher ausbeuteten, wegzunehmen, und
die Einwohner den Italienern horig zu machen. Die mit
diesem Auftrage die Heimstatten der Araber verwiisten,
ungezahlte fremde Menschen toten, ohne Weiber, Greise
und Kinder der Araber zu schonen, und die dabei ihr
eigenes Leben den Kugeln der Feinde aussetzen, haben
von ihrem unsinnigen Tun selbst nicht den kleinsten Nut-
zen. Sie entziehen ihre Arbeitskraft ihren Familien und
ihrem Volke, nur um denen, die schon iiber ihre Arbeits-
leistung verfugen, neue Ausbeutungsmoglichkeiten zu
schaffen. Viele von ihnen werden nicht heimkehren, viele
von diesen kraftigsten Mannern, iiber die ItaUen verfiigt,
Uegen schon seit Monaten in tripolitanischer Erde gebettet,
viele werden als Kriippel und arbeitsunfahig die Heimat
wiedersehen. — Aber obgleich sie ihr Leben jeden Tag
fur das Vaterland der Reichen bereit halten miissen, ob-
gleich ihnen zugemutet wird, gegen fremde Menschen
barbarisch zu wiiten, sind sie marschiert. Sie mussten
marschieren, und wer sich geweigert hatte, ware fiisiliert
worden. Ihr Konig hat die Entscheidung iiber Krieg oder
Frieden, — er hat den Krieg bestimmt. Die Soldaten
miissen gehorchen.
Man kann sagen, Victor Emanuel habe den Krieg
nicht gewollt, die Verhaltnisse, das Interesse seines Landes,
wie er es versteht, haben inn gedrangt, er hatte seinen
Thron gefahrdet, wenn er sich nicht fur den Krieg ent-
schieden hatte. Das ist alles moglich. Es ist auch moglich,
dass Victor Emanuel ein guter, liebenswiirdiger, gefiihl-
voller Mensch ist. Aber er ist Konig, er ist Reprasentant
alles dessen, was in seinem Lande von Staatswegen ge-
schieht. Er tragt — er allein — die letzte Verantwortung
flir den grauenvollen tripolitanischen Krieg. Wollte er
sich dieser Verantwortung entziehen, so hatte er abdanken
konnen. Er hat in seinem Namen den Krieg sanktio-
niert, in seinem, und nur in seinem Namen fliesst das Blut
der Araber und der Italiener.
Ganz ItaUen scheint seit dem Ausbruch des Krieges
in einen wahren Blutrausch geraten zu sein. Jeder kleine
lacherliche Scheinsieg, der iiber die Tiirken errungen wird,
lost orgiastischen Jubel aus, der Konig, seine Generale
und Minister und die italienische Armee sind popularer
als je. — Nur in den Unterschichten des Volkes gart es.
Die, die im Elend leben, weil ihnen die Manner, die
Sonne, die Briider, die Freunde im Feuer stehen, die
wissen nichts von Kriegsbegeisterung, die kennen nur
ein Gefiihl: Hass und Wut. Einer aber, ein junger fanati-
scher Mensch, den sein Freiheitswille ins anarchistische
Lager getrieben hat und der dort die Zusammenhange der
Dinge erfuhr, ladt seinen Revolver, stellt sich unter den
Haufen, der dem Konige zujubelt, und schiesst. Schiesst,
obwohl er weiss, dass es ihn das Leben kostet, obwohl
er weiss, dass seine Tat von denen, die sie ansehen,
nicht verstanden wird, dass das erste Echo seiner Schiisse
Abscheu und Rachedurst sein wird. Schiesst, weil sein
Zorn und seine Leidenschaft sich entladen miissen, komme,
was kommen mag. Schiesst einmal, zweimal, dreimal auf
den Konig, der ohne Rechenschaft zum Kriege gerufen
hat, in des sen Namen Dalbas Landsleute schiessen und
erschossen werden. Schiesst, bis man ihn packt, ihm die
Waffe abnimmt, ihn schlagt und in den Kerker wirft, aus
dem er nicht lebend wieder ans Licht kommen wird.
Feiger Morder! Fluchwiirdiges Verbrechen! gellt es
durch die Zeitungen. Feige? Ich bewundere wahrlich
den Mut des Gesindels, das hinterm sichem Pult die
selbstmorderische Tat eines Begeisterten feige zu nennen
wagt. Fluchwiirdig? Ich nehme die Schmockphrase auf,
saubere das Wort von seiner journalistischen Klebrigkeit
und wende es gegen die, die es stereotyp und stumpsinnig
bei jedem Attentat bemiihen.
Fluchwiirdig ist die Oberflachlichkeit der Zeitungs-
schmierer, die alles Ernste, LeidenschaftUche, Feierliche
in ihre alberne Perspektive zerren, um es verkleinern
und abplatten zu konnen. Fluchwiirdig ist ihre Niichtern-
heit, die alles Begeisterte an Zweckmassigkeiten wagt.
Fluchwiirdig ist ihre Verlogenheit, die alles Wahrhafte und
Aufrichtige mit scheelen Blicken beaugt, die jede ehrliche
Gesinnung verdachtigt und alles Mutige und Starke ver-
hohnt und lastert. Dreimal fluchwiirdig aber ist die Sinne
kalte, die sich iiberlegen diinkt, weil sie nicht versteht,
was heisse Herzen wollen.
Die sozialdemokratischen Blatter haben, soweit ich
sie kontrollieren konnte, in ihrer Beurteilung des Dalba-
schen Anschlags den gehassigen Ton vermieden. Sie haben
sich auf die Feststellung beschrankt, dass ihre Partei indi-
viduahstische Gewaltakte grundsatzlich ablehnt, weil sie
sich davon keinen Vorteil fiir freiheithche Ziele verspreche.
Ich kann dies Argument nicht anerkennen. Ich bin iiber-
zeugt, dass, rein praktisch gewertet, schon manches Atten-
tat, mancher politische Mord in einem Grade propagan-
distisch gewirkt hat, dass revolutionare Triebe eines Vol-
kes dadurch geweckt und freiheithche Erhebungen be-
schleunigt wurden: ich erinnere nur an Lissabon, wo die
Verschworung Weniger, die den Konig Carlos beseitigten,
die Revolution und die Umgestaltung der Staatsordnung
zur Folge hatten. — Aber ich wehre mien dagegen, dass
taktische Momente das Verhalten der Menschen iiber-
haupt bestimmen A sollten. Mord ist Mord. Ich lehne dieses
Kampfmittel ab, gleichviel wer der Morder, wer das Opfer
ist. Das hindert mich nicht, im einzelnen Falle mit dem
zu sympathisieren, der solche furchtbare Tat auf sich
nimmt, ihn vor aller Welt meinen Genossen zu nennen,
und selbst mich zu freuen, wenn sein Vorhaben gelingt
und sein Blut nicht nutzlos der Rache der Feinde anheim-
fallt. Raten wiirde ich niemals zu einem Gewaltakt — es
sei derm wahrend einer Revolution — , im Gegenteil:
vemehmlich und eindringlich wamen wiirde ich jeden,
der ihn beschlosse. Die geschehene unabanderliche Tat
aber beurteile ich nicht nach ihrem Erfolg, sondern nach
dem Antrieb des Taters. Wer aus eigenem Entschluss,
von unwiderstehlichem Eifer getrieben, unter Aufopferung
des eigenen Lebens die Waffe gegen den, den er schuldig
sieht, erhoben hat, der tragt allein die Verantwortung fur
sein Tun, und es steht den andern, die untatig waren, iibel
an, ihm nachtraglich Riigen zu erteilen. Ein Kamerad,
der um seines, um meines Ideals willen stirbt — ich
entblosse den Kopf.
Natiirlich konnte man in den Zeitungen auch dieses
Mai wieder die Forderung nach internationalen Anar-
chistengesetzen finden, und natiirlich wurde diese For-
derung am lautesten in deutschen Blattern gestellt Be-
griindet wird das Verlangen immer wieder mit der kind-
lichen Einbildung, Anarchisten seien Leute, die in jeder
Hosentasche eine Bombe und in jeder Westentasche einem
Revolver tragen und jeden Moment ihres Lebens darauf
lauern, warm sie diese Werkzeuge in morderische Tatigkeit
setzen konnen. Seit es bei mir und einigen anderen Anar-
chisten evident geworden ist, dass wir gewohnlich nicht
mit solchen Utensilien ausgestattet sind und sogar bis zu
einem gewissen Grade anstandige Motive haben fur unsere
Tendenzen, hat man zur Kennzeichnung unserer ethischen
Verblodung fur uns die Bezeichnung „Edel-Anarchisten"
erfunden. Den Kafferp gegeniiber, die da glauben, mir
einen Gefallen zu tun, wenn sie mich mit einer schmocki-
gen Wendung in Gegensatz zu meinen Genossen setzen,
mochte ich folgendes bemerken: Ich bin Anarchist ohne
Einschrankung, d. h. einer, der in der Einrichtung des
Staats mit alien seinen Zwangs- und Gewaltvollmachten
das Grundiibel des menschlichen Zusammenlebens erblickt
Ich fiihle mich als Anarchist solidarisch mit alien, die
derselben Ueberzeugung leben, und die, je nach Tempera-
ment und Veranlagung, fur diese Ueberzeugung mit ihrer
Person eintreten, also auch mit denen, die geglaubt haben,
mit Dynamit der anarchistischen Sache dienen zu konnen.
Ich verbitte mir jeden Versuch mich von der Gemeinschaft
dieser Idealisten abzusondern. Dass ich — aus ahnlichen
Griinden wie der Anarchist Tolstoj — die aggressive
Gewalt im Prinzip verwerfe, berechtigt niemanden, meinen
Charakter als Anarchisten in irgend einer Form anzu-
zweifeln, umsoweniger als meine Ablehnung der Gewalt
engstens in meiner anarchistischen Gesinnung begriindet
ist und von der grossen Mehrheit meiner anarchistischen
Genossen durchaus gutgeheissen wird.
Wie soil so ein internationales Anarchisten-Gesetz
wohl aussehen? Will man jeden, der bestimmte philo-
sophische und soziale Tendenzen verfolgt, unter einen
Ausnahmezustand bringen? Oder sollen sich die geplanten
Rigorositaten auf solche Anarchisten beschranken, die nichlt
den Frieden bringen sondem das Schwert? Woran aber
will man die Terroristen von den Pazifisten unterscheiden ?
— Und wenn jemand aus andern als anarchistischen Mo-
tiven einen Potentaten umbringt? Kommt er dann mit
unters Anarchistengesetz? Oder sollen sich die Verfugun-
gen nur gegen Ansichten richten, nicht aber gegen
Handlungen? Es scheint ja nicht allgemein bekannt zu
sein, dass der Terrorismus keineswegs eine anarchisti-
sche Spezialitat ist. AUe Parteien, am oftesten Konser-
vative und Klerikale haben das Mittel des politischen
Mordes zu alien Zeiten und in alien Landern ausgiebig
anzuwenden gewusst. Die Konservativen und Klerikalen
unserer Zeit aber haben vergessen, dass das Kampfinittel
unterdriickter Minderheiten noch alleweil die Gewalt war.
Wir Anarchisten haben von Ausnahmegesetzen sehr
wenig zu fiirchten. Es ist ein weitverbreiteter Aberglaube,
dass man lebensstarken Ideeen mit Polizeichikanen schaden
konne. Die Sozialdemokratie in Deutschland dankte ihr
Erstarken wesenthch dem SoziaUstengesetz, ihre Versump-
fung und Verflachung dagegen ist auf ihre sich iiberall
vollziehende Einordnung in den Staatsbetrieb zuruckzufuh-
ren. Deutschland ist das Land, in dem Gesinnung
achtet. Seit die Sozialdemokraten ihre sozialistische Ge-
sinnung preisgegeben haben, werden sie als gleichwertige
Menschen in alien Burger schichten anerkannt Der Anar-
chist dagegen, der an den Institutionen der Gesellschaft
eine Kritik ubt, die die Bequemlichkeit des selbstzufrie-
denen Seins gefahrdet, wird gesellschaftlich und wirt-
schaftlich an die Wand gedriickt. In Frankreich ist es
anders. Anatole France verficht anarchistische Grundsatze,
Octave Mirbeau war Begriinder anarchistisch-agitatorischer
Zeitschriften; dort lasst man jede Meinung gelten, die
von ehrlichen Mannern ausgesprochen wird. Und Frank-
reich kennt den anarchistischen Terror wie kein anderes
Land. Die Deutschen aber, die seit Reinsdorffs Tod niemals
durch anarchistische Gewaltsplane erschreckt wurden, zei-
gen einander den Menschen, der mit der bestehenden
gesellschaftlichen Ordnung nicht einverstanden ist, wie
ein feuerfurzendes Fabeltier, und aus lauter Angst vor
der Vokabel Anarchismus fallt ihnen bei ihrer Erwah-
nung eine Bombe in die Hose.
Am seltsamsten beriihrt es, wenn sich selbst Kiinst-
ler von dieser Vokabelfurcht ergriffen zeigen. Ihnen muss
gesagt werden, dass alle Kunst notwendig anarchisch ist,
und dass ein Mensch zuerst Anarchist sein muss, um
Kiinstler sein zu konnen. Derm alles kiinstlerische Schaf-
fen entspricht der Sehnsucht nach Befreiung von Zwang
und ist im Wesen frei von Autoritat und ausserlichem
Gesetz. Die innere Bindung und Ordnung der Kunst
aber hangt tief zusammen mit den Beziehungen des ein-
zelnen freiheitlichen Individuums zum ganzen Organis-
mus der Gesellschaft. Diese Beziehungen zwischen Mensch
und Menschheit, die in der Kunst ihren hochsten Ausdruck
hat und die in der Paragraphenmuhle des Staats zer-
malmt wurde und verloren ging, wieder herzustellen, das
ist der Sinn unserer, der Anarchisten, Werbearbeit, und
diesem Streben, um dessentwillen wir geachtet und ge-
lastert werden, wird der „Kain" auf seine Art nach wie vor
seine Krafte widmen.
Das „Tagebuch aus dem Gefangnis" musste wegen Raum-
raangel in diesem Hefte fortgelassen werden.
— 10 —
Munchener Theater.
Intriguen.
Die Sippe, die alle christliche Demut, Nachstenliebe und Gott-
ergebung in Erbpacht hat, schwimmt gegenwartig in Gnaden und in
weltlicher Macht. Das hat die frommen Seelen benommen, und was nie
in ihnen vorging, wird jetzt Ereignis: sie besinnen sich auf ihre
Liebe zur Kunst. Sie wollen die Munchener Kunst reformieren, —
beim Theater geht es los.
Der aussere Anlass zu der ilberraschenden Kulturbeflissenheit
der Kirchenvogte war sehr gering. Ein Stuck des Herrn Sternheini,
„Die Kassette" wurde vom Premierenpublikum des Residenztheaters
unter Spektakel abgelehnt. Ich war nicht dabei, kenne auch das ver-
hangnisvolle Elaborat nicht und finde es unendlich wenig belangvoll,
ob diejenigen Recht haben, die es als miserable Sudelei bezeichnen,
oder die andern, unter denen sich Leute von bewahrtem Urteil be-
finden, die dem Stuck erhebliche literarische Qualitaten zusprechen.
Bei der Annahme eines Theaterstuckes, bei der Einstudierung, bei
den Proben und im Moment, wo der Vorhang aufgeht, hat noch nie
ein Direktor, ein Regisseur oder ein Darsteller gewusst, ob die Premiere
einen Kanonenerfolg oder ein flirchterliches Debacle bringen wird.
Der personliche Geschmack literarisch geschulter und in Theaterdingen
erfahrener Menschen muss wahlen, und es ist unter anstandigen
Kritikern bisher nirgends ilblich gewesen, einen Buhnenleiter zu
schmahen, wenn der Geschmack des Publikums schliesslich anders
entschied als er.
Exzellenz Freiherr von Speidel, der Generalintendant des Mun-
chener Hof- und Nationaltheaters, war, ehe er das schwere Amt eines
in Kunstdingen Verantwortlichen Iibernahm, General der bayerischen
Armee. Die Gepflogenheit, Dilettanten an die Spitze kunstlerischer
Unternehmungen zu stellen, soil hier nicht kritisiert werden. Es
soil an die Tatsache selbst die Frage gekmipft werden: Was hat ein
solcher Dilettant als pflichtbewusster Mann zu tun, um die seinem
Einfluss unterstellte Anstalt auf ernster kunstlerischer Hohe zu
halten ? — Die Antwort ergibt sich von selbst: Er hat Berater um sich
zu sammeln, die keine Dilettanten sind, im Fach bewahrte Personlich-
keiten, denen der Chef Liebe, Hingebung und Verstandnis fur ihre Auf-
gaben zutraut.
Als Herr von Speidel die Leitung der Hofbtihne Iibernahm, fand
er die Oper vortrefflich vor, das Schauspiel aber verstaubt, rlickstandig
und im Hinblick auf Repertoire und Darstellerpersonal vollig unge-
nligend ausgerustet. Speidel beliess vieles beim alten, zu vieles, wie
manchen dilnkt. Aber er erkannte seine Pflicht, in einer Stadt von
— 11 —
der kulturellen Vorgeschrittenheit Miinchens den modernen Ansprlichen
an dramatische Darbietungen Konzessionen zu machen, und engagierte
neben die Zopftrager Possartscher Observanz fiir Regie und Schau-
spiel Krafte allererster Ordnung.
Der Erfolg der Speidelschen Reorganisationstatigkeit ist der,
dass das Residenztheater — wenn ich mein Urteil auf die Leistungen
der von Speidel neu herangezogenen Krafte beschranke — unter alien
deutschen Hofblihnen ktinstlerisch an erster Stelle steht, unter alien
Miinchener Theatern das beste ist und bei der Einordnung in die
deutschen Btthnen uberhaupt mit nur wenigen andern in der vorder-
sten Reihe rangiert. Die iiberaus erfreuliche Erscheinung der unter
dem derzeitigen Intendanten bewirkten Wandlung des Hoftheaters von
einer provinzlerischen Dutzendbuhne zu einem wertvollen, kulturforder-
lichen Institut ist engstens verknlipft mit dem Namen Albert Steinriick.
Der Name Steinriick darf, seit er in Munchen sein Konnen ent-
faltete, unbedenklich neben den Namen Bassermann, Sauer, Moissi,
Wegener, neben denen der allerstarksten Buhnentalente ausgesprochen
werden. Seinen schauspielerischen Leistungen ebenbilrtig sind seine
Leistungen als Regisseur. Es ist traurig, in Munchen daran erinnern
zu miissen, welche glanzenden Taten die Inszenierungen von Shaws
,.Casar und Cleopatra", von Ibsens „Baumeister Solness", von Adolf
Pauls (schwachem) Schauspiel „Die Sprache der Vogel" waren.
Aber es ist notig, mit allem Nachdruck daran zu erinnern, mit lauter
Stimme immer wieder zu fordern, dass den Fahigkeiten dieses Man-
nes mehr Aufgaben gestellt werden als bisher.
Sternheims „Kassette" war von Steinriick inszeniert worden,
Steinriick hatte die Hauptrolle in dem Stuck, Steinriick hatte, wie nach-
her bekannt wurde, Herrn von Speidei die Annahme der Arbeit em-
pfohlen. Das war fur die Schwarzalben ein gefundener Frass, — und
fur einige noch, die heimlich an derselben Strippe Ziehen. Die
„Mlinchener Zeitung", die sich vom Tage des Ministerwechsels
an bestrebt zeigte, ihren Liberalismus dem neuen Regime loyal einzu-
ordnen, fand bei ihrem Beschnuppern des Theaterskandals, dass es
bedenklich sei, einem Manne beratende Stimme bei der Auswahl auf-
zuflihrender Stilcke zu geben, der dabei gern fur sich eine Bomben-
rolle herausschinden mochte. Also eine aufgelegte Verdachtigung der
kilnstlerischen Reinlichkeit des Charakters Steinrilcks. Auf einen
Verteidigungsbrief Steinrilcks, der sich energisch gegen die Unter-
stellungen des Blattes wehrte, folgte eine Wiederholung der Nieder-
trachtigkeit.
Jetzt griff der „Bayerische Kurier" zum Horn und brachte einen
Artikel voll der giftigsten, gemeinsten, schabigsten Angriffe gegen
Steinrilcks Tatigkeit weniger als gegen seine Person, und hinter diesen
— 12 —
Angriffen voller tiickischer Anrempelungen des Intendanten. Es war
klar, dass man es in diesen Kreisen, deren klerikal-politischen Inter-
essen jedes Aufleuchten geistiger Werte gefahrlich scheint, auf den
Sturz Speidels absieht. Tagtaglich erscheinen jetzt in dem licht-
scheuen Zeitungswisch neue Perfidieen gegen die verdienstvollen
Manner des Hoftheaters. Auch das Kausen hat sich der Sache schon
angenommen, und es scheint, als ob das Kesseltreiben durchaus bis
zur Vernichtung des Wildes fortgesetzt werden soil.
Die Behauptung, ein Schauspieler und Regisseur dlirfe keine
Vorschlage machen, welche Stiicke gespielt werden sollen, ist un-
glaublich dumm. Natlirlich kann auch er sich in der Prognose fur den
Publikumserfolg vollig irren, aber jedenfalls wird er seltener vorbei-
hauen, als ein Dramaturg, der rein literarisch wertet und alle die
kleinen Imponderabilien, in der technischen Gestaltung des Buhnen-
werks ubersieht, fur die der, der mit dem ganzen Sein mit der Bilhne
verwachsen ist, den Instinkt hat. Aber wozu mit Grilnden gegen Leute
polemisieren, denen es garnicht um die kunsflerische Sache, sondern
um dunkle politische Plane geht ?
Herr v. Speidel soil gesturzt werden und Steinrilck droht, ange-
sichts der verbitternden Machenschaften der klerikalen Horde Mlin-
chen zu verlassen. — Das darf nicht geschehen 1
Soil das Hoftheater wieder zur alten Trostlosigkeit versimpeln ?
Soil die Residenzbtihne wieder zur Domane der Schonthan, Blumen-
thal, Wichert, Birch-Pfeiffer und Kotzebue werden? Die sich in
Mlinchen an anstandiges Schauspiel gewohnt haben, die das anstandige
Schauspiel nicht mehr missen wollen — und das sind nahezu alle,
die uberhaupt Theaterbesucher sind — sollten den pfaffischen In-
triguen die Macht ihrer uberlegenen Intelligenz, ihres hoheren Kultur-
standes entgegenstellen. Es muss denen, die endlich liber die Be-
setzung des Intendantenpostens zu entscheiden haben, auf das Aller-
vernehmlichste deutlich gemacht werden, dass Herr v. Speidel sich
durch sein Bestreben, unter Hinzuziehung ausserordentlich wertvoller
Hilfskrafte, das Hoftheater auf das Niveau einer erfreulichen kunst-
lerischen Leistungskraft zu heben, das Vertrauen aller Kunstfreunde
erworben hat, und dass sein Ausscheiden, das Steinrilcks Abgang
vom Hoftheat A r sehr leicht nach sich Ziehen kann, als ein Affront gegen
das ganze geistige Leben in Munchen betrachtet werden wtirde. Ein
solcher Affornt aber miisste mit dem konsequenten Boykott gegen das
Hoftheater-Schauspiel beantwortet werden.
Ueber wesentliche Theaterereignisse an den Biihnen Munchens
ist wenig zu berichten. Nur an einem, vom „Neuen Verein" veranstal-
teten Abend mochte ich nicht stillschweigend vorubergehen. (Ich be-
— 13 —
halte mir ubrigens vor, ilber die Wirksamkeit des „Neuen Vereins"
demnachst in einem besonderen Artikel zu referieren.) Man spielte
im Schauspielhaus „Psyches Erwachen", ein Schauspiel von Wilhelm
Weigand. Das Stuck ist nicht so betrachtlich, dass ich es einer
kritischen Wertung an dieser Stelle uberhaupt unterziehen mochte. Ich
schatze Weigand hoch als Essayisten; Dramatiker ist er durchaus
nicht, und die Art, wie er das alte Kandaules-Problem zu modernisieren
versucht, ist banal und ohne klinstlerische Bedeutung. — Aber zur
Gestaltung der Hauptrolle war ein Gast von Berlin gekommen, dessen
Name schon das Drama weiht, in dem er wirkt: Lina Lossen.
Die Kunst dieser Frau ist erschutternd herrlich, und wie sie in Wei-
gands Stilck der Hedwig Krell Leben gab, echtes warmes Leben, das
dies konstruierte Geschopf vollig der Theatersphare entriickte, das
sollte in Mlinchen unvergessen bleiben. Bei Lina Lossen ist jeder
Laut natiirlich, jede Bewegung wahr und schon, jedes Wort ilber-
zeugt und uberzeugend. Seit sie vom Hoftheater schied, war sie jetzt
die erste, die soviel weibliche Schonheit, soviel kilnstlerische Tiefe
wieder auf eine Munchener Buhne stellte.
Lina Lossen hat bei den Zeitungskritikern mit ihrer Leistung
keinen Anklang gefunden. In schoner Uebereinstimmung fand man in
den „Munchener Neuesten Nachrichten", in der „Munchener Zeitung"
und in der „Munchener Post" konstatiert, dass die Kunstlerin, seit sie
von uns ging, an Ausdruckskraft verloren habe. Merkwurdig. Man
fragt sich immer wieder erstaunt, woran es bloss liegen kann, dass
eine Leistung, wie wir sie hier in Jahr und Tag nicht erleben,
gerade an den zur Kritik bestellten Herrschaften so spurlos vortiber-
gehen kann. Manchmal scheint mir, standig in Milnchen wirkende
Schauspieler darf oder mag man nicht verreissen — Gott, man
trifft sich mal personlich irgendwo — , so lasst man eben das
Temperament an Gasten aus, die gleich wieder abreisen. Das kame
aber einer Irrefilhrung des Publikums und einer Krankung des Gastes
gleich, die ihn schwer abschrecken konnte, sich je wieder vor solchen
Meinungsmachern zu produzieren. Bliebe als Erklarung also nur die
vollige Urteilsunfahigkeit der Rezensenten ubrig, und damit der Vor-
wurf, dass sie die Sachverstandigen in Dingen spielen, zu denen ihnen
jede kritische Fuhlung fehlt. — Oder sollte etwa bei dem emporenden
Fehlurteil liber die Leistung Lina Lossens personliche Politik im
Spiele sein, und ich ware berechtigt, den Untertitel dieser Betrach-
tung auch auf den zweiten Teil meiner Ausfuhrungen zu beziehen ?
Bemerkungen.
Karl May. Es tut mir leid, dass Karl May diese Zeilen nicht mehr
lesen wird. Ich hatte sie auch geschrieben, wenn, er nicht in diesen
— 14 —
Tagen gestorben ware. Jetzt bin ich in der iiblen Lage, zu gleicher Zeit
ilber den Verfasser von „01d Shatterhand" freundliche Worte sagen
zu miissen, wo sich „angesichts der Majestat des Todes" allerlei
Schornalisten ebenfalls dazu gedrangt fuhlen, die vorgestern noch
ganze Fasser voll Jauche iiber den Mann ausgossen. Vor ein paar
Wochen hatte der „Akademische Verband filr Literatur und Musik"
in Wien Karl May zu einer Vorlesung eingeladen. Darob grosses
Entrustungsgeheul bei den patentierten Kulturhlitern Es hatte sich
namlich in einem Beleidigungsprozess, den May nolens volens gegen
den gelben Lebius anstrengen musste, herausgestellt, dass der alte
Mann in seinen Jugendjahren recht abenteuerlichen Ulk getrieben
hat und dafilr sogar (bedecke deinen Himmel, Zeus!) im Gefangnis
sitzen musste. Es war klar, dass so ein Kerl ein literarischer
Charlatan war, dessen Produkte nicht den geringsten Wert haben
konnten, umsoweniger, als ihm philologisch gerichtete Splirgeister
nachwiesen, dass er die Gegenden des wilden Westens und des
dunkeln Afrikas, die er so lebendig zu schildern wusste, niemals
mit eigenen Augen gesehen hat. Dabei sind alle seine Erzahlungen in
der Ich-Form abgefasst — ein frivoler Lugner also, ein Hochstapler
und kalter Schurke.
Es mogen wohl zwanzig Jahre her sein, seit ich zuletzt im
„Guten Kameraden" Maysche Erzahlungen las. Ich kann mich also
nicht mehr erinnern, ob sein Stil zu Einwendungen grossen Anlass
gab. Ich nehme an, dass er nicht miserabler war als der der
frommen und patriotischen Geschichten der Schullesebiicher. Aber
ich will eine Kanaille heissen, wenn ich je leugnen sollte, dass mich, als
ich Quartaner war, „Winnetou", „Die Sklavenkarawane" und ,,Der
blaurote Methusalem" verdammt mehr begeistert haben, als alle
Heldenstudien des Cornelius Nepos zusammengenommen. Wenn es
wahr ist, dass Karl May als junger Mensch Rauberbanden organisiert
hat, so beweist das garnichts gegen seine schriftstellerischen Fahig-
keiten, erklart aber viel von seiner phantastischen Erfindungskunst
und erweist all sein in den Buchern behauptetes Erleben als inner-
lich wahr. Sein Abenteurertum — meinetwegen nennts seinen ver-
brecherischen Instinkt — hat sich eben in spateren Jahren ver-
geistigt, sein Tatendrang hat sich in Phantasie umgesetzt, und
wir Jungen hatten den Vorteil froher Erregungen und klihner
Vorstellungsbilder davon, die unsere bestellten Padagogen mit der
Durchkauung klassischer Dramen nur unter Schweissverlust wieder
eliminieren konnten.
Was mogen sich die Leute wohl unter dichterischem Schaffen
vorstellen, die May vorwerfen, er sei garnicht in den Landern ge-
wesen, die er beschrieben hat ? Dass das nicht aus der Lektilre seiner
Werke hervorgeht, sondern erst durch Nachschnuffelung konstatiert
werden muss, sollte, meine ich, jedes Gebelfer gegen sein Talent
zum Schweigen bringen. Als wir „Wilhelm Tell" lasen, wurde uns als
besonderes Verdienst Schillers gepriesen, dass er nie in der Schweiz
war und nur aus der Phantasie seine Kulissen-Landschaften schuf.
Schreibt aber heute jemand eine Unterhaltungsgeschichte, deren
Helden Sudanesen sind, so hat er vor strengen Richtern zu erweisen,
dass er wirklich selber im Sudan gelebt hat. Was alles seine An-
greifer gegen May vorbringen, spricht fur ihn, und es ist schandliche
Undankbarkeit derer, die ihre besten Jungenstunden seinen Mords-
geschichten verdanken, dem Manne, der das Pradikat eines Dichters
— 15 —
ohne Einschrankung verdient, nachtraglich seine Verdienste zu
schmalern.
Ich ftthle mich nicht zum Tugendwachter geschaffen, und wenn
ich heute vor die Wahl gestellt wlirde, entweder Mays Erzahlungen
oder die Entrustungsartikel gegen Karl May zu lesen, bei Gott! zu den
Zeitungsblattern griffe ich nicht.
Die Pleite im Ruhrrevier. So jammervoll klaglich, wie es jetzt
gekommen ist, haben sich die argsten Pessimisten den Ausgang der
Beigarbeiter-Aktion im Ruhrgebiet nicht vorgestellt. Nachdem die
Bergwerksbesitzer die angehauften Kohlenvorrate vom Vorjahr mit
erheblicher Preiserhohung und unter Ersparung der Arbeitslohne ab-
gesetzt hatten, nahmen die zweihunderttausend Streiker die Arbeit
unter den alten Bedingungen wieder auf, grenzenlos geschwacht an
Kampfmitteln und Kampflust. Ich habe hier vor einem Monat die
Hoffnung ausgesprochen, diesmal werde Zielklarheit, Entschlossenheit
und rlicksichtsloser Wille am Werk sein — ich gebe zu, dass ich mich
mit dieser Erwartung schwer blamiert habe. Nach dieser Pleite der
deutschen Gewerkschafts-Unternehmungen kann man getrost zugeben,
dass unsere Arbeiter schon am richtigsten handeln, wenn sie alle
soizalistischen Allilren unterlassen und sich mit Haut und Haaren
den parlamentarischen Mehrheitsbeschllissen verschreiben.
Mit 50 000 christlichen Streikbrechern im Rlicken — so hiess es —
kann ein Ausstand nicht zu Ende gefiihrt werden. Pardon: Dass
die Christlichen nicht mittun wiirden, hatten sie von vornherein an-
gekiindigt. War man der Meinung, ein Streik sei bei Beteiligung von
nur 7 5 % der Arbeiter nicht zu gewinnen, so hatte man ihn nicht erst
proklamieren dilrfen. Aber, was die Herren Praktiker nicht einsehen
und in all ihrer Praxis nicht lernen wollen: das bischen .Streikarbeit,
das die in Pfaffenhanden murksenden „Christlichen" verrichten, spielt
gar keine Rolle gegenuber der Streikarbeit, die in den vom Streik
nicht betroffenen deutschen Gruben geleistet wird von Arbeitern, die
der gleichen Zentralleitung unterstehen wie die Ausstandigen. Man
wlinscht, um die Gewerkschaftskassen zu schonen, in Deutschland
keine Solidaritats- und Sympathiestreike und lasst lieber die Absicht
einer Streikaktion, durch Aushungerung des Marktes Forderungen zu
erzwingen, illusorisch werden, als dass man sich zur Inszenierung
durchgreifender Massnahmen entschlosse. — Herr Sachse hat die Be-
hauptung konservativer und ultramontaner Reichstagskollegen, es
handle sich im Ruhrrevier um einen Sympathiestreik filr die englischen
Grubenarbeiter, emport zuriickgewiesen. Er war tief beleidigt, dass
man deutschen Arbeitern so etwas wie eine Sympathiehandlung
fur auslandische Kameraden zutraute, — und so hat ihr eigener
Zentralleiter den Arbeitern auch noch die sittliche Gloriole ihrer
Niederlage genommen und ihnen die Moglichkeit abgeschnitten,
ihr kurzes Auftrotzen als Freundschaftsdemonstration fur die Englander
zu deuten. Auf dem nachsten internationalen Gewerkschaftskongress
werden die Herren Sachse und Hue den englischen Streikfuhrern gute
Lehren erteilen, wie man Ausstande schnell zu Ende fiihrt. Sie haben
ein neues Meisterstuck in dieser Branche geliefert.
Mottl und die „Munchener Post"- Im Augustheft des „Kain"
habe ich im Anschluss an Vorgange, die mit dem Tode Felix Mottls
— 16 —
in Verbindung standen, schwere Vorwurfe gegen die „Munchener
Post" erhoben. Ich sehe mich aus Grunden publizistischer Reinlichkeit
veranlasst, (unaufgefordert; folgendes zu erklaren:
Von einer Personlichkeit, deren Ehrlichkeit ich vertraue, und
die orientiert sein muss, ist mir glaubhaft mitgeteilt worden, dass
der Artikel der „Munchener Post", der sich mit Mottls Aufgebots-
Anzeige befasste, ohne Kenntnis der privaten Personalien des Dirigen-
ten geschrieben wurde, und dass ein blosser Zufall das, was darin
prinzipiell behandelt wurde, als personliche Anrempelung erscheinen
liess. Ich nehme also das, was in meiner Bemerkung „Mottl, ein
Opfer der Milnchener Post" gesagt ist, soweit zurtick, wie es
sich auf den besonderen Fall Mottl bezieht.
Die Schlusssatze der Notiz halte ich im vollen Umfange auf-
recht. Ich habe nach wie vor keine Ursache, ein Blatt mit Samt-
handschuhen anzufassen, das mich seinen Lesern hintereinander als
Agenten der liberalen Partei, als Lockspitzel, als Irrsinnigen und
als Paderasten denunziert hat, das trotz der blindigsten Widerlegung
aller dieser Verleumdungen niemals ein Wort davon revoziert hat,
und das, im Vertrauen darauf, dass ich als Anarchist keine blirger-
lichen Richter bemuhen werde, um andere als biirgerlich-geschaftliche
Ansprilche zu ertrotzen, meinem Anwalt gegeniiber erklaren liess,
§ 11-Berichtigungen des Herrn Mlihsam fanden in der „Milnchener
Post" keine Aufnahme. Solche Erfahrungen, die ja nicht ich allein
gemacht habe, werden es auch verstandlich scheinen lassen, dass
mir bei jener Mottl-Notiz gar kein Zweifel aufstieg, dass auch hier
personliche Gehassigkeit und Sensationsmacherei im Spiele sei. Sollte
die „Munchener Post" einmal beginnen, in manierlicher Form mit
Menschen zu diskutieren, die anders denken als ihre Abonnenten,
so wird man auch ihr respektvoll gegenubertreten und sich nicht langer
befugt halten, hinter jeder Bosheit gegen eine Behorde eine Gemein-
heit gegen eine Privatperson zu vermuten.
Die Tugend hat gesiegt. Die Milnchener Polizei hat nun endlich
doch das Verdienst auf sich geladen, das Land Bayern endgiiltig
von der Gegenwart der Nackttanzerin Via-Villany gesaubert zu haben.
Das Gericht hatte die Dame von der Anklage, sich gegen den
Strafgesetzbuch-Paragraphen, der den Exhibitionismus bedroht, ver-
gangen zu haben, freigesprochen. Wo der Weg der Justiz nicht genligt,
um auf den Berg der Gerechtigkeit zu gelangen, hat man Stufen
gemeisselt: die nennt man den Verordnungsweg. Diese Stufen fuhren
zwar nicht geradeaus in die Hohe, sondern winden sich hinten herum,
und auf dem Verordnungswege fand man die gewiinschte Methode,
die Nackttanzerin reglementmassig kaltzustellen. Man erkannte in
ihr plotzlich eine lastige Auslanderin und verwies sie des schonen
Bayerlandes. Nicht weil sie nackt getanzt hat, war Frl. Villany
lastig — keineswegs. Nur weil sie sich iiber ihre Nationalitat nicht
ausweisen konnte. Sie behauptete, Franzosin zu sein, aber in der
Weinstrasse glaubte man es ihr nicht, und weil die Streitenden
nicht zu einer Einigung kommen konnten, und man die Polizei,
so lastig sie sich immer mache, nicht hinausschmeissen kann,
musste die Tanzerin der Behorde glauben, dass sie keine Franzosin
sei und deshalb nicht in Bayern wohnen diirfe. Wer sich nicht
ausweisen kann, wird ausgewiesen. Meine Damen, merken Sie sich
das, — oder bleiben Sie bekleidet!
Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Munchen, Akademiestrasse 9.
Druck von Max Steinebach, Munchen. Baaderstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Munchen, Baaderstr. la. Tel. 2355
KAIN, Heft 11. Inhalt: Fasching. — Tagebuch aus dem
Gefangnis. — Miinchner Theater. — Georg Heym. — Vom
politischen Kasperltheater. -- Abel. — Miinchen-Schilda.
KAIN, Heft 12. In halt: Die Bergarbeiter. — Tagebuch aus
dem Gefangnis. — „M. N. N." — Die Stimmrechts-Amazonen.
— Die Geheimnisse von Czenstochau. — Ein Opfer seines
Berufs. — Bittingers Fehltritt.
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„KAIN", Jahrgang 1912. (Kain-Verlag Munchen, Baader-
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*) Nichtgewiinschtes bitte zu durchstreichen.
Jahrgangll No. 2. Mai 1912.
KMN
Zeif/chrffffur
MenAhlichRrf
HemuJgeber;
(rich Huh/am
Inhalt: Politisches Varlete. — Aus dem „Krater". — Tagebuch
ans dem Gefangnis. — Bemerkung-en. — Der riihrige Zensor.
— „Titanic". — Die Jesuiten. — Vom Geistesmarkt.
Kain-Verlag Munchen.
30 Pfg.
Kain-Kalender
fiir das Jahr 1912
Herausgeber: ERICH MUHSAM
Samtl. Beitrage sind vom Herausgeber :: Preis 1 Mark
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Soeben erschienen:
<«#* .Tahrbuch der Freien *#*
= Generation fiir 1912 ^^
Dokumente der Weltanschauung des Anaichismus —
Sozialismus.
Aus dem reichhaltigen Inhalt des 128 Seiten umfassen-
den, illustrierten Bandes heben wir hervor:
Peter Krapotkin: Ueber Leo Tolstoi. — Lulpi: Die Giundlagen des freien
Sozialismus. — Pierre Ramus: Aus den Folterkammem des Staates- —
Aufruf der Intemat Antimilitarischen Assoziation: An die Rekruten Frank-
reichs I Frit? Brupbaoher: Die Aufgaben des Anarchismus im demokratischen
Staate. — Otto Karmin: Sylvain Marechal und die Verse hworung der
Gleichen. — Alexander Berkmann: Der Fehlschlag des Kompromisses
zwisc h en J deal und Wirklichkeit — Andreas Klelnleln: Der Syndikalismus
in Deutschland. — Domete F. Niguwenhu'»- Aus dem Lehen eines revo-
oo lutlonaren Kampfers eta, etc. oo
Einzelexemplar (inkl. Porto) Mk. 1. — , bei Bezug von 3 Exerapl. fiir
insges. Mk. 2.25.
Samtliche Geldsendungen richte man an :
Rudolf Grossmann, Klostemeuburg (bei Wien)
Kierlingerstr. 183, Nd.-Oesterreich.
Jahrgang II. Munchen,
No. 2. Mai 1912.
KAIN
Zeitschrift fiir Menschlichkeit.
Herausgeber: Erich Miihsam.
■ iiirriii'i.n-.i.n.f, imii.i i„i„i,ii„i.i„i,,i„i i.,i„i„ii,i„i.,i„i„i„i.,i,ii i.i.i.i i ii i„i ,i„i. ■, i,i .iil.thi .i.i.m
„KAIN" erscheint im Monat einmal. Der Preis betragt
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ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene
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Munchen, Baaderstrasse la.
Die Beitrage dieser Zeitschrift sind warn Herausgeber.
Mitarbeiter dankend verbeten.
Ji4.,|j.l.lff,ir n„l,j|„| j ,|,.i„i;; |j j„ l ..i^ j,j,j„ < „ t , l .-^;;^;.- l -i;;f,^ii..t„ fr ,j„ i ,j„t„t'„4 l ,t..t„i 1 ,4 L it„i 1 .i„| l ,| L ,t i , >ll t -iU..ti^M"l„l- rTTH
Politisches Variete.
Politik ist die Kunst, Staatsgeschafte zu besorgen.
Kunst nicht im Sinne der werteschaffenden Kultur, son-
dern im Sinne der Artistik: derm in der Politik handelt es
sich um Jonglieren, Balanzieren, Seiltanzen, Spriinge-
machen. Politik also ist das Kunststiick, Staatsgeschafte
zu besorgen.
Die Berufsartisten dieser Spezies der Leichtathletik
nennt man Diplomaten. Ihre Fertigkeit ist Begriffsver-
renkung, Rechtsverdrehung, Verschwindenlassen offenkun-
diger Tatsachen und Herbeizaubern von Irrealitaten. Wer
es im Durcheinanderwerfen scheinlogischer Seifenblasen
zu besonderer Geschicklichkeit gebracht hat, wird von
den Staatsbiirgern als Staatsmann hoch gepriesen und er-
halt von seiner Direktion edelsteingeschmiickte Orden.
Die Stars der Diplomatic scheinen seit geraumer
Zeit ausgestorben zu sein. Die das Handwerk heutzutage
betreiben, beweisen in ihren Vorfuhrungen soviel Unge-
schick, dass das zahlende Publikum ihnen nachgerade hin-
ter die Schliche kommt. Man fangt an, die Hexerei zu
bezweifeln, da den Hexenmeistern die Geschwindigkeit
— 18 —
abhanden gekommen ist. Dilettanten drangen sich an den
Zauberkasten, den Zuschauern gefallt die Gaukelei nicht
mehr, sie wollen mitspielen und zeigen, wie man die Sache
besser machen kann. Der geheimnisvolle Staatskarren hat
die Gardinen zu weit zuriickgeschoben. Die Zauberuten-
silien sind erkannt worden. Hinz und Kunz wollen selber
zu jonglieren versuchen. Man musste den Wagen rot
lackieren und aufs Firmenschild „Demokratie" malen.
Hinz und Kunz haben ihren Willen erreicht. Die
Staatskunst ist auf die Dorfer gegangen. Die Markte und
Flecken wahlen ihre Faxenmacher selbst und sehen be-
friedigt zu, wie die Auserwahlten ihre teueren Porzellan-
teller auf der Nase balanzieren, fallen lassen und entzwei-
schmeissen. Hinter der Biihne ist man bemiiht, die Scher-
ben zu kitten, damit das Variete weiter spielen kann.
Fin wenig Kritik hat das p. t. zahlende Publikum all-
mahlich gelernt. Darauf ist es aber noch nicht gekommen,
dass die Teller und Glaskugeln, mit denen im pohtischen
Bumstheater gearbeitet wird, seine Rechte und Interessen
sind, dass der Gaul, auf dem die Diplomatic hohe Schule
reitet, sein Buckel, und das Seil, auf dem Politik getanzt
wird, sein Lebensnerv ist. Es schaut gemachlich zu, wie die
Staatsartisten der verschiedenen Lander um seine Knochen
wiirfeln und findet gar nichts dabei, dass zur Austragung
ihrer Katzbalgereien sein Blut gezapft wird.
Der politische Hokuspokus ist ein verdammt gefahr-
liches Handwerk, nicht fur die, die es treiben, sondern fur
die, mit denen es getrieben wird: und das Objekt der
Politik sind die Volker, sind die Nationen im Rahrnen der
von den Diplomaten gezogenen Landesgrenzen. Alle poli-
tische Aktion gilt der Uebertolpelung, Ueberschreiung,
Uebervorteilung des nationalen Konkurrenz-Varietes.
Treten Sie ein, meine Herrschaften! Hier ist zu sehen
der zweiundvierzig Jahre alte Wundervogel Deutschland!
Das Fabelhafteste in seiner Art 1 Reicht mit ausgespannten
Fittichen von der Maass bis an die Memel, und vom Kopf
zu den Krallen von der Etsch bis an den Belt! Noch nicht
— 19 —
dagewesen! Schlagt jede Konkurrenz! Balanziert in einer
Klaue das starkste aller stehenden Heere, mit Reservisten
und Landwehr vier Millionen Mann! Dazu eine Riesen-
Schlachtflotte: Panzer, Kreuzer, Torpedos und alles Zube-
hor! Kolossal! — In der andern Ihre Steuern, meine Ver-
ehrten! Ihre Abgaben an Nahrungs- und Genussmitteln, an
Beleuchtung, Heizung, Kleidung, Vergnugung und einen
kolossalen Bruchteil aller Ihrer Einnahmen! Schwingt
gleichzeitig im Schnabel eine noch nie gesehene enorme
neue Wehrvorlage nebst eben erfundener Steuerdeckung!
Kommen Sie naher, meine Herrschaften! Einzig dastehend !
Kinder und Militar ohne Charge zahlen die Halfte!
Und nebenan:
Kikeriki! Entrez 'sieurs-dames! Hier ist zu sehen
der beriihmte, konkurrenzlose, wunderbare gallische Hahn!
Der, wo die Franzosen das Fliegen gelehrt hat! Er verfugt
iiber die starkste Luftflotte der Welt! Er beherrscht die
ruhmreiche, unbesiegbare gewaltige grrrrande armee! Er
wird fliegen vor Ihren Augen a BerUn! Er wird anfuhren
la grrrande Nation und wird zerstoren von oben herunter
mit Bomben und Granaten die Konkurrenz prussienne!
Vive la republique francaise! Entrez 'sieurs-dames! Ki-
keriki!
Das p. t. Publikum ostlich und westhch der Vogesen
spent Mauler und Ohren auf, schreit bravo! und zahlt.
Zahlt, dass ihm das Blut aus den Poren schwitzt, zahlt,
dass es iiber dem Geldklimpem nicht hort, wie sich hinter
den Kulissen der pohtischen Varietes ostlich und westlich
der Vogesen die Artisten unter einander priigeln.
In jeder Bude haben sich Parteien gebildet. Die wis-
sen schon kaum mehr, dass sie das Dach des Nachbars
in Brand stecken wollen, die mochten nur noch, jeder
dem andern, die Kosten aufladen. Und die Harlekine
und Clowns, die Akrobaten und Salonhumoristen iiber-
briillen einander und schreien ins Publikum hinein: Wahlt!
Ich bin der wahre Jakob! Wer rrrich wahlt, soil garnichts
zahlen! Ich will nicht dich besteuem, lieber Wahler, son-
— 20 —
dem deinen Freund, deinen Nachsten, deinen Gutsherrn,
deinen Taglohner, deine Waschfrau, deinen Gastwirt, aber
beileibe nicht dich! Und der Wahler horts, ist ergriffen
von der Weisheit seines Kandidaten und macht von seinem
Rechte Gebrauch — ostlich der Vogesen und westlich.
Mochtet ihr nicht die politischen Gauklerbuden abbre-
chen, liebe Mitmenschen? Mochtet ihr nicht einsehen, dass
euer Land da ist, wo ihr lebt und gedeiht, und nicht da,
wo Bismarck Grenzlatten gebaut hat? Mochtet ihr nicht
versuchen, fur den Ertrag eurer Arbeit zu leben, statt da-
mit Armeen zu futtern ? Mochtet ihr nicht Verstandigung
anstreben zwischen euch und friedliche Gemeinschaft, statt
fur Kampf und Krieg Marktschreier zu dingen? Mochtet
ihr nicht, liebe Mitmenschen, westlich und ostlich der Vo-
gesen, diesseits und jenseits der Meere, euch gegenseitig
anschauen und euch fragen, ob ihr dazu Menschen seid,
urn allezeit als Statisten in einem Affentheater zu wir-
ken? Mochtet ihr nicht, jeder bei sich selbst, einmal Um-
schau halten, ob denn im eigenen Lande alles im Rech-
ten ist, statt euch gegenseitig anzufletschen und Boses
zu tun?
Weit, weit im asiatischen Osten haben sich, fast unbe-
merkt im Getose des politischen Variete-Krakehls seltsame
Wandlungen vollzogen. Ueber Nacht, mochte man sagen,
hat die machtige Mandschu-Dynastie aufgehort zu sein.
Fin Riesenvolk hat Ordnung geschafft im eigenen Lande.
Die Aufteilung Chinas, die unsere Lehrer uns mit propheti-
schem Blick vorausgesagt haben, vollzieht sich: nur anders,
als unsere Lehrer sie sich vorstellten. China wird aufge-
teilt unter den Chinesen. — Aber das ist weit, weit von hier,
im asiatischen Osten. Wir werden ins Kino-Variete gehen
und uns den Film aufrollen lassen.
— 21 —
Aus dem „Krater".
Der im Jahre 1909 im Berliner Morgen-Verlage erschienene
Gedichtband „Der Krater", von Erich Miihsam, ist in den Kain-
Verlag ubergegangen. Da der Verfasser dieses Buch fur sein bis jetzt
wertvollstes halt, wird er im Ausnahmefalle einmal von der Ge-
pflogenheit absehen dtirfen, im „Kain" nur Ungedrucktes zu ver-
offentlichen. Die folgenden Gedichte sind samtlich im „Krater"
enthalten.
Aus dem I. Teil: „Lyrik".
Die Kirchenuhr schldgt Mitternacht.
Da unten schdumt der Fluss und keucht.
Die Eisenbriicke dchzt und kracht,
und meine Stirn ist kalt und feucht.
Und meine Finger stehn gespreizt,
es zittert im Gelenk das Knie,
und hinter meinen Augen heizt
der Mondschein brandige Phantasie.
Was will das lusterne Gestirn? — —
Ein Baum greift aus. Ein Vogel krachzt.
Ein Peitschenschlag durchreisst mein Him . . .
Es keucht der Eluss. — Die Briicke dchzt.
Ein kleines gelbes Haus, plump iiberdeckt
von einem flachen Dach aus schwarzem Schiefert
in dem ein klobig roter Schornstein steckt.
Unformig klimmt aus dieses Schornsteins Bauch
ein dumpfer Lichtschein, eingepackt in Rauch,
der in der Luft verkriecht wie Ungeziefer. —
Ein Vogel macht sich aus dem Lichtschein los,
wachst rot zum Himmel, wachst — wird weltengross,
durchzuckt die Nacht in grausiger Geberde —
und blutet schwere, rote Angst zur Erde.
22
Nun, armes Herz, nun half es aus,
was tilckisch ein Geschick verhangt.
Nicht jeder wohnt in einem Haus,
wo Freude sich auf Freude drdngt.
Und wer da wandert, Fuss vor Fuss
den wehen Weg durch Leid und Pein,
der schreibe lachend einen Gruss
dem Nachsten auf den Meilenstein.
Und geht er dann ein andres Mai
den Weg des Leids — er wird ihn gehnl
dann bleibt er wohl in seiner 2ual
an jenem Meilensteine stehn.
Er liest den Gruss, den er dereinst
fur einen fremden Nachsten schrieb,
und denkt sich: Herze, wenn du weinst,
nimm mit dem eignen Trost fiirlieb.
Hinter den Hdusern heult ein Hund.
Denn die Schatten der Nacht sind bleich und lang;
und des Meeres Herz ist vom Weinen wund; —
und der Mond wiihlt lilstern im Tang.
Durch Morgennebel streicht hastig ein Boot,
die Segel schwarz, wie vom Tod gekusst.
Die Flut faucht salzig ndher und droht .
Dang knarrt der Seele morsches Geriist.
— 23 —
Ale dem II. (satirischen) Teil.
Friihlingserwachen.
Wieder hat sich die Natur verjiingt,
wieder sich mit frischem Stoff gediingt,
und dem Moder wie den jungen Keimen
hat die Kunst zu malen und zu reimen.
Die Gebeine harren der Bestattung,
wdhrenddem die Friichte der Begattung
frohlich ins Bereich des Lebens ziehn, —
insoferne sie soweit gediehn.
Viech- und Menschern heben sich die Busen;
in den Bdumen quillt's und den Gemiisen.
Tief im Kern der Fr de hats gekracht:
Ja, der Friih-, der Friihling ist erwacht.
Der tote Kater.
Warum schleicht der Bube Peter
mit gesenktem Kopf herum ?
Warum feixt er? Warum geht er
nicht in das Gymnasium ?
Was geschah mit ihm? Was tat er ?
Seht, von einer Wdscheleine
schlenkert ein gewesener Kater,
senkrecht ausgestreckt die Beine. —
Schlenkert schon seit sieben Tagen;
Peters Blicke aber schleichen,
wo die Tat sich zugetragen,
wo es stinkt nach alten Leichen . . .
Was der Bube sich wohl dachte,
als er dieses scheu vollbrachte? —
Wollt er nur die Luft verstankern?
Oder freut er sich am Schlenkern?
— 24 —
Der Revoluzzer.
Der deutschen Sozialdemokratie gewidmet.
War einmal ein Revoluzzer,
im Zivilstand Lampenputzer;
ging im Revoluzzerschritt
mit den Revoluzzern mit.
Und er schrie: „Ich revoluzze!"
Und die Revoluzzermiitze
schob er auf das linke Ohr,
kam sich hochst gefahrlich vor.
Doch die Revoluzzer schritten
mitten in der Strassen Mitten,
wo er sonsten unverdrutzt
alle Gaslaternen putzt.
Sie vom Boden zu entfernen,
rupfte man die Gaslaternen
aus dem Strassenpflaster aus,
zwecks des Barrikadenbaus.
Aber unser Revoluzzer
schrie: „Ich bin der Lampenputzer
dieses guten Leuchtelichts.
Bitte, bitte, tut ihm nichts!
Wenn wir ihn' das Licht ausdrehen,
kann kein Burger nichts mehr sehen,
Lasst die Lampen stehn, ich bittl
Denn sonst spiel' ich nicht mehr mit!"
Doch die Revoluzzer lachten,
und die Gaslaternen krachten,
und der Lampenputzer schlich
fort und weinte bitterlich.
Dann ist er zuhaus geblieben
und hat dort ein Buch geschrieben:
ndmlich, wie man revoluzzt
und dabei doch Lampen putzt.
— 25 —
Tagebuch aus dem Gefangnis.
(Fortsetzung.)
Ich schrieb also an Caro und Landauer, und wahrenddem kam
der Aufseher mit zwei Zigarren. Ich liess mir gleich von ihm Feuer
geben und sog nun den warmen Qualm mit einer Gier in meinen,
Schlund, als ob ein liebendes Madchen seinen Herzensschatz nach
jahrelanger Trennung wiederfande und abktisste. Diese erste Zigarre,
bei der ich meine Briefe zu Ende schrieb, war ein wahrhafter Genuss,
den ich mir noch damit erhohte, dass ich gelegentlich aufsprang und
die paar Schritte, die die Zelle dazu Raum liess, paffend auf- und
abspazierte. Ganz gliicklich stimmte mich auch die Aussicht, dass
ich zum Abendbrot endlich etwas Kompaktes in den Leib bekom-
men sollte. Denn, wenn ich zusammenrechnete, was ich seit meiner
Verhaftung an Nahrung zu mir genommen hatte, so ergab sich
diese Zusammenstellung: Freitag abend: Milchreissuppe; Sonnabend
friih: Weisser Kaffee; Sonnabend mittag: Graupensuppe; Sonnabend
abend: Kartoffelsuppe; Sonntag friih: Weisser Kaffee; Sonntag mit-
tag: Graupensuppe mit Fleischfasern. Dazu immer das feuchte
Brot, das schmeckte, als hatte man aufgeweichtes Papier mit Kar-
toffelmehl verknetet. Abgesehen davon, dass solche Kost einem
auch nur kiimmerlich verwohnten Gaumen sehr bald recht unsym-
pathisch wird, bewirkte sie bei mir auch eine iibertriebene Frequen-
tierung des „Leibstuhls", was wiederum auf die Atmosphare in
meiner Zelle keineswegs erfrischend einwirkte.
Nachdem meine Lampe angeziindet war, setzte ich daran die
zweite Zigarre in Brand. Sie genoss ich mit etwas ruhigerem, abge-
klarterem Vergniigen. Ich liess ihren Dampf langsam von der
Zunge gleiten und trieb ihn dann ruckweise durch runde Lippen aus
dem Mund, sodass der blaue Rauch in Ringen und Blasen, in
Tiiten und allerlei zierlichen Arabesken vor meinen Augen umher-
floss. Diese Art zu rauchen ist nach alter Erfahrung das beste
Aphrodisiacum filr meine Muse. So geriet ich auch jetzt in die
Stimmung, meine Gefangenschaft von einer lyrischen Seite her zu
betrachten, und diese Stimmung setzte sich in folgende Verse um:
Auf dem Meere tanzt die Welle
nach der Freiheit Windmusik.
Raum zum Tanz hat meine Zelle
sechzehn Meter im Kubik.
Aus den blauen Himmeln zittert
Sehnsucht, die die Herzen stillt.
Meine Luke ist vergittert
und ihr dickes Glas gerillt.
Liebe tupft mit weichen leisen
Fingern an ein Bett ihr Mai.
— 26 —
Meine Pforte ist aus Eisen,
meine Pritsche hart und schmal.
Tausend Ratsel, tausend Fragen
machen manchen Menschen dumm.
Ich hab eine nur zu tragen:
Warum sitz ich hier ? Warum ?
Hinterm Auge wohnt die Trane
und sie weint zu ihrer Zeit.
Eingesperrt sind meine Plane
namens der Gerechtigkeit.
Wie ein Flaggstock sind Entwiirfe,
den ein Wind vom Dache warf.
Denn man meint oft, dass man diirfe,
was man schliesslich doch nicht darf.
Bevor ich weiter berichte, will ich mir eine Aufregung von der
Seele zu schreiben suchen, die mir im Augenblick mehr gilt als
korrekte Buchftihrung. Eben war Caro hier. Dieser Besuch, der
eine haufige erfreuliche Abwechslung ist in der Eintonigkeit meiner
Tage, bringt mich aus der Zelle hinaus und ins Bilro, wo ich stets
den Inspektor antreffe. Ich bitte schon, seit ich hier bin, um die
Auslieferung meines kleinen Notizbuches mit den Versen, die seit
dem Erscheinen den „Kraters" entstanden sind. Gestern wollte
mir der Inspektor das Buch endlich schicken, ich erhielt aber statt
dessen nur meine Brieftasche. Nun benutzte ich eben die Gelegen,
heit, ihn auf den vermeintlichen Irrtum aufmerksam zu machen, und
da stellt sich heraus, dass das Notizbuch uberhaupt nicht unter
den Sachen ist, die die Polizei notiert und mitgegeben hat. Ich
bin vollig verzweifelt. Niemals habe ich das Buch aus der Hand
gelegt, nie es aus der Tasche gelassen. Dass es zuhause in der
.... Strasse geblieben sein sollte, halte ich fur ganz undenkbar,
auch glaube ich mich bestimmt zu erinnern, dass ich es im Polizei,
bilro in Charlottenburg mit aus der Tasche gekramt habe. Von der
Berliner Polizei erhielt ich es nach der Haussuchung zurttck. Das
weiss ich ganz sicher. Denn als ich auf dem Zettel, der bei
den zuriickgelieferten Papieren lag, las: 11 Schriftstiicke, ein leeres
Kuvert und ein Notizbuch, da war das erste, dass ich mich orien-
tierte, welches Notizbuch sie behalten hatten, und ich war seelen-
froh, als ich konstatierte, dass mein kleines Versbiichelchen da war
und nur das dicke Buch mit den aktuellen Gedichten, den Adressen
und den ublichen Gelegenheitsnotizen fehlte, obwohl auch darin
mancherlei steht, was ich nur sehr ungern vermisse. Und nun soil
das kleine Wachstuchbuch verloren sein! Der lyrische Ertrag eines
ganzen Jahres! Mit so vielen kleinen, feinen, zarten Versen an F.,
von denen ich keine Abschrift habe. Wie nervos wurde ich schon,
wenn irgend ein naher Bekannter aus irgendeiner Veranlassung das
— 27 —
Buch eine Viertelminute lang in der Hand hielt! Und nun fahren
mir rohe Polizeifauste in die Taschen und es soil weg sein! Ware
doch alles andere zum Satan gegangen, was ich bei rnir hatte! Das
Geld meinetwegen. Die 171 Mark ware immer noch zu ersetzen
gewesen, diese Verse sind es niemals. Wer bin ich denn, dass man
so mit meinem geistigen, meinem seelischen Gut verfahren darf ?!
Aber die Polizei ist eine Institution, die das Privileg hat — — ')
Ich habe Caro gebeten, sofort alles zu tun, um das Notizbuch zu
retten, fur alle Falle bei der Wirtin suchen zu lassen und vor allem die
Charlottenburger Polizei anzufragen. Natilrlich wird alles ohne Er-
folg sein. Ich mttsste nicht der alte Pechvogel sein, der ich bin, um
das, was einmal verloren ist, wiederzubekommen. Ich werde mich vor-
erst bemuhen, die Angst, den Schmerz, den Chok zu unterdrlicken,
der mich schwerer trifft, als die Verhaftung mit alien ihren Ein-
zelheiten, schwerer fast, als mich der Tod eines lieben Menschen
treffen konnte. s )
Nachdem ich also an jenem ersten Sonntag das Gedicht
gemacht hatte, wurde es Zeit zum Abendessen. Ich horte, wie den
Nachbarn ihre Suppe gebracht wurde, und nicht lange darauf kam
Giesmann mit meinem Schnitzel und dem Bier. Ich bin jetzt nicht
in der Verfassung, den Genuss, den mir dieses Abendbrot bereitete
— es lag auch ein richtiges frisches Berliner Brotchen bei — in der
behaglichen Breite nachzuerzahlen, wie ich das bei den Zigarren tat.
Ich stelle nur fest, dass ich das Schnitzel mit ehrlichem Vergntigen
ass, das Bier dazu in langen, geniesserischen Zligen aus der Flasche
trank und nur bedauerte, so bald mit den Herrlichkeiten fertig zu
sein und dann gleich ins Bett zu mttssen, da ich vorher sehr gern
noch ein bischen frische Luft und Bewegung gehabt hatte. Es
half mir nichts. Es klingelte, und die harte Pritsche musste aufge-
schlagen werden. Der Schlaf liess auch diese Nacht viel zu wiinschen
iibrig, wie ich denn, seit ich hier bin, noch keine einzige Nacht so ge-
schlafen habe, wie ich es dringend notig hatte.
Am nachsten Morgen musste ich schon aus dem Bett, als es
noch ganz dunkel war, und die Geschaftigkeit in alien Zellen und
an alien Latrinen begann schon zur Wochentagszeit, d. h. gleich nach
6 Uhr. Natlirlich war ich zur Aufstehenszeit am miidesten, denn,
mag man mich immerhin zwingen, mich um 7 Uhr nachmittags hin-
zulegen, das Einschlafen bin ich nun mal erst zwischen 2 und 5 Uhr
nachts gewohnt, und diese Gewohnheit lege ich anscheinend sehr
)Den Nachsatz mochte ich mit Rilcksicht auf die hohe Staats-
autoritat der Drucklegung vorenthalten.
*) Ich erhielt das Notizbuch nach meiner Haftentlassung zurttck.
Es war aus Versehen dem Untersuchungsrichter in Munchen ge-
schickt worden, der es mir auf Antrag wieder zustellen liess.
— 28 —
schwer ab. Ich war infolgedessen auch nach dem Anziehen noch recht
schlafrig, und als der Kaffee in dem grossen Bottich herumgetragen
wurde und die dlistere Straflingsstimme „Essnapf!" rief, da hielt
ich ganz mechanisch meinen Essnapf unter den Schopfloffel und
kriegte ihn fast ganz voll mit warmem weissem Kaffee. Auch das
Mordsstiick Brot wurde mir wieder ausgehandigt. Ich goss den
Kaffee, soweit es mir gelingen wollte, in meinen Hals, den Rest in
das Geschirr, das ich kurz vorher gereinigt hatte. Von dem Brot
ass ich nur wenig, das ilbrige nahm mir Giesmann nachher mit
Vergnligen ab.
An diesem Morgen lernte ich wieder etwas Neues kennen,
namlich den gemeinsamen „Spaziergang" im Freien. Um V28 Uhr in
der Frilhe wurde die Zelle aufgemacht, der Aufseher machte mich
darauf aufmerksam, dass man gleich ins Freie gehe und ersuchte
mich, meinen Hut zu nehmen. Ich glaubte, jetzt werde ich wohl in
einen schmucken Garten gefiihrt werden, wo ich mich gemachlich
zwischen herbstlichen Baumen — es war immerhin schon der erste
November — ergehen diirfte. Diesen Glauben dampfte ich dann
freilich ein wenig, als auf dem Korridor ein Beamter auf mich zu-
trat — ich hielt ihn immer filr einen der drei bis vier Aufseher,
weiss aber jetzt, dass er der Oberaufseher ist — und mich fragte,
ob ich auch mit hinunter wolle. Zu einer anderen Zeit konne er mich
leider nicht hinauslassen, aber ich brauchte nicht mit den andern in
einer Reihe zu gehen, sondern moge nur immer in der Mitte des
Hofes allein bleiben. Darauf legte er die Hande um den Mund,
stemmte sich mit aller Kraft gegen das Brlickengelander und rief
lautschallend: „Austreten!" — Aus alien Zellen kamen sie jetzt
hervor, die Untersuchungsgefangenen, die Zivilgefangenen und die
Strafgefangenen, jeder mit dem Hut in der Hand, und liefen die
Treppen hinunter zum untersten Korridor. Dort stellten sie pich
Mann filr Mann nebeneinander auf. Mich schickte der Oberaufseher
ans ausserste Ende, und dann setzte sich der Zug in Bewegung, ein
paar weitere Stufen hinunter zum Gefangnishof. Diesen Hof um-
schliesst nach drei Seiten das Gefangnis selbst, nach der vierten
eine hohe Mauer, ilber die hinweg man die Ruckwand eines Char-
lottenburger Miethauses mit vielen Winkeln und allerlei von diirfti-
gen Gardinen verhangten Klichen- und Treppenfenstern sieht. Der
Hof hat, das habe ich wiederholt gezahlt, 90 Schritte im Umfang
und eignet sich, da die ihn umgebenden Hausmauern mindestens
25 Meter hoch sein dtirften, und da auf die Steine, mit denen er
gepflastert ist, fortwahrend dicker, kranker Auswurf gespuckt wird,
zu einem Luftkurort so gut wie Timbuktu zum Seebad. Um diesen Hof
marschierten also die Gefangenen herum, immer im Gansemarsch,
und als ich mich dem Zuge anschliessen wollte, legte mir der Ober-
aufseher nahe, doch allein quer ilber den Hof zu spazieren. Das tat
— 29 —
ich denn auch, — aber nur das eine Mai. Es ist mir unangenehm,
in den Blicken der armen Menschen die Frage zu lesen: Warum
soil der nicht mit uns in einem Zuge gehen ? Weil er einen
besseren Anzug tragi ? — Ich bin vom nachsten Tage ab immer
mit im Gansemarsch gegangen.
Fortsetzung folgt.
Bemerkungen.
Der riihrige Zensor. Ein in seiner Eigenschaft als Dramatiker
trotz jahrzehntelanger Bemuhungen bisher unbekannter Autor ent-
schliesst sich, das Elaborat seiner Seele von offentlicher Tribune her-
unter vorzulesen. Das ist sein gutes Recht, wie es das gute Recht
seiner Zuhorer gewesen ware, ihren Beifall oder ihr Missvergnilgen
zur Orientierung des Dichters verlauten zu lassen. Aus der Vorlesung
wird nichts, weil die Polizei sie verbietet. Der Autor schlagt Larm.
Auch das ist sein gutes Recht, ebenso dass er einen Protest verfasse,
in dem er sich in miserablem Deutsch seine Qualitat als dichterisches
Genie bestatigt, und dass er mit diesem Protest hausieren geht, um
Unterschriften zu sammeln. Den Mann trifft gar kein Vorwurf,
wohl aber die Leute, die ihre guten, wertvollen Namen dazu hergeben,
dass einem Minderblirtigen das Zeugnis als Ebenbtirtiger ausgestellt
wird, bloss weil die Polizei sein Werk nicht fur die Vorlesung
freigeben will. Das Zensurverbot bestatigt einer Arbeit weder ihren
Unwert noch ihren Wert. Ein Zensurverbot wird dadurch, dass
Manner wie Wedekind, Thoma, Meyrink usw. das betroffene Drama
vor aller Welt preisen, nicht mehr ins Unrecht gestellt, als wenn
sie sich mit der Erklarung begnilgt hatten: „Die Polizei ist keine
aesthetische Instanz. Wir protestieren dagegen, dass sie sich als
solche aufspielt." — Eine solche Erklarung hatte ich, auch wenn
ich das Werk und seinen Verfasser durchaus niedrig einschatze,
unbedenklich und uberzeugt mit unterzeichnet. Damit, dass die
Protestierenden zugleich ein Werturteil abgeben, erreichen sie erstens,
dass die Polizei sagen kann: Die Herren begrtinden ja ihren Protest
mit der uberragenden Qualitat des Stlickes. Sie geben damit zu,
dass wir schlechte Stilcke von der offentlichen Vorlesung ausschliessen
sollen. Was aber gute und schlechte Stlicke sind, darin gehen
die Meinungen auseinander, und wir haben den Zensurbeirat ') und
die Macht, also gilt vorerst unsere Meinung. Zweitens bewirken
die Herren, dass sich jeder Dilettant nach einem polizeilichen Vor-
') Zu allgemeinem Befremden ist neuerdings Herr Thomas
Mann In den Milnchener Zensurbeirat eingetreten. Ich bezweifle
naturlich nicht, dass sein Entschluss in der Hoffnung wurzelte, als
Mitzensor Talenten gegen die Polizeimacht zu helfen. Die Erfah-
rungen, die Max Halbe zur Niederlegung seines Ehrenamts veran-
lasst haben, hatten aber doch Herrn Mann warnen sollen, geinen
ausgezeichneten Namen fur die Zensurtaten des Herrn v. d. Heydte
mitverantwortlich zu machen. Jedes Verbot bleibt an alien Zensoren
hangen. Denn wie jeweils dieser oder jener Beirat gestimmt hat, und
ob ihm ein verbotenes Werk uberhaupt vorgelegen hat, bleibt durch-
aus Geheimnis der Weinstrasse. Thomas Mann sollte sich wirklich
filr eine solche Strohpuppen-Rolle zu schade sein und schleunigst
dem Beispiel Max Halbes folgen.
lesungsverbot sehnen wird, da er ja dadurch kostenlos von den
Besten der deutschen Literatur die Bestatigung als Dichter erhalten
kann. Wenn schon die Polizei dein Unterschied zwischen Wedekind,
Thoma, Bahr auf der einen Seite und irgendeinem Stumper auf der
anderen Seite nicht machen kann, die Herren Frank Wedekind
und Ludwig Thoma, meine ich, soil ten ihn machen.
Notabene: Ich habe stark Zweifel, ob sich die Polizei beim
Verbieten offenflicher Vorlesungen uberhaupt in berechtigter Aus-
ilbung ihrer Amtsvollmacht befindet. Ich beabsichtige, bei passen-
der Gelegenheit die Probe aufs Exempel zu machen und, ohne die
hohe Genehmigung einzuholen, das vorzutragen was mir passt. Die
Bestimmungen, die fur offentliche Auffuhrungen gelten, gelten nach
meiner Auffassung der Dinge keineswegs fur offentliche Vorlesun-
gen eines Einzelnen. Ich fordere niemanden auf, irgend etwas
gegen die Anordnungen der Polizei zu unternehmen, aber ich teile
meinen Lesem mit, dass ich es tun wurde.
„Titanic." Nachdem der Zeitungsleser die Familiennachrichten
studiert und festgestellt hat, dass keiner seiner Freunde, Feinde und
Anverwandten geboren, gestorben oder in den Ehestand getreten ist,
wendet er sich der Rubrik „Ungllicksfalle und Verbrechen" zu.
Ueber Gattenmorde, Liebestragodien, Rabenmtitter und Eifersuchts-
dramen gelangt er zu den Automobilapachen, emport sich iiber
die verbrecherische Kaltblutigkeit der Rauber, die ihm gleichwohl
in verborgenen Seelenfalten imponiert, und ist schliesslich in hohem
Masse befriedigt, dass die rachende Staatsgewalt der Banditen doch
habhaft geworden ist, und dass Bonnot nicht ohne sehr ungewohn-
liche und gruselerregende Begleitumstande ums Leben kam. Es
folgt die Lektlire der Eisenbahnentgleisungen, Schiffszusammenstosse,
Erdbeben, Schlagenden Wetter, Fabrikexplosionen und Warenhaus-
brande, bei denen in der Regel nur eine grosse Anzahl von Leichen dem
Bedlirfnis nach sensationellem Kitzel einigermassen genligt. Hat
er die Spitzmarke „Schreckliches Ungllick auf den Fidji-lnseln"
gelesen, so fragt der Leser nur: Wieviel Tote? und: Wer hat
Schuld? Das Interesse an Bedauerlichkeiten erlahmt im Quadrat
der Entfernung und im umgekehrten Verhaltnis zu Besitz und Ein-
kommen der Betroffenen.
Seit langer Zeit hat kein Unglilcksfall das offentliche Gemlit
in solchem Masse erhitzt, wie die ,,Titanic"-Katastrophe. Der wahre
Grund dieser Erhitzung liegt bestimmt nicht im puren Mitgefilhl mit
den 1600 im Ozean begrabenen Menschen. Man hat Minenexplo-
sionen erlebt, die doppelt und dreifach soviel Opfer verlangt haben,
und der Gang der Geschafte blieb ungestort. Das Mitgefilhl gedieh
hochstens bis zur Neugier, wen die Untersuchung schuldig finden
wurde. Das Entsetzen tiber den Untergang der „Titanic" gilt nur
einem Zehntel der Toten. Die Riesenzahl derer, die zugleich starben,
i6t nichts als eine wirksame Folie bei der Beweinung der Minder-
heit, deren Millionen sich gegeniiber der Kraft eines schwimmenden
Eisbergs als unwirksam erwiesen haben.
Gewiss ist es unendlich traurig, zu denken, dass Menschen
in der Gewohnheit, ihren Launen jedes Vergnligen zu gonnen, ein
neues unerhort prachtiges Schiff besteigen, dessen Name schon
die Bezwingung jeder Naturmacht verspricht, und inmitten der Freude,
als erste eine Siegesfahrt an Schnelligkeit, Sicherheit und Luxus liber
das Weltmeer zu machen, vom eiskalten, unsaglich schauderhaften
— 31 —
Tode uberrascht werden. Aber der Gedanke dampft das Mitleid
mit diesen reichen Leuten, dass bei den Rettungsversuchen die Armen,
die nicht um des Vergnligens, sondern um ernster Lebensnotwendig-
keiten willen die Reise mitmachten, ganz vernachlassigt wurden,
ja, dass man, um den Reichen das Vergnilgen der Seereise zu er.
hohen, die selbstverstandlichen Vorsichtsmassregeln schon vor der
Abfahrt versaumt hatte.
Jetzt, wo das Ungllick geschehen ist, klagt man die White
Star Linie und ihre Direktoren an, dass nicht genug Rettungsboote
an Bond waren. Die die Anklage erheben, sollten sich fragen,
ob sie, hatten sie als Vergnilgungsreisende die Fahrt mitgemacht,
nicht ganz einverstanden gewesen waren, dass da, wo fur die
Zwischendeck-Passagiere Boote hatten untergebracht werden konnen,
lieber Tennisplatze geschaffen waren und Bannen, die ihre Damen auf
Kamelen abreiten dilrften. Man schimpft, dass die Gesellschaft
den Schnelligkeitsrekord schlagen wollte und vergisst, dass das
zu den Sensationen gehorte, die man dem verwohnten Luxuspublikum
bieten musste.
Die Forderung, die angesichts des Untergangs der „Titanic" er-
hoben werden musste, sollte so lauten: Wer sich fur sein Geld in,
Gefahren begeben will, dem soil man die Moglichkeit dazu mit allem
nur erdenklichen Luxus schaffen. Man soil aber die Armen, die nur
ubers Meer wollen, und denen weder an Tennisplatzen nach an Sports-
erfolgen liegt, auf sicheren Schiffen und mit aller Vorsicht gesondert
befordern. Um hundert Menschen eine Fahrt angenehm zu machen,
soil man nicht tausend in Gefahr bringen, die von den Annehmlich-
keiten ohnehin nichts haben.
Endlich moge man die Anklagen gegen die Gesellschaft solange
zuriickstellen, bis man sich nicht geprilft hat, ob man nicht selbst
Dreck am Stecken hat. Kein Aktionar irgend eines Bergwerks sollte
gegen die White Star Linie den Mund auftun, sondern bedenken,
dass er, was oft schrecklich zu Tage trat, seine Dividenden der Er-
sparung von Sicherheitsmassregeln fur die arbeitenden Bergleute
dankt. Dem gefiihlvollen Zeitungsleser aber sei nahegelegt, seine
Tranendriisen zu schonen. Seine Trauer um die 1600 Toten kann so
gross nicht sein, da er jeden Tag bereit ist, filr die „Ehre der
Nation" einem Krieg zuzustimmen, der, was er vorher ausrechnen
kann, das Hundertfache an Menschenleben kosten kann.
Werfen wir der Natur nicht ihre Eisberge vor, solange wir
Menschen ihr mit unsern Mordwaffen den Rang ablaufen.
Die Jesuiten. Es herrscht grosser Schrecken im Lande Bayern.
Die Liberalen und Sozialdemokraten haben seit Jahr und Tag dem
Zentrum geholfen, die Aufhebung des Jesuitengesetzes herbeizuflihren.
Ungezahlte Male hat der Reichstag (der bekannte Willensausdruck
des deutschen Volkes) denn auch die Aufhebung des Jesuitengesetzes
beschlossen. Aber der Bundesrat, die Exekutive der Regierungen,
wollte nicht. So blieb das Ausnahmegesetz in Kraft. Nun hat
plotzlich Bayern eine neue Regierung gekriegt, die — ein erster
Schritt zu dem von Liberalen und Sozialdemokraten inbrilnstig her-
beigesehnten parlamentarischen Regime — der Mehrheit des Parla-
ments entsprechend zusammengesetzt ist. Diese Regierung hat das
Mittel gefunden, dem im Reichstag so oft bekundeten Willen des
deutschen Volkes Geltung zu verschaffen. Sie hat mit einer geschickten
Interpretation das von Liberalen und Sozialdemokraten immer wieder
— 32 —
abgelehnte Jesuitengesetz fur Bayern so ziemlich unwirksam gemacht.
Eine echt demokratische, echt volkstiimliche Regierung — wie ?
Ja, Husten I Die Liberalen und Sozialdemokraten haben sich anders
besonnen. Sie schreien Zeter und Mordio, weil die Reichsgesetze voa
der bayerischen Regierung nicht respektiert werden. Sie schreien im
deutschen Reichstag und sie schreien im bayerischen Landtag, nur
wahrend sie sonst den Bundesrat anklagen, dass er die Beschlilsse
des deutschen Volkes nicht vollziehe, klagen sie ihn jetzt an. dass
er die Interpretation eines Gesetzes im Sinne der Beschlilsse des
deutschen Volkes nicht hindere. Und eine Angst vor den Jesuiten
kommt dabei zum Vorschein, dass man sich die Nase zuhalt vor
soviel vollen Hosen! Ach, liberale und sozialdemokratische Freiheits-
kampen, lasst sie ruhig ins Land, die bosen Jesowiter! Mit Staats-
gesetzen macht man unbequeme Bewegungen doch nicht tot, und
euch gegenilber werden die Leutchen ohnehin nichts zu tun finden.
Um mit euch Kroppzeug fertig zu werden, bedarf es wirklich
keiner Jesuitenkiinste.
Vom Geistesmarkt. Die „Meggendorfer Blatter", Zeitschrift filr
Humor und Kunst, bringen in ihrer Nr. 1114 vom 30. April 1912,
auf Seite 99 folgenden Witz:
„Moderner Haushalt.
Firau: „Ich habe zwei Zentner Kohlen bestellt !"
Mann: „Warum denn gleich zwei ?""
jm Kain>0erlag munifien, Baadertfrafle ia
lit crffljlencn:
„0er Krater"
Ofdidtjtc t>on eridt) miijfam.
Prcis: m 2.
Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Mulisam, Miinchen, Akademiestrasse 9
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Miinchen. Baaderstr. la. Tel. 2355
KAIN, Heft 12. Inhalt: Die Bergarbeiter. — Tagebuch aus
dem Gefangnis. — „M. N. N." — Die Stimmrechts-Amazonen.
— Die Geheimnisse von Czenstochau. — Ein Opfer seines
Berufs. — Bittingers Fehltritt.
J\.A1M, Hett 1. Inhalt: Anarchistisches Bekenntnis. — Miinch-
ner Theater. — Intriguen. — Bemerkungen. — Karl May. —
Die Pleite im Ruhrrevier. — Mottl und die „Miinchner Post".
— Die Tugend hat gesiegt.
SB
HE
Pregrelatiotubureau „ftanfa"
Cfltpb.rilint moattli Mi] BtrUll NW 23 ■♦■ tiolftriner Uftr 7 <*>
Jnb.t Jng. 111. Hraufr
lirfrrt allC llactiriftTtCU ubtr
Kunft, Titeratur, tUiffcnfftaft
fdjnell — DOllHandig — prctsiDtrt.
nkadftnifd) und Uterarifdj gebildctc Tektoren.
Porzugliifte Organifation 1
B0
BQ
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Biicherzettel.
An
Don
eridt) tttiittfam
crfd)ifnen folgende DUOicr.
OlC rDllftC* eedtdjtc. 1904. m. z.io.
Utr KtdtCt* eedid)tc. m*. m. 2.—
Die Uo^Jtapler^ mm*. ho«. m.*.-
Zu bezic hni durrt) icric BudJbandlung unci dtn
K.iin Dcrlau, niuntfirn, BaadcrftraBe la.
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Unterzeichneter abonniert hiermit auf die Zeitschrift
„KAIN", Jahrgang 1912. (Kain-Verlag Miinchen, Baader-
strasse la.) 12 Hefte zum Preise von 3 Mark. Zahlbar
bei Empfang der ersten Nummer.
Betrag wird gleichzeitig eingesandt.*)
Soil durch Nachnahme erhoben werden.*)
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*) Nicht gewunschtes bitte zu durchstreichen.
JahrgangIL No> 3> juni 1912
KMN
Zeit/chrifffiir
rien/ch(ich(\eir
HemuJgeber;
(rich Huh/am
Inhalt: Strindberg. — Tagebuch ans dem Gefangnis. — Miinchner
Theater. — Bemerkungen. — Bonnot Gamier und Co. — Der
Kampf mit dem Drachen. — Die entsprechende Siihne. —
Geburtstagsgriisse. — Maria im Rosenhag.
Kain-Verlag Munchen.
30 Pfq.
Oer Kratcr.
Don eridt) muttfam.
Kalii'UcrUu mnnrticn.
Preis mfc. i.-
Miihsams
Lyrik
Ki
Autor eine seltsame Verschmelzung von Produkt und Produktivitat
darstellt. Unsere Zeit ist schc
iass in ihr meistens nicht die
Shakespeares dichten, die Produktiven, sondern die Hamlets, die
Produkte; nicht die Pragenden, sondern die Gepragten. Auch Miihsam
ist ein Gepragter; nur hat ihm nicht die Literaturiibung und die
Mode den Ster
;1
jfgedriickt, sondern das Leben und die Zustande
unserer Zeit. Man hat den Eindruck: die Leiden, die er in bitteren
id scharfen Tc
m a n c h m a
1 fast mit einem
fei
ldenExhibitionis-
nnausschreit,
rlebte
lie von einem
Indi
:ht nur erfahrene, geistig und seelisch
ividuum empfangen werden, sondern diese
Schmerzen sind er selbst; sie sitzen nicht nur als Begegnuneen in
G
eist,
sondern sie sine
>n Geburt wegen mit ihm verbunder
sie sind sein ganzer Mensch und sein Korper. Was er darum dichtet,
ist nicht nur politische oder soziale oder sozialistische Lyrik; nicht
nur leidende Liebe und Sehnsucht und Geilheit und Galgenhumor;
ihm dichtet die Unbeherrschheit,
Wut
manchmal geradezu die Degeneration und Neurasthenic. Das Alles
aber natiirlich
verbunden wiederum mit geistig
tiger Beherrschtheit mit
5l
Wissen um seinen Zustand, mit Witz und Ueberlegenheit und mit einer
Giite
die aus reichlicher Bosheit
immer wieder hervorbric
hi.
Da nun Miihsam dazu eine sehr starke formale Begabung hat, eine
grosse Kraft des Rhythmus, die oft bezwingend ist, die Kunst des
Abrundens und Gestaltens, die Macht des anschaulichen Bildes bis
zur Grellheit und der stark betonten Rede bis zur Beschwingtheit und
obendrein eine erstaunliche Schlagkraft des Reims (die er nur nie
verstandesmassig-witzig in den
Ausbruch des Gefiihls
umpsen
lassen diirfte), so ergeben sich in dem Bande viele Gedichte, die uns
il,
Br
ist, die Wildheit und den Aberwitz tief hinei
zwingen. Wir erleben jn einem Mitfiihlen, gegen das nur der Kalt-
eine Wehr hat,
,,Lebensfeuer,
Kr
:ht"
st, die
Verbannte, dieser „TrunkenboId des Leides"
Und manchmal kommt
Sch
onheit
id der Weiht
id der
Selbstsicherheit, dass wir uns sagen: Wenn er, der diese Jugend der
ualen un
d des Tobens hat, eir
il dc
Reifer
werden so
lite
dann wird er ein Grosserer sein, als dc vielen Scheinreifen, die schon
fertig auf die Welt gekommen sind. Und vielleicht ist er auch
heute schon ein Grosserer ?
(Gustav Landauer in der „Zukunft".)
is£*sJ9§is*^-iaei^*9i
Jahrgang II. Miinchen,
No. 3. Juni 1912.
KAIN
Zeitschrift fLir JVLenschlichkeit.
Herausgeber: Erich Miihsam.
. Fil"-!' i Lnn-.i.:!.'.!"'!!-.;.!..!:!^. * -i '.l.ii.ii. I .^.|i f .t..«:Ti.,ii.t..KI.-TTir^TT|-r.Frr..A.|.n; i ■!': !.■»■ i » i ■» !■. «,i :i :nr>'.|-|. i ",, l-.*-l..tf
„ K A I N " erscheint ira Monat einmal. Der Preis betragt
fiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne-
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag",
Miinchen, Baaderstrasse la.
Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber.
Mitarbeiter dankend verbeten.
«aa<^.TrarEre..i,ira i,,t l ,i,,i,.i„i .Triri ,,j,,.,^ i„i,n.,i...,t.i.til.
Strindberg.
Das Lebenswerk August Strindbergs ist abgeschlossen.
Die Welt ist um eine Elementarkraft armer geworden. —
Ich gestehe, dass diese Feststellung vorerst alles enthalt, was
mir am frischen Grabe des Toten auszusprechen Bediirf-
nis ist. In aller Eile die ausseren Daten seines Lebens
aus Literaturkalendern und Konversationslexiken heraus-
zustobern oder gar alles Erreichbare an Strindbergschen
Biichern zusammenzuraffen, um aus niichtiger Durchsicht
ein Charakterbild zu fixieren, kame mir wie Leichen-
schandung vor. Ein zuverlassiges Portrait dieses Genies
ist solange noch gar nicht moglich, wie der Nachlass, der
wahrscheinlich sein Personlichstes enthalt, nicht vorhegt, und
wie nicht eine abklarende Distanz zwischen der Zeit seines
Schaffens und der einer objektiven Bewertung entstanden
ist. Die Spannweite der Strindbergschen Produktion ist
so gross, dass das kritische Urteil zunachst dem Gefuhl
allein vorbehalten bleiben muss. Mein subjektives Geflihl
ist voll Bewunderung fur die ungeheure dichterische Dyna-
mik, die in Strindbergs Werken Gestaltung fand, und voll
Ablehnung gegen das abgriindlich hassliche Weltbild, das
— 34 —
sich in alien seinen Leidenschaften spiegelt. Nichts schien
diesem Riesengeist gottlich, alles sah er durch die Brille
einer qualvollen Teufelsglaubigkeit. Die Konsequenz
der Satanskonfession Strindbergs war der Gang nach
Damaskus, war die Fluent ins Christentum. Aber Strind-
berg blieb als Christ, was er als Heide gewesen war:
ein mystischer Norgler, ein fluchender Titan. Und er
hatte den Mut zu seiner Skepsis. Nichts gait ihm sicher,
nichts erklart. Die Wissenschaft hat in Strindberg ihren
gefahrlichsten Feind verloren. Das Raderwerk ruht, in
dem ihre „Erkenntnisse" zerstiickelt wurden. Auch zu
seinen Feigheiten hatte Strindberg den Mut. Er zitterte
vor dem Weibe, das fur inn das starke Geschlecht repra-
sentierte, dem er sich horig fuhlte und das er dafur hasste
mit der ganzen Inbrunst seiner gigantischen Kiinstlerschaft.
Unsagbar hasslich war die Welt, die Strindbergs Augen
sahen, unsagbar grossartig aber ist das Bild, das er von
dieser Welt gemalt hat. Mit Strindberg verblich die andere
der Gestalten, die die letzten fiinfzig Jahre iiberragten:
Leo Tolstoj ging vor ihm, den Nachfahren aber wird es iiber-
lassen bleiben, ob sie sich zu Tolstojs himmUscher Welt
oder zu Strindbergs hollischer entschliessen wollen.
Tagebuch aus dem Gefangnis.
(Fortsetzung.)
Wahrend ich nun so allein mitten liber den Hof ging, hin und
zurlick, immer hin und zuriick, und die andern in langem Zuge —
es waren 25 Mann (es wird in mehreren Abteilungen marschiert) —
immer um den Hof herum, immer herum trotteten, sah ich mir die
einzelnen Gestalten an. In Straflingsanziigen waren nur ganz wenige,
nur solche, die, wie es in den Verhaltungsvorschriften hiess, ohne
reinliche und schickliche Kleidung ins Gefangnis eingeliefert waren.
Die meisten trugen einfache Arbeiteranziige mit Schirmmutzen und
an den Fiissen Anstaltslatschen. Nur vielleicht funf oder sechs ausser
mir hatten eigenes Schuhzeug an. Auch das Alter war nicht so
unterschiedlich, wie man vermuten konnte. Mein Wagengefahrte,
der Mann, der selbst an seiner Zurechnungsfahigkeit zweifelte und
den ich in steifer Haltung im Zuge schreiten sah, dilrfte der alteste
Insasse des Gefangnisses sein, sofern nicht in Abteilungen, die mir
— 35 —
unsichtbar bleiben, noch altere Leute stecken. Blass, kranklich und
wenig intellegent sahen fast alle aus, wenige robuste Kerle nur, und
fast gar keine geistig betrachtlichen Physiognomieen.
Ich will einige hervortretende Typen hier festzuhalten suchen
Einer war da, in Gang und Haltung wie ein Vikar, in schwarzem
Gehrock, mit rundem schwarzen Hut, Oberhemd und schwarzer
Kravatte, der bei weitem eleganteste der Hafflinge. Aber das Gesicht
von ganz minderweitigem Ausdruck, Mode, reuig, interesselos.
Grosse, schlappe aus den Manschetten hangende Hande. Wahr-
scheinlich ein unzuverlassiger Geschaftsangestellter, der seinen Skat-
verlust durch Unterschlagung einer Postanweisung decken wollte.
Dann ist da ein gesunder, rundlicher, netter junger Kerl in blauem
Straflingskittel. Er scheint immer lustig zu sein. Jedenfalls hat er
etwas Sonniges, Lachendes an sich. Er ftthrt den klaglichen Zug
an und scheint, wie ich an den folgenden Tagen beobachten konnte,
an dieser Wttrde besonderes Gefallen zu finden. Man wird ihn mal
geargert haben, und daraus mag eine Sachbeschadigung oder ein
Hausfriedensbruch geworden sein. Einer ist da, ein Mensch von
vielleicht 27 Jahren, der geht mit steif nach hinten gebogenem Kor-
per, die Hande in die Taschen seiner gelben Jacke vergraben, die
schwarzbartige Oberlippe zusammengekniffen, einher, ohne nach
links oder rechts einen Blick zu werfen. Er sieht ziemlich ver-
schlagen aus und man konnte ihn fur einen Heiratsschwindler halten.
Zwei besser gekleidete Leute sind erst im Laufe der Woche dazu-
gekommen. Einer, der zwei Zellen neben mir wohnt (neben meiner
neuen Behausung namlich, von der noch zu reden sein wird), hat das
intelligenteste Gesicht von alien meinen Mitgefangenen. Etwa 36 Jahre
alt, blonden, dichten an den Seiten beschnittenen, nach unten gefranz-
ten Schnurrbart, kluge braune Augen, sicheren, beinahe weltmanni-
schen Gang. Heute kam er wahrend einer der Geschirrreinigung
gewidmeten Zellenoffnung zu mir, mit einem Platteisen in der Hand,
und bat mich um Lekture fur den Sonntag. Ich gab ihm die Apho-
rismen von Peter Hille, die Droop unter dem Titel „Aus dem Heilig-
tum der Schonheit" bei Reclam herausgegeben hat. Ob er viel
Genuss an diesen Herrlichkeiten haben wird, weiss ich nicht. Ich
trau ihm aber zu, dass er wenigstens das biographische Vorwort
mit Interesse lesen wird. Ich hatte ihm gern was anderes mitgegeben,
hatte aber garnichts geeignetes, weil ich die Bucher, die Caro mir
kurzlich brachte, ihm heute zurtickgegeben habe. Da der Mann meinen
Namen nicht kennt, der in dem Vorwort mehrfach genannt wird,
kann er ja auch nicht auf die Vermutung kommen, dass ich ihm
die Schrift etwa aus Eitelkeit uberlassen habe. Was mag er began-
gen haben? Vielleicht eine Urkundenfalschung oder ein ahnliches
Delikt, zu dem die Geschaftsusancen in unserer wunderlichen Gesell-
— 36 —
Schaftsordnung ja reichlich Gelegenheit bieten. Der andere Mann,
von dem ich sprach, mag im gleichen Alter stehen. Er hat ein gelb-
liches Gesicht, kurz geschnittenen schwarzen Schnurrbart, verkniffene
Zttge und graumeliertes Haar. Ein Mensch, der nicht im mindesten
skrupelhaft aussieht und dem ich schon eine grosszligige Betrligerei
zutrauen konnte.
Die auffalligste Erscheinung unter den Straflingen ist ein jungerer
Mensch im Arbeiteranzug. Er ist wohl das hasslichste und ab-
schreckendste Menschenexemplar, das ich je gesehen habe. Die
ganze obere Gesichtshalfte ist von einem riesigen Muttermal tiber-
deckt, das in alien Farben eines Pavianhintern schimmert. Das Kinn,
das ganz ohne Form ist, liegt darum, wie eine weissgetunchte
Schuppenkette, Die graugelben Augen haben einen bosen, stechenden
Blick. Der Korper ist gedrungen, der Rucken zum Nacken hinauf-
gezogen, die Glieder sind plump und doch hat der Gang etwas
schleichendes, heimtuckisches. Der vollendete Typ eines psycho-
pathischen Schwerverbrechers, unsaglich roh in Bewegungen und
Gebahren. Der Mensch wendet seine viehische Fratze frech nach
alien Seiten, als ob er damit kokettieren wolle, spuckt unter lautem
Riilpsen vor sich weg, grinst fortwahrend, stampft seine klobigen
Fauste nach unten, furzt, indem er stehen bleibt und sein Bein auf-
hebt und fuhrt Selbstgesprache in den verdorbensten und gemein-
sten Ausdrilcken. Ich sehe weg, sobald er an mir vorbeikommt,
aber er scheint es bemerkt zu haben und feixt mich von unten her-
auf schief, frech und schabig an. Jeder Gewalttat, glaubeich undjeder
Schurkerei ist dieses Scheusal fahig. Aber ein Schulbeispiel scheint mir
dieser Mann zu sein dafiir, dass alle Schlechtigkeit Ungluck, dass alle
Schuld Schicksal ist (und von der Akademieformel gewisser Psycho-
analytiker, dass alles Schicksal selbstgewollt sei, halte ich nicht all-
zuviel). Richard III. ins Proletarische ubersetzt. Kann dieser
Mensch gut sein, edel, menschenliebend, den die Natur so infam
hasslich gemacht hat? Niemals werden zartliche Lippen seine ent-
setzliche Larve geklisst haben. Muss da nicht der Neid aufsteigen
und die Wut und die Bosheit und alle Niedrigkeit? — Und nun
ist wohl die Lust tiber ihn gekommen, B6se» zu tun — ohne Ah-
nung von seinen eigenen Grunden Rache zu nehmen an den Men-
schen fur das schmahliche Verbrechen, das die Natur an ihm beging.
Und er schlagt jemandem das Auge ein oder vergewaltigt ein Kind
oder ziindet seinem Nachbarn das Haus an, oder raubt einem be-
habigen Rentier den Geldbeutel; denn bitterarm ist er obendrein
Doch. Aber was mordete doch der bleiche Verbrecher? Er mor-
dete nicht um zu rauben, sondern er raubte um zu morden. Nietzsche
hat die Menschen gekannt. Die Hascher aber greifen nach der un-
seligen Missgeburt, und die Richter verbunden sich, ihn zu strafen fur
— 37 —
all sein Leid, fur all sein bitteres Ungllick. Und nun haben sie ihn
ins Gefangnis gesetzt, dass ihm seine Enterbung um so deutlicher
bewusst werde. Statt dass man alles tate, was in schwachen Menschen-
kraften steht, um soviel Unheil ertraglicher zu machen! Guten Wein
sollte man ihm geben und weiche Betten, auf Gummi sollte er fahren
dilrfen und flinke Hande jedem seiner Wttnsche bereit finden! —
So, nur so konnte man die Gesellschaft schtttzen vor seiner Rache,
vor seinem, doch wohl gerechten Zorn. So, nur so konnten wir
uns selbst schutzen vor den Vorwttrfen, die wir uns bei seinem
Anblick zu machen haben.
Gleich wird die Glocke zum Schlafengehen lauten. Ich muss
fur morgen aufheben, was liber den Montag noch zu sagen ist, und
muss mich vorbereiten, lange wachend im Dunkeln zu liegen und
viele schmerzliche Gedanken passieren zu lassen, die heute wohl
meist meinem lieben, vermissten schwarzen Notizbuch gelten werden.
Sonntag, den 7. November 1909.
Wo stand ich doch? Bei dem ersten Morgenspaziergang auf
dem Gefangnishof. Taglich frtth um V28 Uhr mttssen wir hinaus
(heute am Sonntag, blieb es uns erspart) und einer hinter dem an-
deren hermarschieren, gegen 30 mal herum um den dumpfigen Hof.
Zweimal habe ich die Rundgange gezahlt und einmal 29, einmal 32
festgestellt, und der ganze Umkreis ist bezeichnet von dem dicken,
gelben, schleimigen Auswurf der armen Menschen, die man fort-
wahrend rochelnd ausspucken hort. Ich habe ein Grausen vor dem
wurmartigen Schleim, der an meinem Wege liegt, und hebe den
Kopf hoch, um ihn nicht sehen zu mttssen, denn immer fttrchte ich,
es konnten sich Tuberkeln daraus befreien und den Weg in meinen
Hals finden. Zwanzig Minuten dauert der Rundmarsch. Zwanzig
Minuten Gefangnishof im dicken grauen Morgennebel, das ist die
einzige Zeit, wo wir hier „frische Luft" atmen dttrfen.
Den Montag-Vormittag benutzte ich dann zum Briefschreiben:
an C, an S., an die Freunde im Cafe des Westens, an F., der der
einzige ist, von dem ich Antwort bekam. Aber gestern erfuhr ich
durch den Inspektor, dass diese Postkarte und ein Heft der „Schau-
btthne" von ihm direkt zu mir hinaufgeschickt worden seien, weil
er gleich sah, dass das ohne Belang war, dass aber alle anderen
an mich eingetroffenen Postsachen, und es seien schon etliche an-
gekommen — an den Richter weitergeftthrt seien. Gesehen habe
ich davon noch garnichts. Auch eine Titelzeichnung fur ein neues
Buch, ttber das ich am Tage vor meiner Verhaftung mit F. ge-
sprochen hatte, entwarf ich, musste aber bei alien diesen Be-
schaftigungen haufige Pausen eintreten lassen, weil das von hinten
fallende Licht meinen Schatten vor mich auf das Papier warf, und das
Schreiben undZeichnen daher meine Augen ausserordentlich anstrengte.
— 38 —
Mittags wurde ich ins Bilro hinuntergerufen, wo Caro mich er-
wartete. Wir berieten tiber das, was zunachst geschehen miisse, und
er erzahlte mir, dass meine Verhaftung von alien Bekannten mit
grosser Teilnahme aufgenommen wurde, und dass sich auch die
Presse, abgesehen wieder von einigen liberalen Organen, deren
Schmocke mich in meiner „Harmlosigkeit" als nicht ernst zu nehmen
beschimpften, sympathisch benahme. So las er mir eine Notiz aus
der „Welt am Montag" vor, die entschieden fur mich Partei nahm.')
.... Ich trug Caro noch einige Wlinsche auf, vor alien Dingen
bat ich ihn, fur Lektiire zu sorgen und fur Decken, die die Harte
meines Lagers weniger empfindlich machten. Er versprach alles
und ging. Ich Hess mich wieder in meine Zelle sperren 2 )
(Fortsetzung folgt.)
Miinchner Theater.
„Circe." — „Jedermann."
Calderons „Circe" aufzuflihren ist ein interessantes Experiment,
und das Klinstlertheater hatte den Mut, bei der Eroffnung der Bay-
rischen Gewerbeschau das Experiment zu machen. Herr Georg
Fuchs hat das phantastische Festspiel nachgedichtet, Herr Eduard
Klinneke hat eine Musik dazu geschrieben, Herr Alfred Halm insze-
nierte die Auffuhrung und Herr Professor Hierl-Deronco entwarf
Dekorationen und Kostlime. Bewahrte Schauspieler suchten zum Ge
lingen beizutragen: Tilla Durieux, Max Pallenberg, Waldemar Stage-
mann, Ludwig Hartau.
Das Experiment — das sei vornweg bemerkt — misslang. Ich
mochte niemandem Schuld aufburden. Es war ein Versuch mit
untauglichen Mitteln am untauglichen Objekt. Nicht dass ich die
Kilnstler untauglich schelten sollte. Ihren Bemuhungen dankten
wir wundervolle Einzelheiten. Es sei hier aber einmal ausgesprochen :
Das Klinstlertheater selbst, das uns als Normal- und Reformbuhne
gepriesen wurde, ist eine fur festliche Regie durchaus ungeeignete
Anstalt. Um uppige Szenen wirksam zur Geltung zu bringen, dazu
braucht man zunachst Platz. Um phantastische Szenen phantastisch
') Als ich aus dem Gefangnis herauskam, konnte ich allerdings
feststellen, dass auch nur entfernt menschenmogliche Glossen iiber
die Verhaftung in sehr wenigen Blattern erschienen waren. Im
ilbrigen hatten die Organe aller Parteien (die „Munchner Post" alien
voran) mich personlich in der Zeit, wo ich wehrlos eingesperrt war,
so gemein beschimpft, dass ich mich veranlasst sah, im „Vorwarts"
gegen dies perfide Verhalten offentlich Verwahrung einzulegen.
') Langere Betrachtungen rein privater Natur lasse ich hier fort.
— 39 —
wirken zu lassen, dazu braucht man bestimmte Requisiten, iiber die
das Klinstlertheater dank seiner unzweckmassigen Anlage nicht ver.
fiigt. Um Zauberstiickchen zu machen, Gegenstande oder Menschen
erscheinen und verschwinden zu lassen, dazu braucht man eine Ver-
senkung. Hat man, wie im Klinstlertheater, keine Versenkung, weil
der Platz dazu um des Prinzips der Reformblihne willen fehlt, so
muss man darauf verzichten, phantastisch-romantische Festspiele auf-
zufilhren. Man hatte seinerzeit die Moglichkeit, das Klinstlertheater
so zu bauen, dass technische Unzutraglichkeiten vermieden werden
konnten. Jetzt racht es sich, dass man den Theoretikern nachgab,
statt auf die Praktiker zu horen. Die grundsatzliche Vereinfachung
der Szene ist Unsinn, solange man nicht auch die grundsatzliche
Vereinfachung des Theaterspiels iiberhaupt hat. Kein verstandiger
Mensch wird im Zeitalter der Benzinknipser zum Feuerstein zuriick-
greifen, sofern nicht etwa ein sozialer Gedanke ihn und seine Nach-
sten veranlasst, eine Uebergangszeit hindurch primitive Lebens-
formen zu pflegen.
Um mit den unzulanglichen Raumverhaltnissen des Kiinstler-
theaters fertig zu werden, bedurfte es eines Regisseurs wie Max
Reinhardt, der da draussen mit den „Raubern", dem „Sommernachts-
traum", und der „schonen Helena" ja in der Tat ausgezeichnete
Leistungen bot. Wieviel Schweiss und Fliiche es ihn gekostet hat,
mochte ich aber nicht zahlen. Wie er sich mit „Circe" abgefunden
hatte, lasst sich schwer ermessen. Ob er aber den Wunderschrank,
der plotzlich zu erscheinen hat, durch zwei Diener auf die Biihne
hatte rollen lassen, um ihn dann durch zwei Diener wieder abholen
zu lassen, kann fliglich bezweifelt werden.
Herr Halm ist gewiss ein tiichtiger Regisseur. Wollte er jedoch
an der Statte, wo bisher Reinhardt gewirkt hat, eine von Reinhardts
Art deutlich unterschiedene Kunst zeigen, so hatte er in den Tanzen
und Gruppierungen weniger eng an Reinhardt anschliessen sollen,
um nicht einen fur ihn sehr unglinstigen Vergleich zu provozieren-
Das Herantanzen der Nymphen im ersten Akt wirkte nicht natiir-
lich wie die Elfenaufztige in Reinhardts „Sommernachtstraum", son-
dern einstudiert und balleteusenhaft.
Die Szene selbst sah manchmal arg aus. Es geht doch nicht,
dass man hinter einem dichten Wald, der ins Grenzenlose gehen
muss, die Pappwand sieht, die die Biihne abschliesst. Im zweiten
Akt geht der Vorhang auf und man erblickt den verfiihrerischen
Garten durch drei blaue Kachelkamine hindurch, in denen gold-
bronzierte Gotzenbilder stehen. Dariiber wolbt sich ein karmoisin-
roter Himmel. Das sind Unmoglichkeiten.
Sehr hiibsch wirkte dagegen das einfache Biihnenbild am Meeres-
ufer, die Felsblockkette, hinter der der Riese Brutamonte vor dem
— 40 —
erschrockenen Clarin auftaucht. Am besten das Schlussbild, der
rauchende Kraterschlund, in dem Circe zu den Gottern entschwindet.
Es war eine ausgezeichnete Idee, im ersten Akt Circe und ihre
Begleiterinnen in den grandiosen spanischen Kostumen der Velasquez.
Zeit erscheinen zu lassen. Der Kontrast zu den gepanzerten Griechen
war sehr wirksam und schon. Warum sich aber die Damen im
weiteren Verlauf der Begebenheiten plotzlich in griechischen Gewan-
dern zeigen mussten, bleibt unerfindlich.
Die Schauspieler hatten eine undankbare Aufgabe zu losen.
Denn so interessant der Versuch immer sein mag, das Festspiel Cal-
derons zu beleben und so geschickt sich Georg Fuchs immer mit
dem schwierigen Problem abgefunden hat, ein Ubelstand bleibt fur
den verwohnten Geschmack der Zeitgenossen doch bestehen: Die
ganze Art, wie sich die Vorgange entwickeln, selbst die erotischen
Szenen und die Wunderhaftigkeiten sind ohne dichterischen Schmiss,
wirken nlichtern und reizen zum Gahnen. Daran andern reizende
kleinere Einzelheiten, wie die Dialoge zwischen Clarin und Leporell,
oder die Szene mit dem Zwerg und der Duenna nichts, dass man
mit dem Geftihl das Theater verlasst: es war langweilig.
Frau Durieux, die (mit roten Haaren) pompos aussah, nahm die
Rolle als Circe so, wie sie nach der Calderons-Fuchs'schen Vorlage
genommen werden musste: Klihl und majestatisch. Sie sprach ihre
Rolle mehr als sie sie spielte und vergrosserte dadurch die Gestalt
der Circe in der richtigen Erkenntnis, dass sie keine Verinnerlichung
zulasst. Tilla Durieux ist vielleicht die bedeutendste Sprecherin
der deutschen Buhne, und so gab ihre Leistung dem Abend den
besten Teil an Schonheit und Wirkung. Der Ulysses des Dr. Staege-
mann vom Berliner koniglichen Schauspielhause war mir etwas zu
weich, zu tenorhaft, hatte aber, besonders in der Liebesszene des
letzten Aktes, sehr schone Momente.
Max Pallenberg nannte ich hier schon vor einem Jahre einen
Komiker, dessen gleichen es nicht zum zweiten Male gibt. Sein
Clarin bestatigte die hohe Meinung, die er hier vom Menelaus und
von Jupiter her hinterlassen hat. Das ist ein prachtvoller Kerl, voll
bizarrer Einfalle und dabei voll Grosse und Innerlichkeit in seiner
Komik. Im Ausseren und in der Sprache wirkt er wie eine Karri-
katur auf Moissi Manchmal argert man sich iiber ihn, wenn er in
seinem wienerischen Dialekt einen gar zu bloden Witz macht. Man
denkt sich: Zum Teufel! Das gehort doch in die Budapester Orpheum
Gesellschaft ! Dann aber schlagt er plotzlich um und sagt mit
tottrauriger Stimme einen Satz, dass man nicht weiss, ob man vor
Lachen platzen oder laut aufschluchzen soil. Es wird mir unvergess-
lich sein, wie er, aus einem Affen in seine Menschengestalt zurlick-
verwandelt, im weissen Harlekinskostiim vor den roten Vorhang
— 41 —
tritt, sich halb in dessen Falten versteckt, melancholisch ins Publikum
hineinschaut und mit unendlicher Wahrheit sagt: „Ich schame mich
zu Tode". — Er und die Durieux konnten mit dem ganzen Abend
versohnen.
Die ubrigen Darsteller entsprachen ihren Anforderungen. Lud-
wig Hartaus Prinz von Trinacrien ware vielleicht besonderer Er-
wahnung wert.
Das Gute der „Circe"-Auffiihrung ist somit den Schauspielern
zu danken. Es ware sehr zu wlinschen, dass das Kunstlertheater
sich entschlosse, ihnen Aufgaben zu stellen, die weniger nach Experi-
ment riechen wie Calderon-Ausgrabungen. Es gibt moderne Stiicke
genug, aus denen eine kundige Regie mit so hervorragenden Dar-
stellern, wie sie draussen zu Gebote stehen, Brillantes machen konnte,
Stticke sogar, die ohne grosse Schwierigkeiten auch auf der Normal-
und Reformbilhne gespielt werden konnten. Ich erlaube mir zu-
nachst zwei Vorschlage: Wedekinds „So ist das Leben" und Ger
hart Hauptmanns „Und Pippa tanzt". Beide Dramen sind in Mlinchen
noch nicht zu der Auffuhrung gelangt, die ihnen geblihrt. In beiden
Dramen ist fur Regie, Ausstattung und Darstellung die Moglichkeit
zu grossen und schonen Leistungen enthalten.')
Wer noch zweifelt, ob zur Inszenierung wirklich theatermassiger
Spiele grosse, tiefreichende und auf jede technische Forderung vor-
bereitete Buhnen mehr leisten konnen als ein reformiertes Relief-
theater, der sehe sich im Hoftheater „Das alte Spiel von Jedermann"
an, eine Auffuhrung, die in der Geschichte des deutschen Theater-
spiels bemerkenswert bleiben wird.
Das Mysterienspiel selbst, das Hugo von Hofmannsthal einer
alten englischen Moralitat nachgedichtet hat, ist ganz naiv. Jeder-
mann wird jedermann in persona vorgeflihrt, in all seiner Harte,
seinem Unverstand, seinem Geiz, seiner Selbstsucht, seiner Ober-
flachlichkeit, seiner Verbuhltheit, seiner Schwache und seinem gott-
vergessenen Wandel. Gottvater schickt den Tod aus, Jedermann
vor seinen Thron zu laden. Wahrend eines festlichen Gelages ilber-
rascht ihn der Tod, vor dessen schauerlichem Anblick alle ausreissen,
Jedermanns Buhlschaft zuerst, dann Jedermanns guter Gesell, sein
') Die Sommerbuhne im Ausstellungspark hat inzwischen ein
zweites Stuck herausgebracht. Es heisst „Kismet" und ist ein
Bayerisches Gewerbeschauspiel. „Kismet" hat das Verdienst, einen
neuen dramatischen Typus zu kreieren: Man engagiert aus einem
besseren Variete eine Schlangentanzerin und baut ein ,.Traumspiel
aus 1001 Nacht" um sie herum. Das Publikum bekam sehr wert-
volle orientalische Tlicher zu sehen.
— 42 —
dicker Vetter und sein diinner Vetter und die ganze Tischgesellschaft.
Jedermann fleht alle an, ihn doch zu dem schweren Gang zu be-
gleiten und befiehlt endlich seinen Knechten, seinen Goldschatz zu
bringen. Den will er mit sich nehmen. Aber der Deckel der Truhe
hebt sich und Mammon wird sichtbar, hohnend klart er Jedermann
auf, dass er nur auf Erden zu tun habe, und so weiss Jedermann
gar keine Begleitung mehr. Da rufen ihn mit schwacher Stimme
seine guten Werke an, in einer Frauengestalt verkorpert, die sich
vor Entkraftung garnicht vom Boden erheben kann. Er solle sie
mitnehmen, sie werde ihm in den Tod folgen. Der Glaube erscheint,
starkt Jedermanns Seele, sodass auch seine guten Werke sich erheben
konnen und ihn unter Engelsgesang, verklart, gereinigt und gelautert
in die himmlischen Spharen hinlibergeleiten. Der Teufel aber, der
Jedermann schon sicher zu haben glaubte, hat voll Arger das Nach-
sehen.
Diese fromme Symbolisierung eines kindlichen Katholizismus
hat Hofmannsthal in sehr anmutige Knittelverse gekleidet (bei denen
mich nur manchmal die altertumliche Form storte, das „nit", das
nicht ganz frei schien von wienerischem Schmalz). Das muss dem
Dichter auf jeden Fall zugestanden werden, dass es ihm gelungen
ist, durch eine raffinierte Szenenftihrung, die die Handlung ohne
Unterbrechung abwickelt, das Werk dem modernen Geschmack
geniessbar zu machen, wobei er, in richtiger Erkenntnis, dass hier
alles auf Sinnenwirkung ankommt, dem Regisseur die Hauptaufgabe
iiberliess.
Die Regie fiihrte Albert Steinriick. Dieser Mann ist aus Rein-
hardts Schule hervorgegangen. Er schliesst mit Wissen und Willen
an Reinhardts Regiekunst an, und ihm ist es in „Jedermann" als
Erstem gelungen, eine Inszenierung zu bewerkstelligen, die liber
Reinhardts starkste Leistungen hinaus die vollendetste Theaterkunst
die bisher gezeigt wurde, zustande brachte. Steinrlicks „Jedermann"-
Einrichtung ist ein kaum mehr uberbietbares Meisterstuck theatra-
lischer Regie. Theaterkunst ist namlich, was manchen Leuten noch
gesagt werden muss, keine Reproduktion von Wirklichkeiten, sondern
sinnfallige Gestaltung dichterischer Phantasie-Produkte. „Theater"
auf der Blihne ist also kein Vorwurf, sondern, sofern es von Ge-
schmack bedient ist, Aufgabe der Szenenkunst.
Der Vorteil, fiber den Steinriick im Voraus verftigte, bestand
in den riesigen Dimensionen der Blihne des grossen Hoftheaters
und in der technischen Vollkommenheit ihrer Requisiten. Sein
Verdienst besteht in der fabelhaft kiihnen, erfindungsreichen Aus-
nutzung dieser Vorteile, und an dem Verdienst partizipiert der
Hofrat Klein, dessen szenische Dekorationen jedem Theatermaler
als Muster empfohlen werden sollten.
— 43 —
Die Bilhne war in drei Teile geteilt, die in Etagen hinter-
einander aufstiegen. Durch Ueberdeckung des Orchesters war die
Vergrosserung der Szene bis unmittelbar vor die Reihen der Zu-
schauer erzielt und die Moglichkeit, handelnde Personen nach Be-
lieben von unten herauf die Bilhne betreten zu lassen. Fur den
Wechsel der Stimmungen sorgte die Beleuchtung, die zum Teil
durch Scheinwerfer bewirkt wurde und stets nur einen Teil der
Blihne, oft nur die Personen sichtbar werden liess.
Als der Vorhang hochging, sah man einen leuchtenden Sternen-
himmel und im Hintergrund der Blihne einen kathedralen Bau in
drei Spitzbogen, der wahrend des ganzen Spiels das Szenenbild
beherrschte. Die ganz irdischen Szenen spielten sich im unteren
Teil der Biihne ab und die mystischen Vorgange im Mittelbau.
Ganz besonders eindrucksvoll war das Festmahl Jedermanns, das
mit prachtvoll gelungenen Reigenaufzugen begann, bis plotzlich
unter der Gruppe der auseinandertretenden Giiste die lange ge-
deckte Tafel stand, die weiss durch das Dunkel des Raumes
leuchtete, wahrend jede Person, einzeln belichtet, sich wirksam vom
schwarzen Hintergrund abhob.
Die Erscheinung des Todes wahrend des Mahles war iiber-
waltigend schaurig. In griinem Licht, wie phosphoreszierend stand
er da mit sichtbaren Rippen, und wenn er den Mund auftat, glaubte
man seine Zahne klappern zu horen. Wie Herr von Jacobi diesen
Effekt hervorbrachte, muss ihm als eine Glanzleistung kiinstlerischer
Maskierung angemerkt werden.
Auch die Schlussszene war marchenhaft schon. In den schwarzen
Spitzbogen der Kathedrale die Gestalten des Glaubens und der
guten Werke, und zwischen ihnen einfache und lichte Engel. Die
Gefahr, bei diesem Auftritt ins Kitschig-oldruckhafte zu entgleisen,
wiirde erfreulicherweise durchaus vermieden. Etwas storend empfand
ich das auf den Stufen zum Oberbau knieend gesprochene Vater-
unser Jedermanns, das sentimental anmutete. Sonst trlibte nicht
eine einzige Banalitat die kunstlerische Reinheit des volkstumlichen
naiven Spiels.
Das dankbare uneingeschrankte Lob, das dem Regisseur ge-
btthrt, konnte nicht so aus vollem Herzen kommen, ware sein
Werk nicht durch eine glanzende Auffiihrung zur vollen Geltung
gekommen. Abgesehen von dem Prolog, der zum Gltick nur wenige
Verse zu sprechen hatte, trat kein einziger Schauspieler storend in
die Erscheinung. Die Hauptrollen aber waren so ausgezeichnet
besetzt, dass die Zuschauer ununterbrochen fast zwei Stunden vor
dem offenem Vorhang sitzen konnten, ohne die Empfindung eines
erlesenen klinstlerischen Genusses zu verlieren.
— 44 —
Allen voraus ist Herrn Llitzenkirchens Jedermann zu rlihmen.
Er war so, wie das Volk, das Jedermanns Marchen ertraumt hat,
ihm sich vorgestellt haben mag: der protzige, selbsgefallige, aufs
Aeusserliche gerichtete Mann mit der gelinden Bonhomie und
irgendwo im tiefsten Innern dem braven Herzen. Am besten gelang
ihm die Verzweiflung des reichen verwohnten Menschen daruber,
dass plotzlich in seinem Ungllick alle von ihm abrilcken. Auch
zuletzt als Busser zeigte er starkes Geflihl und gute Haltung.
Von Herrn von Jacobi als Tod war schon die Rede. Seine
Maske war ausserordentlich und sein Spiel sehr gut. Es tat wohl,
dass er auf gekilnstelte Schauerlichkeit der Sprache, auf den dumpfen
Gespensterton verzichtete. Er sprach klar, hart und eindringlich
und tat damit seiner Rolle den besten Dienst.
Frau von Hagen gab Jedermanns Buhlschaft einen dezenten lie-
benswlirdigen Charakter, Herr Ulmer als Jedermanns guter Gesell
wirkte besonders in der Szene, wo er ihm die Gefolgschaft kilndigt,
sympathisch. Den Teufel spielte Herr Schwanneke sehr lustig, den
Mammon Herr Graumann kraftig und gut. Als Schuldknecht fesselte
der junge Herr Alten ungemein. Hier scheint sich ein starkes Talent
zu entfalten. Dasselbe gilt von dem offenbar sehr begabten Fraulein
Hohorst, das die guten Werke Jedermanns mit grosser Innerlichkeit
und Warme verkorperte. Ganz besonders mochte ich auch Frau
Conrad-Ramlo hervorheben. Das war Jedermanns Mutter, so er-
greifend, so wahr und voll stiller Gute, wie sie in Jedermanns
Gemilt lebt.
Es macht grosse Freude, mit solcher Begeisterung liber eine
Theater-Auffuhrung referieren zu konnen. Die Mlinchner Blihnen-
leiter mogen daflir sorgen, dass ofter als bisher Grund zur Freude
gegeben sei.
Bemerkungen.
Bonnot Gamier und Co. „Alles verstehen heisst alles verzeihen",
sagt der Banause, wenn er grosszilgige Weltanschauung markieren
will. Der Satz: „Alles verzeihen heisst nichts verstehen" dilrfte zu-
treffender sein. Das schicke ich meiner Meinungsausserung ttber
die merkwiirdigen Pariser Vorgange voraus, um dem Verdacht zu
entgehen, ich mochte die Taten der sogenannten Automobilapachen
dem Verstandnis guter Burger naherucken, um sie ihrer Verzeihung
zu empfehlen. Der moralische Abscheu, mit dem der Ordnungsmann
jegliche Entschuldigung jener Verbrecher, Morder und Banditen von
sich abwehrt, ist vollig in der Ordnung. Gehe ein jeder seinem
Tagewerk nach, zahle seine Steuern, verdamme die Uebeltater und
freue sich, dass Gott ihn anders und nach bestem Wunsche
geschaffen hat.
Mir als dem Anwalt der Verstossenen mit dem Kainsmal an der
Stirn wird man freundlichst eine abweichende Meinung iiber die
— 45 —
Taten Bonnots, Garniers und Co. zubilligen mlissen. Gewiss wunsche
auch ich nicht, dass die bewaffnete Bankrauberei, werde sie auch von
gestohlenen Automobilen aus und mit viel romantischem Beiwerk
ausgeilbt, zur geltenden Umgangsform im Leben der Nationen aus-
wachse. Aber mir scheint die Befurchtung tibertrieben, dass eine
Sympathieausserung flir die, die dergleichen einmal unternommen
haben, zur Nacheiferung anstacheln konnte. Was in mir flir die
Pariser Rauber Sympathieregungen weckt, ist gerade das Bewusstsein,
dass ihr Auftreten, ihr Vorgehen, ihr Ende vereinzelt bleiben muss,
weil nur in vereinzelten Ausnahmemenschen die Verzweiflung an
allem menschlichen Gehaben zu so phantastischer Entschlossenheit,
zu einem solchen Grade klihner Selbstentausserung reifen kann.
Der Staatsanwalt, der da aufgesprungen ist, moge sich wieder
setzen. Ich denke nicht daran, zur Nachahmung von Taten aufzu-
reizen, die niemals aus einer Anstachelung von aussen her geboren
sein konnen. Genau so unsinnig ware die Annahme, warnendes Ab-
raten hatte die Bonnot, Gamier, Vallet und ihre Gefahrten je hindern
konnen, zu unternehmen was sie taten. Das waren Erledigte, die
das Bewusstsein hatten, wie fertig sie waren. Am Wahnwitz der
gesellschaitlichen Organisation Zertrummerte, die ihr Aufgehen im
Nichts explosiv gestalten wollten. Und auf ihre Art waren es
Helden: geschlagene Soldaten, die noch einmal in den Kampf gingen,
in den Feind hineinhieben und ihrer Uebermacht sterbend erlagen.
Keiner von ihnen hat sich ergeben, keiner ist der Polizei, dem
Militar, der Justiz lebend in die Hande gefallen, — sie alle haben
sich gewehrt bis zum Ende.
Vom Idealisten zum Desperado ist nur ein kleiner Schritt.
Bonnot, Gamier und Co. waren Idealisten, bis sie Enttauschte waren,
bis sie — die Einzelnen — der ganzen Gesellschaft und ihrer waffen-
starrenden Organisation, dem Staat, den Krieg erklarten, der nur
mit dem Tode endigen konnte. Sie, die Verbrecher, die Rauber,
die Banditen haben den Krieg gegen den frommen, braven Bruder,
gegen die gesittete Gesellschaft, tapfer gefuhrt.
Schlagt euer altes Testament auf und lest die ewige Legende
nach von Kain und Abel. Hier habt ihr sie in moderner Auflage.
Der Kampf mit dem Drachen. Der Parlamentarismus ware eine
sehr hlibsche Einrichtung, wenn es keine Oppositionsparteien gabe.
Man kame zusammen, nickkoppte und der Staatskarren liefe, wohin
die Regierung ihn schobe. Manche Leute lassen sich aber immer
noch in die Parlamente wahlen, um nicht regelmassig zu nickkoppen.
Da kann naturlich die Wohlfahrt nicht gedeihen. Die arbeitswilligen
Majoritaten miissen im Interesse der erspriesslichen Gesetzgeberei
die grosse Schnauze durch die gepanzerte Faust erganzen. Als
letztes Mittel, wenn kein anderes mehr verfangen will, ist ihr der
Schutzmann gegeben. Er hat erst in Berlin und dann in Budapest
gezeigt, dass seine Korperkraft das Serum ist, das die ewige Krank-
heit, als welche sich Gesetz und Recht forterben, zu kurieren weiss.
Auch in Strassburg, wo sogar die Majoritat nicht will, was sie wollen
soil, kann es eines Tages Scherben geben. Elsass-Lothringen wird
preussische Provinz, und die Widerspanstigkeit der reichslandischen
Parlamentarier wird dem Berliner Schutzmann unterstellt. Auf diese
Weise muss ja endlich Ordnung und gute Sitte das Land regieren.
— 46 —
Die Wahler sind nicht einverstanden? Sie fiihlen sich in ihr
Staatsburger-Rechten beeintrachtrigt? Nicht doch! Ihnen bleibt ja
die Freiheit, soviel Massenversammlungen einzuberufen, wie sie immer
wollen Ihr Tatendrang darf sich in Protestresolutionen ausleben.
Der Zahl ihrer Entrlistungsschreie wird von keiner Macht der Welt
eine Grenze gesetzt.
Die entsprechende Siihne. Munchen veranstaltet zur Hebung des
Fremdenverkehrs jedes Jahr riesige Ausstellungen, Festspiele, Preis-
kegelscheiben und ahnliche Anstrengungen. Um die Fremden mog-
lichst rasch wieder los zu werden, schikaniert er sie mit der Polizei-
stunde, schmeisst sie um drei Uhr aus alien offentlichen Lokalen
heraus uud bewirkt in der Tat damit, dass die verargerten Besucher
die im irrtiimlichen Glauben hergekommen waren. Munchen sei eine
Grosstadt, das ungastliche Dreiviertelmillionen-Dorf in Massen wie-
der verlassen. Will jemand die Flilchtlinge sehen, so begebe er sich
von V24 Uhr frlih an zum Bahnhofrestaurant I. und II. Klasse. Er
sei aber selbst Reisender, also mit einem gultigen Fahrtausweis aus-
gerustet und in ehrlichem Gemlite willens, von seiner Fahrkarte Ge-
brauch zu machen. Ausserdem wird sein Uebermut die entsprechende
Siihne finden.
Am 29. Februar „vormittags" gegen 3 Uhr fasste eine Gesell-
schaft von vier Herren und einer Dame den Entschluss, ein nettes
Beisammensein, das durch die Polizeistunde gestort wurde, noch
auszudehnen. Ich gehorte zu dieser Gesellschaft. (Du lieber Himmel,
am 29. Februar wird man doch auch mir mal eine unsolide An-
wandlung verzeihen.) Da wir alle keine heiligere Pflicht kannten,
als die, uns loyal in die behordlichen Anordnungen zu schicken, da
wir ferner wussten, dass die einzige Moglichkeit, noch irgendwo zu
bleiben, das Restaurant des Hauptbahnhofes bot und da wir auch
die Bestimmung kannten, dass nur die ernsthafte Absicht, zu
reisen, den Zutritt zu diesem Etablissement zu einer rechtlich unbe-
anstandbaren Handlung erhob, kamen wir uberein, eine Reise zu
unternehmen. Der Bahnschalter fur fernere Ziele war noch ge-
schlossen und wir kauften Billete nach dem Sudbahnhof zum Preise
von zehn Pfennigen. Als wir, ohne Boses zu trachten, vor unserer
Tasse Kaffee sassen, erschien ein Beamter, teilte uns mit, dass der
Zug zum Siidbahnhof soeben abgefahren sei, nahm uns die bei der
provisorischen Sperre vor den Restaurationsraumen durchlochten
Fahrkarten ab und hiess uns das Lokal verlassen. Eiligen Schrittes
verliessen wir es und ersinnen einen neuen Reiseplan. Fur je 20
Pfennige erstanden wir Billete nach Obermenzing und waren nicht
unzufrieden, als uns der Schalterbeamte daraufhinwies, dass wir den
Zug, der 4" iuhr, nicht mehr erreichen konnten und dass der nachste
Zug erst 5" abgehe, da der Dachauer von 4 s2 nicht in Obermenzing
halte So hatten wir eine gute Stunde Zeit, uns der Vorfreude hin-
zugeben, einen Spaziergang zu planen, der uns iiber die Pasinger
Landstrasse an Neulustheim vorbei, wo mir personlich immer senti-
mentale Betrachtungen rege werden, durch den Nymphenburger Park
zur Linie 1 der Miinchener Elektrischen gefuhrt hatte und inzwischen
noch eine Tasse Kaffee zu trinken — Die Sache ging ttbel aus.
Einige Wochen spater hatten wir Strafbefehle und sollten je acht
Mark zahlen wegen Vergehens gegen die Eisenbahnbetriebsordnung.
Hier sind einige Satze aus dem Schoffengerichtsurteil, das wir im
— 47 —
Bewusstsein unserer Unschuld auf dem Berufungswege herbeifuhrten.
Sie werden dem Leser den Verlauf der Tragodie sinnfalliger vergegen-
wartigen, als ich es in meinem Schriftsteller-Dialekt zuwege brachte:
„Die Angeklagten fuhren aber mit dem um 4 Uhr 25 Min. nach
Obermenzing abgehenden Zug nicht fort" (weil wir, wie gesagt, die
Billete erst losten, als der Zug schon unterwegs war) „und wurden
nach Abgang des Zuges um 4 Uhr 52 Min " (der wie gesagt in Ober-
menzing nicht anhalt) „noch im Wartezahl zechend" (Kaffee zechend)
„angetroffen. Es wurde deshalb von Seite der Schutzmannschaft
mit Anzeigeerstattung gegen die Angeklagten vorgegangen."
„Reisender" im Sinne dieser Bekanntmachung ist nur derjenige,
welcher im Besitze einer giltigen Fahrkarte sich befindet und zu-
gleich auch den Willen und die Absicht hat" (beides ist notwendig !)
wirklich wegzufahren." (Die Absicht nach Obermenzing zu reisen,
glaubte uns das Gericht, die, auch den Siidbahnhof zu besuchen,
nicht.)
„Die unhaltbaren Zustande im hiesigen Hauptbahnhofe, mit
denen sich die Gerichte wie die Presse schon seit Jahren beschaf-
tigten" (der Satz ware vielleicht noch besser zu stilisieren gewesen)
„fuhrten im Interesse der Erhaltung des Ansehens einer Fremden-
stadt zu der obigen auf den ersten Anschein vielleicht zu hart er-
scheinenden Massnahme, da es sonst nicht moglich war, lichtscheues
Gesindel und betrunkene Kneiper vom Hauptbahnhofe fern zu
halten" (Die Idee, andere Lokale zu offnen, liegt allerdings ganz fern.)
„Die Rechtswidrigkeit des Zutritts zum Wartesaal konnte nur
dann mit Erfolg in Zweifel gezogen werden, wenn die Angeklagten
heute behauptet hatten, sie wurden erst nach Betreten des Warte-
saals den anfanglich ernstgefassten Gedanken, nach dem Siidbahnhof
zu fahren, wieder aufgegeben haben." (Eine dankenswerte Anregung.)
„ . . . einer oberpolizeilichen Vorschrift ilber Aufrechterhaltung
der Ordnung in den Bahnhofen zuwidergehandelt zu haben" „..er-
scheint unter Berilcksichtigung der Vermogens- und Einkommens-
verhaltnisse eine Geldstrafe von je drei Mark als entsprechende
Suhne". („Im Falle der Uneinbringlichkeit" werden wir statt dessen
einen Tag in Stadelheim zubringen dttrfen.)
Schade um den Taler. Jedenfalls wissen wir aber jetzt, warum
man in Miinchen zwischen 3 und 6 Uhr nachts keinen Raum findet,
wo man gesellig sitzen und etwas gemessen kann: „Im Interesse der
Erhaltung des Ansehens einer Fremdenstadt."
GeburtstagSgrusse. Allmahlich kommen die, die einst „das jiingste
Deutschland" hiessen, zu grauen Haaren. Manche von ihnen liegen
langst unter der Erde: Hermann Conradi, Otto Erich Hartleben,
Otto Julius Bierbaum, Heinrich Hart, Liliencron und Peter Hille
(dessen gewaltige dichterische Potenz die Welt noch einmal ein-
sehen wird). Andere sind weit ilber die fiinfzig hinaus und nicht
alle von ihnen haben sich so jung erhalten, wie der tapfere M. G.
Conrad. Die meisten wurden in den Jahren 1862 — 65 geboren und
jetzt werden wir viele fiinfzigste Geburtstage zu feiern bekommen
und den Gefeierten wiinschen, dass sie mit diesem Tage noch nicht
in die Schar der Jubilaumsgreise eintreten mogen.
Im Mai war Artur Schnitzler an der Reihe, unter den Oester-
reichern die erfreulichste Erscheinung. Ein feiner, kluger Geist, sehr
differenziert, sehr empfindsam, sehr geschmackvoll. Das ist das
— 48 —
Wertvollste an Schnitzler, dass er sichtbar immer noch im Aufsteigen
ist. Sein letztes Drama „Das weite Land" gehort zu den starksten
Buhnenwerken, die in den letzten Jahren uberhaupt geschrieben wurden.
Man muss sich der Gelegenheit freuen, solchen Mann grussen zu diirfen.
In diesen Tagen wird Johannes Schlaf funfzig, einer der Weg-
macher der „Modernen". Auch der ist noch im Werden und das
mag der Grund sein, weshalb man ihn seit geraumer Zeit lange nicht
mehr genilgend schatzt. Der deutsche Literaturphilologe ist ge-
wohnt, jeden, der ihm in die Fange gerat, auf eine Note festzulegen.
Er nimmt es personlich libel, wenn sich einer nicht mehr in die
Schablone schicken will Schlaf hat seine naturalistische Programm-
richtung langst hinter sich gebracht. Er ist sehr eigne und sehr
merkwurdige Wege gegangen. Ueber das Drama, die Novelle und
den Roman hinweg — und was er Feines und Starkes als Dichter
geleistet hat, das soil ihm unvergessen bleiben — hat er sich als
philosophischer und naturwissenschaftlicher Kritiker versucht. Ich
teile seine Ansicht liber Nietzsche garnicht, aber die Eigenheit der
Gedanken und die Eindringlichkeit der Argumente sollten Schlaf
vor dem ironischen Geklaffe der Kleineren schiltzen. Vor nicht
langer Zeit unternahm er es, das Kopernikanische System anzu-
greifen. Der Deutsche Burger brach in Hohnlachen aus. Der
deutsche Burger, der zwar keine Ahnung von Astronomie hat, weiss
namlich ganz genau, dass das, was Kopernikus gesagt hat, letzte
und unumstossliche Wahrheit ist. Ich kann weder Kopernikus noch
Schlaf kontrollieren, ich erinnere mich aber, in der Schule gelernt
zu haben, dass auch Kopernikus mit seinen Behauptungen einigen
Zweifeln begegnet sein soil. Ich wlinsche Johannes Schlaf noch
lange Jahre das jugendliche Draufgangertum, das den Burgers- und
Zeitungsmenschen so unsympathisch ist.
Maria im Rosenhag. Das Kausen hat Malheur gehabt. Es hat
ein gutes Buch empfohlen: allerdings nur im Inseratenteil. Alexander
von Bernus hat im Karlsruher Dreililien-Verlag ein Buch erscheinen
lassen: „Maria im Rosenhag". In sehr hubschen leichten Versen
wird da die Gottesmutter angesungen, und zwar in einer graziosen,
heiter-anmutigen Verschmelzung ihrer christlichen Gestalt mit der
heidnischen einer Liebesgottin. Maria als Schirmmutter der geistigen
und der sinnlichen Liebe — das ist die ethische Idee des Buches.
Es ist nicht unerfreulich, wenigstens unter den Annoncen der
„Allgemeinen Rundschau" auch Literatur empfohlen zu sehen, wie sie
das Kausen gewohnlich im redaktionellen Teil zu sittlichen Ekstasen
aufpeitscht. Ein Gedicht schliesst:
Uns verfiihren tausend Sterne
und der Duft verhangner Blaue
in die buhlerische Ferae,
wie ihr Grund auch totlich draue.
Dass wir flirder nicht wie Diebe
unserer Stunde warten mlissen,
lass uns Du in jeder Liebe
immer Deine Lippen klissen."
Hoffentlich tibt das Inserat in der Allgemeinen pornographischen
Rundschau einige Wirkung aus. Es kann auch Kausens Lesern
nicht schaden, einmal bessere Verse in die Finger zu bekommen, als
die gewohnten lyrischen Ausschleimungen hirnverstopfter Landpfarrer.
Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9.
Druck von Max Steinebach, Monchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Mdnchen, Baaderstr. la. Tei.2355
JvAlJNj xlClt 1. I nh alt: Anarchistisches Bekenntnis Miinch-
ner Theater. — Intriguen. — Bemerkungen. — Karl May. —
Die Pleite im Ruhrrevier. — Mottl und die „Miinchner Post".
— Die Tugend hat gesiegt.
KAIN, Heft 2. In halt: Politisches Variete. — Tagebuch
aus dem Gefangnis. — Der hiesige Zensor. — „Titanic." —
Die Jesuiten. — Vom Geistesmarkt. — Aus dem „Krater".
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Kunft, literatur, IDiffcnfftaft
fdjnell — nollflandig — prctsmert.
Hkademifd) und literanfrt) gebltdete rekioren.
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erfcftienen foigentlc BUifter.
OlC tUllftC* 6cdl{»tC. 1904. m. 2.40.
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ecciittnc. 1909.
m. z —
01 1 ROf|)ftdplCr*. LUjtfpleL 1906. m.2.-
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JahrgangIL No. 4. Juli 1912
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Aus dem reichhaltigen Inhalt des 128 Seiten umfassen-
den, illustrierten Bandes heben wir hervor:
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Sozialismus. — Pierre Ramus: Aus den Folterkammern des Staates. —
Aufruf der Internat. Antimilitarischen Assoziation: An die Rekruten Frank-
reichs ! Fritz Brupbacher: Die Aufgaben des Anarchismus im demokratisc hen
Staate. — Otto Karmin: Syivain Marechal und die Verse hworung der
Gleichen, — Alexander Berkmann: Der Fehlschlag des Kompromisses
zwischen J deal und Wirklichkeit — Andreas Kleinlein: Der Syndikalismus
in Deutschland. — Domele F. Nieuwenhuis: Aus dem Leben eines revo-
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Einzelexemplar (inkl. Porto) Mk. 1 — , bei Bezug von 3 Exempl. fur
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Rudolf Grossmann, Klostemeuburcj (bei Wien)
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Jahrgang II. Miinchen,
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■ IH T'l 1 I It t t I ■, l-l >>■< I < I I < I it I I > I- < II II < II >.4. <■ > t ,|..|, | ,« .< I I | J 4 I It |.|..|.l.l..|.l,l..|,.l
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Miinchen. Baaderstrasse la
Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber.
Mitarbeiter dankend verbeten.
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Die Presse.
Es war sehr schon. Von Westen und Osten, von links
und rechts waren sie herbeigestromt und hatten in Miinchen
ihren Kongress. Viele viele Reden wurden gehalten. Die
iiberm Strich sprachen und die unterm Strich, die Mittag-
und Abendzeitungen sandten Redner aus und es redeten
auch die heiligen Konige aus dem Morgenblatt. Alle aber
priesen ihre hohe Mission, alle fanden des Riihmens kein
Ende, wenn sie die Kulturbedeutung der Presse erorter-
ten, aus jeder Rede floss triefendes Lob auf die verdienst-
liche Tatigkeit der Zeitungen und olige Zufriedenheit iiber
die eigne erspriessliche Leistung. Es war als ob sich ein
Bonze wohlgefallig auf den Bauch klopfte.
Die Generale der siebenten Grossmacht (oder ist's die
achte? Ich habe kein Schmocklexikon zur Hand), die ein-
ander auf dem Schlachtfeld der offentlichen Meinung mit
jedem erreichbaren Stinkgeschoss zu bombardieren pflegen,
nannten sich gegenseitig „Herr Kollega" und schrieben in
den kongressfreien Stunden Berichte iiber die Einmiitig-
keit der deutschen Journalisten und die laufenden Artikel,
in denen der Verhandlungsbruder unter moglichster Ver-
— 50 —
meidung des Sauherdentons als Schurke, Verleumder, Gau-
ner und Ehrabschneider hergerichtet wurde. Es waren
erhebende Tage.
Nun ist es ja gewiss hiibsch, wenn sich der Kampf der
Meinungen, der Widerstreit von Ueberzeugungen und Kul-
turidealen auf einem so hohen Niveau abspielt, dass die
Streitenden niemals den Respekt vor der ehrlichen Gesin-
nung des Gegners verlieren. Es ist ein Zeichen wirklichen
Anstands, wenn Manner, die ein Abgrund von Ideen trennt,
sich gleichwohl freundlich die Hand reichen, weil jeder
im andern den Idealisten wiirdigt, als der er selbst einge-
schatzt werden will. Es ware ein Ziel, aufs Innigste zu wiin-
schen, wenn jede Ansicht so scharf wie nur moglich, aber
sachlich und ohne Gehassigkeit verfochten wiirde, und
wenn jede Person, die sich vor eine Sache stellt, gegen Ver-
unglimpfung und Verdachtigung gefeit ware.
Ich habe mien oft gefragt, warum wohl die Presseleute,
wenn sie polemisch werden, niemals sachlich bleiben kon-
nen, warum sie niemals eine gegnerische Meinung bekam-
pfen, sondern immer nur den Gegner, und warum diese
Sitte in alien Lagem ohne Unterschied der Partei und der
Konfession geiibt wird.
Der Grund durfte im politischen Charakter aller Zeitun-
gen ruhen. Tun wir der Politik einmal die Ehre an, sie als
geistige Disziplin zu werten und ihr eine Definition zu
suchen, gegen die der stolzeste Politiker nichts einwenden
wird, so konnen wir (mit gutmiitigem Schmunzeln) zu-
geben: Politik ist die Wissenschaft von den realen Notwen-
digkeiten. Darin liegt aber die Feststellung eingeschlossen,
dass Politik etwas ist, was am Tage klebt, was jedes Zu-
sammenhangs mit ewigen Dingen bar ist, was nicht die
Menschheit, sondern die Leute angeht.
So ist denn jeder politische Streit ein Streit von Person
zu Person. Die Sache, um die er geht, ist identisch mit ge-
wissen Menschen, die denn doch allemal zu wenig Person-
lichkeit sind, um mit ihren Namen eine die Zeit iiberstrah-
— 51 —
lende Idee reprasentieren zu konnen. Die Kleinheit der
Objekte rechtfertigt die Auffassung, die in der Beseitigung
der Subjekte die Entscheidung des Kampfes erblickt.
Hinter alien politischen Redereien, Schreibereien und
Tuereien fehlt die ethische Riickenlehne. Sie verbog sich
bei den Verrenkungen der Streiter, bis sie im Zank um die
diirftigen Realitaten der Alltagsrempeleien vollig abbrach.
Die Journalistik weiss von jeher den politischen Drehsche-
mel am gelenkigsten zu handhaben, da die Anonymitat,' aus
der heraus sie mit vergifteter Tinte um sich spritzt, d;e Per-
son des Schreibers jeder ethischen Verpflichtung enthebt.
Jahraus jahrein beschimpft einer den andern auf das Un-
flatigste, — wo sie sich aber bei Kongressberatungen zu-
sammenfinden, wissen sie, dass sie einander wert sind, dass
keiner dem andern eine Riipelei schuldig geblieben ist, und
sie sind einig, dass das Lesepublikum durch den hohen Kul-
turfaktor der Presse nach gemeinsamen Grundsatzen er-
zogen werden muss.
Die Grundsatze der Abonnentenerziehung bestimmen
sich aus der Abschatzung, welches Quantum Tatsachen-
kenntnis aus dem Schatz des Journalistenwissens dem
Zeitungsleser zutraglich ist. Derm Tatsachenkenntnis ist
das einzige, was der Spaltenfuller abzugeben hat, seine
Schriftstellerei ist Reportage, — was dariiber hinausgeht,
sind Brockhaus-Exzerpten. Man will also aus padagogischen
Bedenken mit den Mitteilungen ans Publikum haushalten.
Die Nachrichten, fiir deren Registrierung der Abonnent
zahlt, sollen erst eine Redaktions-Zensur passieren, damit
der Auftraggeber der Zeitung nicht etwa an seiner Seele
Schaden leide.
Wir konnen somit in der Entwicklung des Gegenseitig-
keitsverhaltnisses zwischen Presse und Publikum eine ganz
ahnliche Erscheinung beobachten, wie in der Beziehung
zwischen Polizei und Publikum. Urspriinglich war die
Polizei das dienende Organ der Bevolkerung, das zur Be-
quemlichkeit des offentlichen Verkehrs auf Anordnung der
— 52 —
Biirger gewisse praktische Handreichungen auszufiihren
hatte. Allmahlich verschob sich das Verhaltnis. Die Po-
lizei ordnete sich den offentlichen — und weiterhin auch
den privaten Verkehr der Menschen in einem Grade unter,
dass das auftraggebende Biirgertum zum gehorsamen
Eleven der behordlichen Schneidigkeit wurde. Heute wagt
der freie Mann nicht mehr, einen personlichen Entschluss zu
fassen, ehe er nicht die Erlaubnis der hohen Polizei einge-
holt hat.
Die Presse hat von Natur aus den Beruf, iiber die Dinge,
die in aller Welt Anspruch auf allgemeine Aufmerksamkeit
haben, Berichte einzusammeln, sie zu vervielfaltigen und
denen, die sich darauf abonnieren, zuganglich zu machen.
Jeder weiss, dass diese Aufgabe heutzutage nirgends mehr
als Beruf der Zeitungen angesehen wird, und dass die Ta-
gesblatter langst zu Agenturen teils ihrer politischen In-
spiratoren, teils ihrer unpolitischen Inserenten geworden
sind. Der Abonnent, der Leser, der Auftraggeber wird
zum Parteiganger der Politiker und zum Kunden der annon-
cierenden Geschafte erzogen. Um ihn aber erziehen zu
konnen, muss er beaufsichtigt und bevormundet werden.
Die Presse macht sich zu seinem Mentor und Verfugt, was
er wissen darf und was ihm verheimlicht werden soil.
Bei der Miinchener Tagung kam man iiberein, die Zen-
surtatigkeit der Redaktion in erhohtem Masse der Gerichts-
berichterstattung angedeihen zu lassen. Der Leser soil vor
dem verseuchenden Einfluss kriminalistischer Sensationen
behiitet werden. Ein hohes Ziel. Doch scheint die Frage am
Platze, mit welchem Koder man derm kunftighin das Pub-
likum zur Lektiire der pohtischen Stimmwerbung und der
geschaftlichen Inserate anlocken will. Die tatsachlichen Mel-
dungen zeithistorischer Ereignisse, die einstmals all in
ihrer Niichternheit das einzig bestimmende Moment zur
Ausgabe der Zeitungen war, ist von der Journalistik nach
und nach soweit zur Nebensache gemacht worden, dass
auch beim Zeitungsleser selbst das Bediirfnis, sachliche
— 53 —
Neuigkeiten zu erfahren, mehr und mehr dem Hunger nach
sensationellem Unterhaltungsfutter gewichen ist. Die Auf-
takelung realer Vorgange mit gruseligen Detailschilderun-
gen ist zu selbstverstandlich geworden, um in neuigkeits-
liisternen Zeitgenossen noch nachhaltige Erregungen her-
vorrufen zu konnen. Auch die Wettjagd der Presse um den
Schnelligkeits-Rekord telegraphischer Nachrichten, die
langst der Fixigkeit eine wichtigere Bedeutung als der Rich-
tigkeit verliehen hat, bewegt viel weniger den Abonnenten
als den Redakteur.
Das sicherste Mittel, das Publikum in empfanglicher
Laune zu halten und damit den Erziehungsabsichten der
Presse zuganglich zu machen, bietet immer noch die Aus-
breitung schmutziger Privatwasche an offentlichen Trocken-
leinen. Den Nachbarn in Situationen zu beobachten, in
denen er unbeobachtet sein mochte, bereitet dem Burger
jedes Standes am zuverlassigsten den Kitzel, den herbeizu-
fuhren im Interesse der padagogischen Tendenzen der
Zeitungen liegt. Der Ort aber, wo die Unterkleidung der
Nebenmenschen vor aller Blicken umgewendet und in eine
Beleuchtung gehangt wird, die jeden Flecken transparent
plakatiert, ist der Gerichtssaal. Und die Presse sollte plotz-
lich darauf verzichten wollen, die forensischen Entklei-
dungsszenen der Justizprozesse ihren Abonnenten im dra-
matischen Film vorzufuhren? Sie wird nicht.
Die Presse kann garnicht auf die ausfuhrliche Repor-
tage sensationeller Gerichtsverhandlungen verzichten,
selbst wenn sie mochte. Denn die Gewohnung der Zei-
tungsleser an eine ununterbrochene chronique scandaleuse
muss ihr wichtig sein, weil nur sie ihr die Moglichkeit gibt,
die Aufmerksamkeit des Publikums auf das Privatleben ge-
sinnungsfeindlicher PersonUchkeiten in ihre pohtische Be-
rechnung zu stellen: worauf ja wiederum der Erziehungs-
eifer der Journalistik abzielt.
Man wird meine Bemiihungen um die psychologische
Ergriindung des Pressecharakters gehassig schelten. Man
— 54 —
wird einwenden (nicht in offenflicher Polemik, sondern in
stiller Einkehr. Derm mit Herrn Miihsam polemisiert man
nicht), dass bei der Orientierung der Leser erziehliche Er-
wagungen geboten seien, da gerade die im Konkurrenz-
kampf entwickelte Mannigfaltigkeit des Zeitungsinhalts den
Redakteur mit einer kaum ertraglichen Verantwortlichkeit
gegen das allgemeine Wohl belaste. Seine exponierte Ta-
tigkeit drange den Joumalisten als Fiihrer vor die Massen,
und er habe Sorge zu tragen, dass die allgemeine Moral,
wie sie alle Volksklassen und alle Religionsgemeinschaften
anerkennen und wie sie in der Bergpredigt ihren bestge-
formten Ausdmck findet, nicht ins Wanken gerate. — Man
wird mit seinen Einwendungen kein Gliick haben.
Es ist keineswegs meine Absicht, der bestehenden
Presse neue Bahnen fur ihre Wirksamkeit anweisen zu
wollen. Je ne juge pas, je constate. Falls in meinen Fest-
stellungen die eine oder andere Wendung wie ein Vor-
wurf klingt, so wird man das der gelingen Scham zugute
halten miissen, dass die Bespiegelung des Instituts, das zum
Nutzen vermehrter Kultur helfen konnte und miisste, ein
gar so trauriges und hassliches Bild zeigt. Gerade das ist ja
der Kem meiner Konstatierungen, dass den Joumalisten das
Bewusstsein ihrer Verantwortlichkeit so durchaus fehlt, und
dass diejenigen, die fur die Oeffenflichkeit schreiben, keine
entfemte Vorstellung von der furchtbaren Resonanz des ge-
druckten Worts haben. Wollte ich Vorwiirfe erheben, so
ware dies der starkste: dass die Presse nicht schon immer
durch eine bescheidene Objektivitat auf den Geschmack und
den Anstand der Menge erzieherisch gewirkt hat und
dass sich ihre Vertreter in unbescheidener Anmass-
ung zusammensetzen, um die von ihr im Publikum
grossgezogene Geschmacklosigkeit, Indolenz und Sensa-
tionsgeilheit mit dem Erziehungsbakel wieder auszutreiben.
Mit ernster Emporung aber muss es zuriickgewiesen
Werden, wenn jene Herren sich fur ihre skandalfrohe
Orientierungstatigkeit auf eine sittliche Mission berufen,
— 55 —
Dazu hat kein Recht, wer Trager fremder Ideen mit per-
sonlichem Unrat bewirft. Christliche Ueberzeugungen
stehen dem schlecht an, dem seine eignen Ueberzeugungen
so wenig heilig sind, dass er von fremden nur mit hami-
scher Verdachtigung reden kann. Das Kreuz wird zur
Farce, wenn es als Geschaftsemblem vor einen Laden ge-
nagelt wird. Die Gestalt des Begriinders des Christentums
scheint mir bespieen und beschmutzt, wenn ich die Soldner
der offentlichen Meinung mit seinen Worten hausieren
gehen sehe. Werden sie ethisch, so bringen sie ihre
schmalzigen Verlogenheiten, als kamen sie eben von einer
Interview mit Jesus Christus und spielen sich auf als seine
Jiinger und als Hiiter seines Vermachtnisses. Ach, Herr-
schaften, es gibt noch gewisse Unterschiede zwischen einem
Essaer und einem Essaysten . . .
Ob der Miinchener Pressetag den Erfolg haben wird,
dass nun wirklich in den Berichten iiber Prozessverhand-
lungen die Bettwasche der Beteiligten etwas vorsichtiger
bestrahlt werden wird als die Unterhosen, das scheint
wenig belangvoll. In den Leitartikeln und im Feuilleton, im
lokalen Teil und in den faits divers wird alles beim alten
bleiben. Die gute Beziehung zum Inseratenteil und zu den
politischen Einblasern wird nach wie vor das Leitseil sein,
an dem die Kritik der offentlichen Dinge ans Licht krabbeln
darf. Die Erziehung des Publikums zu unbedingter Autori-
tatsglaubigkeit wird — zum Heile der Staaten — vomehmste
Aufgabe der Publizistik bleiben, und die Stimmungsmacher
selbst werden je nach Parteirichtung einander auch ferner-
hin als Schurken, Verleumder, Gauner und Ehrabschneider
traktieren, bis ein neuer Kongress sie alle zu neuer Gemein-
samkeit zusammenfuhrt.
Wer es aber wagt, abseits zu stehen, Ansichten zu
haben, die in die Tiefe greifen, sich den Stecknadel-
Scharmutzeln der Tagesschreiber zu entziehen, um fur
einen besseren Kampf starkere Waffen zu Schmieden, den
werfen sie in wohlverstandener Solidaritat als Auswurf des
56
Auswurfs vor die Saue. Er wird sich aber nicht hindern
las sen, seinen Weg vorwarts zu gehen und es fur eine kul-
turvolle Aufgabe zu halten, der offentlichen Meinung von
Zeit zu Zeit mit Vehemenz in die Presse zu schlagen.
Tagebuch aus dem Gefangnis.
(Fortsetzung.)
Am Nachmittage schrieb ich noch eine Reihe von Briefen Denn
der Inspektor hatte mir fur mein Geld ausreichend Konzeptpapier
nebst Kuverts und Briefmarken holen lassen. Besonders hob sich
meine Laune durch den schwarzen Kaffee mit zwei Buttersemmeln,
der nachmittags kam, wie denn uberhaupt meine Stimmung seit der
Einflihrung der Selbstbekostigung wesentlich besser geworden ist.
Aber Zigarren hatte ich an diesem Abend nicht, und ich war un-
gliicklich, mir von den zweien, die ich am Abend vorher geraucht
hatte, nicht eine reserviert zu haben.
Am folgenden Morgen (Dienstag, den 2. November) berichtete
mir Giesmann, der auf Anordnung des Oberaufsehers meine Zelle in
Ordnung zu halten hatte, wahrend er den Topf aus dem ,,Leibstuhl"
nahm, dass oben im dritten Stock eine sehr schone Zelle — Nr. 48
— leer geworden sei, die ein grosses Fenster habe und „bald so
scheen wie ne Ufseherzelle" sei. Ich hatte ihm gegentiber namlich
schon liber das schlechte Licht geklagt und nahm mir vor, den
Inspektor um die Zelle 48 zu bitten. Es gebe dort auch einen Stuhl
mit Ruckenlehne. Auf den Umstand, dass meine Klappbank ohne
Lehne war, ftihrte ich einige Ruckenschmerzen zurlick. Ich be-
schloss, den Versuch, die bessere Zelle zu kriegen, jedenfalls bei der
nachsten Gelegenheit zu unternehmen. An diesem Vormittage kamen
auch zwei schone Decken und ein weiches Kopfkissen an, die mir meine
Geschwister auf Caros Anregung schickten. Es lagen mehrere Aepfel
und Birnen bei, die ich mit Giesmann teilte. Er half mir dafiir,
die Decken auf das Lager zu legen. Von der nachsten Nacht an lag ich
nun in der Tat erheblich weicher, aber besser schlafen kann ich bis
jetzt immer noch nicht. An diesem Tage begab sich nicht viel
Bemerkenswertes. Nur brachte mir Caro, als er mittags kam, gerade
als die Frau mein Essen brachte, das ich nun im Biiro stehend zu
mir nahm, zwei Bucher mit: Paul Scarron „Der Komodiantenrornan",
ilbersetzt und herausgegeben von Franz Blei, und Aage Madelung
„Jagd auf Tiere und Menschen", beide aus dem Besitzstande von
Rudolf Kurtz. Caro berichtete, dass er sich mit Justizrat Bernstein
in Verbindung gesetzt habe, der zur Zeit in Berlin sei und im
Palasthotel wohne. Diesen Bescheid habe er telephonisch aus seiner
— 57 —
Munchener Kanzlei erhalten und nun habe er ihn dort angerufen.
Bernstein habe sich gleich interessiert gezeigt und wolle, sobald
er in Mlinchen sei, meine Angelegenheit dort personlich fordern, sie
inzwischen aber seinem Kollegen dort ubergeben. Im ubrigen werde
Bernstein mich wohl den nachsten Tag im Gefangnis aufsuchen.
Bis jetzt ist er freilich noch nicht gekommen, steht aber nun fur
morgen (Montag) vormittag mit Caro zugleich in Aussicht. — Ich
benutzte die Gelegenheit meiner Anwesenheit im Bilro, vor dem
Inspektor meine Bitte um eine andere Zeile zu unterbreiten. Dabei
sagte ich nichts von meiner Kenntnis ilber die Zelle 48, sondern
iiberliess es ihm, davon anzufangen. Das tat er denn auch, indem
er zuerst meinte, die Zellen seien ja alle gleich, dann aber wohl-
wollend fortfuhr: „Na, ich will mal sehen, ob wir nicht oben die
Erkerzelle kriegen konnen. Da ist sehr schones Licht, und wenn es
geht, bringe ich da immer die besseren Gefangenen unter". So
war ich also von Amts wegen als „besserer Gefangener" anerkannt,
was mir umsomehr Mut gab, noch einmal wegen den Zigarren anzu-
bohren. Der Inspektor wolle nicht gern darauf eingehen, sagte mir
aber schliesslich zu, er wolle mir, statt aus meinem Vorrat Zigarren
herauszugeben, lieber extra welche holen lassen. Ich stimmte dem
mit Vergnugen zu und bat ihn, da ich ja doch hochstens zwei am
Tage rauchen dlirfe, mit meinem Gelde nicht sparsam zu sein, und
recht gute, grosse und schwere Zigarren kaufen zu lassen.
Ich las an diesem Nachmittage den „Komodiantenroman", ein
dickleibiges Buch zur Halfte durch. Ein kostliches Werk aus der Zeit
des ancien regime. Die Erlebnisse einer reisenden Komodiantentruppe,
von einem lebenslustigen, liebenswlirdigen franzosischen Abbe erzahlt,
dessen personliche Randbemerkungen und muntere Milieu- und Per-
sonenschilderung, die glanzende Anordnung der Kapitel und die ein-
gestreuten Novellen das Buch zu einem der graziosesten und
unterhaltsamsten machen, die ich kenne. Der Anfang, wie die sonder-
bare Truppe in Mans einrlickt, erinnerte mich lebhaft an den Beginn
des neuen Romans von Heinrich Mann „Die kleine Stadt", woraus
er Hardekopf und mir in Mlinchen ein Kapitel vorlas, und dessen
Einleitungskapitel er in einer offentlichen Vorlesung im Saal des
Neuen Vereins mitteilte. Es ware sehr mein Wunsch, dies Buch, das
dieser Tage erscheinen soil, in meine Zelle zu bekommen. —
Gegen Abend kam der Inspektor zu mir herein und reichte mir eine
Tlite mit funf prachtigen, grossen, dicken, mit pomphafter Leibbinde
gezierten Zwanzigpfennig-Zigarren. Er gab sie mir mit einer gewissen
zurilckhaltenden Vorsicht, indem er mich ermahnte, sie moglichst nicht
vor andern sehen zu lassen. Er .... stehe in unerhorter Weise
unter Aufsicht seiner eigenen Unterbeamten, die ihm sehr gern am
Zeuge flickten. Jedenfalls dtirfe ich immer erst abends rauchen,
— 58 —
wenn schon Licht gemacht ist. Wenn der Aufseher mal dazu kame,
soil ich ihm ruhig sagen, er, der Inspektor, habe mir die Zigarre
gegeben. Denn Durchstecherei sei das nicht, und er stehe
dafiir ein, mochte sich aber unnotige Scherereien vom Leibe halten.
— Ich konnte die Zeit kaum erwarten, dass man mir die Lampe
anzlindete. Dann rauchte ich eines der neuen Kleinode mit unermess-
lichem Behagen, — aber nur eins, und ich muss mich rlihmen, dass
ich seit diesem Tage jeden Abend nur eine einzige Zigarre geraucht
habe, deren Stummel ich dann auf das Brett des Leibstuhls lege,
wo Giesmann ihn fortnimmt, um sich Zigaretten davon zu machen.
Am folgenden Morgen klingelte mich die Hausglocke zu einem
sehr regnerischen Tage wach. Vielleicht werden mir sparer, wenn
ich diese Aufzeichnungen unter normalen Verhaltnissen wieder durch-
lese, die Ereignisse an diesem Mittwoch garnicht besonders be-
deutungsvoll vorkommen. Aber die Relativitat aller Dimensionen
und Werte stellt auch die Sonderung des Wichtigen vom Irrelevanten
unter die Entscheidung der variablen psychischen Impressionen.
(Fortsetzung folgt.)
Bemerkungen.
Kritinismus. In meinen Theaterberichten im „Kain" war ich
schon verschiedene Male genotigt, die Mlinchener Theaterkritiker
eines bedauerlichen Mangels an Uebersicht und Urteil in ihrem
Spezialfach zu zeihen. Mancher konnte meinen, dass die Herren (sowie
die Dame) in ihrer Tatigkeit wenig Gelegenheit finden mochten, posi-
tiven Schaden anzurichten. Leider finden sie Gelegenheit. Das Fach
der jugendlichen Charakterspielerin im Hoftheater, in dem uns
Frl. Terwin freundlich verwohnt hatte, ist seitdem nicht so vorteilhaft
besetzt, wie es im Interesse hoheren Kunststrebens zu wlinschen
ware. Die Intendanz scheint das eingesehen zu haben, denn sie lud
verschiedene Male Gaste vor das Publikum, deren Wert zur Kritik
gestellt wurde. Zuletzt spielte im Residenztheater Frl. Helene Ritscher
die beiden starksten Rollen der Terwin, Hilde Wangel und Cleopatra.
Helene Ritscher ist, wie sich manniglich hatte orientieren konnen,
keine unbekannte Debtitantin mehr. Wusste man schon nicht, dass
sie in Wien und Berlin schon seit Jahren als starke Hoffnung gait, so
hatte man sich wenigstens daran erinnern diirfen, dass sie vor zwei
Jahren im Mlinchener Klinstlertheater in Hebbels „Judith" die Mirza
spielte und diese undankbarste Aufgabe, die einer Schauspielerin
gestellt werden kann, zu einer kunsterischen Leistung von seltenem
Range erhob. War aber das Gedachtnis der Kritiker schon nicht
fest genug, um in liebenswlirdiger Voreingenommenheit im voraus
die dauernde Bindung der Dame am Hoftheater wlinschen zu lassen,
— 59 —
so ware denn doch vielleicht einige Gerechtigkeit bei der Beurteilung
des Gastspiels selbst am Platze gewesen. Wer von solcher Intensitat,
Warme, Kraft und Ergriffenheit, wie sie die Ritscher zeigte, nichts
empfangt als achselzuckendes Bedenken gegen einige technische Un-
gleichheiten, dem soil man die kritische Feder aus der Hand reissen.
In der „Munchener Post" wurde das lebendigste Temperament, das
je auf der Residenzbilhne stand, geschildert, als ob ein Hund an
einer Bretterplanke das Hinterbein aufgehoben hatte. Dem V, das die
Mlinchener Sozialdemokraten ttber Bilhnenereignisse informiert, muss
bedeutet werden, dass Strlimpfestricken eine weitaus forderliche Be-
schaftigung ist, als ohne Ahnung vom Wesen der Schauspielerei
wertvolle Klinstler herunterzureissen. Hoffentlich hat die Hoftheater-
Intendanz Ruckgrat genug, die Schauspielerin auch gegen die Meinung
der Presse hierher zu verpflichten. Sonst konnte sie eines Tages
einen Schilttelreim auch auf sich beziehen, den ich vor Jahren schon
der Berliner Btihne widmete, die liber das Talent Helene Ritschers
verfiigte, ohne ihm genligende Gelegenheit zur Betatigung zu geben:
Man holt sich alle Kitscher ran,
und sieht nicht, was die Ritscher kann.
Es ware in der Tat hohe Zeit, wenn da, wo die Lossen und die
Terwin gewirkt haben, endlich wieder einmal eine kraftige Personlich-
keit an die Rampe durfte. Sollte die Ritscher das Urteil der
Zeitungskritiker bestatigen, dann will ich ein kritischer Hanswurst
heissen.
Neues von der Theaterzensur. Der folgende Brief wurde mir zur
Veroffentlichung eingesandt:
Budapest, den 30. Juni 1912.
Sehr geehrter Herr Milhsam!
Sie haben gewiss erfahren, dass die Polizei Munchens die Auffuh-
rung der Komodie „Die heilige Sache" verboten hat, als deren;
Autoren Felix Doermann und ich zeichnen. Das Verbot ist aus
Griinden der „Wohlanstandigkeit" erfolgt, wie das so heisst, und die
Polizei nimmt an, es handele sich um ein Schlilsselstiick, in dem
der Familie Wagner und ihren Trabanten und Anhangern und
Gefolgsleuten ohne einen Schein von Recht der Vorwurf gemacht
wird, die Huter des Erbes von Bayreuth (der Ausdruck stammt
von Thode) hatten bei den Festspielen nur geschaftliche Interessen
Die Polizei hat recht — : wir haben, ohne gerade den albernen
und snobistischen Festspielzauber von Bayreuth zu kopieren, beim
Schreiben unserer Komodie an Bayreuth gedacht. Wir haben dieses
Theater und sein Drum und Dran unter die kritische Lupe genom-
men und haben uns nach lebenden Modellen Figuren fur das
— 60 —
Drama ausgedacht, die nur in unserem Stuck ihre Existenz haben.
Ich finde, ein solches Anschliessen an die Wirklichkeit ist das
Recht jeder Satire. Aber es scheint, als ob das Theater von Bay-
reuth und alles, was damit zusammenhangt, nun plotzlich zu
den heiligen Gutern der Nation gehort, an denen Deutschland so
reich ist. Das ist gewiss fur den Revolutionar von 1848 und ftir
Meyerbeers Vollender eine hiibsche Carriere.
Protest gegen das Verbot ist erhoben, wird aber garnichts helfen.
Macht nichts — wenn sich Wagners nur den „Parsifal" fur Bay-
reuth sichern.
Ergebenste Grtisse!
Hanns Fuchs.
Die Arbeit der Herren Felix Dormann und Hanns Fuchs ist mir
unbekannt. Ich bin daher ausserstande, ilber ihren kunsflerischen
Wert eine Meinung zu aussern. Das Verbot scheint erfolgt zu sein,
weil der Zensor in dem Werk eine taktlose Verunglimpfung der
Familie Wagner erblickte. Die Schlusswendung in dem Briefe des
Herrn Fuchs lasst ja in der Tat darauf schliessen, dass Herrn
Siegfried Wagner und seiner Mutter in der Komodie eigenniltzige
Motive bei ihrem Kampfe um das Parsifal-Privileg filr Bayreuth
untergeschoben werden. Hoffen wir, dem sei nicht so. Gesetzt
aber den Fall, so erhebt sich doch die Frage, ob die Polizeizensur
das geeignete Organ ist, mit ihrem Machtspruch die endgiiltige Ent-
scheidung ilber das Schicksal des Stuckes zu fallen.
Ich meine, dass die Auffassung, die der Polizei keinerlei Befug-
nisse in klinstlerischen Dingen einraumen will, auch dann keiner
Revision bedarf, wenn durch das Eingreifen der Zensur einmal die
Auffilhrung eines Werkes verhindert wird, das von der Blihne
aus wirklich berechtigtes Aergernis erregen mtisste. Dem Zensor
fehlt, wie unzahlige Beispiele beweisen und wie es in der Natur
seines Amtes liegt, jede Kompetenz, den Kunstwert und mithin die
Kulturbedeutung eines literarischen Werkes zu beurteilen. Er kann
nicht unterscheiden, ob erkennbare Personen Modell gestanden haben
filr eine kunstlerisch komponierte Arbeit und nun in ihrer privaten
Wesenheit hinter das synthetische Werk zurlicktreten, oder ob die
Schaublihne mit einem komodienhaften Fabrikat zum Angriff gegen
bestimmte Personen missbraucht werden soil. Wie es sich im akuten
Fall verhalt, kann ich, wie gesagt, nicht wissen. Ich nehme rein
akademisch den Tatbestand so an, wie ihn die Polizei auffasst,
unterstelle also, dass die Unterlassung einer Auffilhrung von alien
hoheren Gesichtspunkten aus zu wiinschen ware, so bleibt immer noch
das Bedenken, dass das „Oaha"-Verbot aus genau den gleichen
Grlinden erfolgt ist, die der „heiligen Sache" den Weg zur Buhne
— 61 —
versperren. Der Begriff Kunst existiert fur die Polizei nicht, und
die Gefahr, dass Kunst unterdrilckt wird, besteht solange, wie die
Polizei sich mit ihr zu beschaftigen hat.
Werden nun aber in einem (klinstlerisch minderwertigen) Stticke
wirkliche menschliche Interessen einzelner Personen geschadigt, und
ein Theaterdirektor mutet seinen Schauspielern zu — vielleicht in
der Hoffnung, mit einer Sensation Geschafte zu machen — , dem
Werke lebendige Gestaltung zu geben, so ware es natiirlich zunachst
Sache des Publikums, einem derartigen Machwerk eine gesalzene
Abweisung zu erteilen. Der Schaden wird in solchen Fallen immer den
Autor treffen, schwerlich das benutzte Modell. Schlimmstenfalls aber
sollte der angegriffene Teil lieber von der Moglichkeit Gebrauch
machen, das ihn schadigende Werk einer richterlichen Kommission
zu unterbreiten, als durch Anrufung der Polizei deren Willklir zu
starken. Das Gericht prilft ganz nilchtern alle im einzelnen Falle in
Frage kommenden Faktoren und verfugt, wenn es in der offentlichen
Wiedergabe des Stlickes tatsachliche Gefahrdung des Klagers
erkennt, die Unterlassung der Auffuhrung bei Vermeidung einer
hohen Konventionalstrafe, wahrend die Polizei im blinden Eifer,
ein Unkraut aus einem Beet zu reissen, mit plumpen Wasserstiefeln
die schonsten Kulturen zertritt.
In Preussen steht gegen die Tatigkeit der Zensur wenigstens
der Einspruch beim Oberverwaltungsgericht offen. Bayern kennt
diese Einrichtung nicht. Wer sich hier durch das Walten der Poli-
zei beschwert ftihlt, darf sich beim Ministerium beklagen, bei dem-
selben, das die Polizeibeamten einsetzt und das diese Beamte natiirlich
so auswahlt, wie es seinen Verwaltungswlinschen entspricht. Wer
beim Minister Klage fuhrt, wird auf die Antwort gefasst sein mttssen:
ware ich mit den Massnahmen des Zensors nicht einverstanden,
so wilrde ich einem andern das Amt geben. Das Bestehen eines
Oberverwaltungsgerichts, das neuerdings von liberalen Politikern fiir
Bayern angestrebt wird, ware also gewiss gegen die verantwortungs-
lose Tatigkeit der Polizei ein Fortschritt. Mir scheint aber, dass freiheit-
liche Menschen, vor allem Kunstler und Kunstfreunde, doch lieber
fur eine vollige Beseitigung der Zensur ins Zeug gehen sollten. In
Frankreich, in England und selbst in etlichen deutschen Stadten
gibt es keine Zensoren und man hat bisher nicht erfahren, dass diese
Anarchie schon irgendwo zu einer Verwilderung und Zelrrtittung
der Volkssitten gefiihrt hatte.
Die Polizeiassistentin. Der Fall Schapiro ware ohne erheb-
liche Bedeutsamkeit, wenn die Dame in perverser Llisternheit aus ihrem
Sittlichkeitsamt ein psychisches Lotterbett gemacht hatte, wenn also
— 62 —
ihr Eifer, illegitime Vorgange zu ermitteln, sich einfach mit versetzter
Geilheit erklaren liesse. Man konnte dann sagen: es ist ein Skandal,
dass Madchen, die den berechtigten Wunsch haben, in ihrem privaten
Tun unbehelligt zu bleiben, unter Berufung auf eine Polizeilegitimation
gezwungen werden konnen, gegen ihren Willen den iiberreizten
Sexualnerven einer Fremden den verlangten Kitzel zu verschaffen.
Zur allgemeinen Charakteristik der polizeilichen Sittlichkeitsbestre-
bungen ware abeT die Angelegenheit nicht zu gebrauchen. Es ware
ein Einzelfall.
Die Sache erhalt ihre unheimliche Bedeutung gerade dadurch,
dass Frau Schapiro zweifellos ganz und garnicht krankhafter Natur ist.
Die Frau ist in ihrer Art Idealistin. Sie glaubte, mit ihrem
Wirken einer heiligen Sache zu dienen. Sie wollte denen, die sich
in ihren Amtsbezirk verirrten, aus ehrlichem Herzen helfen, und
der einzige Vorwurf, der ihr personlich zu machen ware, konnte der
sein, dass sie in iibertriebener Hilfsbereitschaft Netze auswarf, um
moglichst viele nach ihrer Auffassung entgleiste Madchen in ihren
Amtsbezirk hineinzuziehen. Man sollte Frau Schapiro dankbar sein,
dass dieser Vorwurf erhoben werden konnte. Sonst hatten wir
wahrscheinlich noch sehr lange nicht erfahren, iiber welche haarstrau-
benden Befugnisse die Polizei verfugt, um das personliche Treiben
der Menschen zu beaufsichtigen und unter ihre Vormundschaft zu
bringen.
Ein Madchen, das kein „festes Verhaltnis", wohl aber genilgend
gesunde Sinnlichkeit hat, um an den Jugendfreuden des Lebens in
ausgiebigem Masse teilzunehmen, ist eo ipso der „gewerbsmassigen
Unzucht" verdachtig, und das heisst: eine polizeiliche Amtsperson
erhalt das Recht, die Verdachtige aufzugreifen, ihr Vorhaltungen
zu machen und sogar Zwangsmassregeln zu ergreifen, um sie in die
Bahnen der burgerlichen Wohlanstandigkeit zu lenken. Der den
Deutschen von Kindesbeinen anerzogene Respekt vor der Polizeimacht
geht so weit, dass keines der belastigten Madchen es wagt, sich die
Moralpredigten der Assistentin energisch zu verbitten. Freilich ist
dieser Respekt wohl auch haufig identisch mit der Angst vor
Zwangserziehung, korperlicher Untersuchung und andern Widerlich-
keiten, die als Drohung ja auch oft genug hinter den Moralpredigten
auftauchen. Regulare Razzien werden veranstaltet, um Gelegenheits-
parchen in flagranti zu erwischen, und der Schutzmann, der heute von
den Reizen eines anmutigen Frauleins ausseramtlichen Gebrauch
macht, lauft morgen zur Assistentin und liefert den Namen des Frau-
leins als geeignete Adresse fiir polizeiliche Besserungsbemiihungen aus.
Die Folge ist natiirlich, dass die jungen Madchen einer Stadt
(wer kann wissen, ob es nicht anderswo genau so zugeht wie in
Mainz ?) das. was ihre Natur verlangt, in standiger Angst vor der
Faust der Obrigkeit tun. Sie verlieren ihre schone freie Unbefangenheit,
kommen sich in ihren eigenen Handlungen schlecht und „gefallen"
vor. Daraus entsteht dann Hysterie, Fahrigkeit, Verlogenheit, Heim-
lichkeit und Unfreiheit in alien ubrigen Daseinsausserungen und in
den Kindern, die von ihnen geboren werden, ein schwachliches, un-
schones und ungesundes Geschlecht. — Der schneidigen Moral
gegeniiber, fiir die alles, was sich der polizeilichen Zucht zu entziehen
sucht, Unzucht heisst, wollen wir andern, die wir den Knebel nicht
mogen, mit vernehmlicher Stimme die Freiheit der Sinne prokla-
mieren. Die Beziehungen der Geschlechter zueinander haben mit
Moral nicht das geringste zu tun und konnen daher nicht unmoralisch
— 63 —
sein. Unmoralisch aber und jedes feinere Gefilhl tief verletzend ist
die Beschnupperung privater Sexualaffairen durch amtliche Moral-
stlitzen und durch sittliche Amateure.
Zeppelins Pech- Das Lebenswerk des alten Grafen Zeppelin in
alien Ehren. Einer, der an seine Mission glaubte und alien Ver-
hohnungen und Besudelungen derer, die ihm heute demlitig in
jeden erreichbaren Korperteil rutschen, zum Trotz seinen Weg ging.
Einer, der — ilber die siebzig — noch den Plan besinnt, seine
Maschine im wissenschaftlichen Dienst in Polargegenden zu steuern.
Dem darf keiner den Respekt versagen, der steht ilber der Kritik
seiner eigenen Leistung.
Der Kritik nicht entriickt ist hingegen das Produkt des Zeppe-
linschen Lebenswerkes und noch weniger das Fanfarengejohl der
— ehedem so boshaft-skeptischen — Zeppelin-Enthusiasten. Ich
mochte mir beileibe kein Urteil ilber Zweckmassigkeit oder Un-
zweckmassigkeit des starren Systems anmassen. Ich habe keine
Ahnung, ob ein lenkbarer Luftballon mit Aluminium oder mit Kaut-
schuk umkleidet zu sein hat; von mir aus soil man ihn in Papier-
mache hlillen. Soviel aber hat mein ahnungsloses Laiengemlit doch
schon gemerkt, dass sich Zeppelins Apparat besonders bewahrt, um die
weise Lehre des alten Th. Vischer von der Tucke des Objekts zu be-
kraftigen.
Alle Jahre, wenn der Sommer in die Lande zieht, steigt Z I, II,
V, VIII oder Y zu feierlicher Paradefahrt in die Lttfte, sieghaft
begleitet von Wolfs Telegraphenbiiro. Das deutsche Herz klopft
im Sechsachteltakt zum neuesten Propellerrekord, und in jeder be-
geisterten Mannerbrusttasche steckt das Extrablatt, das die glilck-
liche Landung am Fahrtziel bestatigt. Bei der Rilckreise aber schweigen
die Gesange. Irgendwo reckt ein Bergwald seine Wipfel in Zeppelins
Ankertau, ein Sturm erhebt sich zur unrechten Zeit, der Motor
streikt — kurzum: Jahr fur Jahr platzt Deutschlands Stolz und
Hoffnung und hinterlasst dem betrilbten Blick ein verbogenes Alu-
miniumgerust. Dieses Mai rechneten uns die leider hinterbliebenen,
Zeitungen vor, dass bis jetzt acht Zeppelin-Luftschiffe in die Binsen
gegangen sind. Man muss an sich halten, um nicht auszurufen:
Vivat sequens!
Man mag mich einen Rohling nennen: flir den allgemeinen
Jammer um die prachtigen Luftfahrzeuge habe ich kein Organ.
Der gilt ja garnicht dem zerstorten Gasfuhrwerk. Der gilt der Er-
wagung, dass fur den nachsten Krieg auf die schone neue (Waffe
nun doch kein rechter Verlass sein dttrfte. Solange die grossen
technischen Erfindungen nicht nach ihrem Nutzen fur den Verkehr
der Menschen untereinander bewertet werden, sondern nach dem
Dienst, den sie bei der Ermordung feindlicher Soldaten leisten
konnen, so lange braucht ihrem Fiasko keine Trane nachzufliessen. Es
gibt (zwar nicht raumlich, aber geistig) hohere Dinge als Aeroplane und
Zeppelinschiffe. Wenn einmal unter den Volkern Friede sein wird
und die technische Zivilisation einer geistigen Kultur zugute kommt,
dann wird auch der, der dem politischen Komodienspiel abseits und
feindselig zusieht, bei den Statistiken liber die alljahrlichen Zeppelin-
schen Pechfalle von anderen Gefilhlen bewegt werden als von ironi-
scher Erheiterung.
— 64 —
Saccharin. Es ist wohl mein Verhangnis, dass ich stets da
Anklager bin, wo sonst niemand etwas zu tadein findet, und Verteidiger,
wo der schleimige Entrlistungsfladen aller Wohlgesinnten ilber
individuelle Handlungen trieft. Seit langerer Zeit werden die deut-
schen Zeitungsleser immer wieder durch Nachrichten entsetzt, die
abenteuerliche Schmugglerunternehmungen an den schweizerischen und
osterreichischen Grenzen schildern. Man erfahrt, wie ungeheure Men-
gen von Saccharin aus der Schweiz, wo der Sussstoff sehr billig ist,
iiber die deutsche Grenze befordert werden: in vornehmen Automobilen,
in kunstvoll fllr den Zweck praparierten Westen, in hundert arglisti-
gen Umhullungen und Verkleidungen. Da der freie Handel mit
Saccharin in Deutschland verboten ist und infolgedessen hier und
in Oesterreich kolossale Preise fur das Praparat gezahlt werden,
machen die Kontrebandisten und die Zwischenhandler gelanzende Ge-
schafte. Der Burger aber wendet sich voll Abscheu von solchen
Untaten ab.
Weiss der Burger, warum der Sacchartnhandel in Deutschland
verboten ist ? Es sei ihm mitgeteilt: Die Zuckeragrarier fuhlten sich
durch den kiinstlichen Sussstoff geschadigt. Das Volk sollte gezwun-
gen werden, die Versussung der Speisen so teuer zu bezahlen,
dass die Magnaten, die die Elite der Nation darstellen, ihren aus-
giebigen Nutzen davon hatten. Einen wichtigen landwirtschaftlichen
Konsumartikel durch ein billiges Surrogat ersetzen, heisst in
Deutschland so ungefahr Landesverrat treiben. Daher musste die
Hygiene heran. Es hiess, der Ersatz des Rlibenzuckers durch
Saccharin schadige die Volksgesundheit, da Zucker ein unentbehrliches
Nahrungsmittel sei, wobei nicht gesagt wurde, dass der Zucker, der
als Volksnahrung wirklich in Betracht kommt, im Gemlise, Obst und
in vielen anderen Speisen chemisch gebunden enthalten ist, und dass
die Zuckerstucke, die zur Beeinflussung des Geschmacks in den
Kaffee und in die Mehlspeisen geworfen werden, als Ernahrungs-
substanz kaum in Frage kommen. — Aber die Agrarier bekamen
naturlich das Gesetz, das sie wlinschten.
In Deutschland gibt es nur noch eine einzige Saccharinfabrik.
Die deckt den ganzen Bedarf der Apotheken, die allein noch damit
handeln durfen. Diese Fabrik wiirde von dem Entdecker des Saccha-
rins, Dr. Fahlberg, begrtindet und befindet sich bei Magdeburg. Weiss
der Burger, was mit dem bei den Schmugglern beschlagnahmten
Saccharinvorraten geschieht? Fruher wurden sie vernichtet. Neuer-
dings werden sie filr billiges Geld vom Staate an die Fahlbergsche
Saccharinfabrik verkauft, die auf diese Weise soviel Saccharin ins
Haus bekommt, dass sie ihre Arbeiter entlassen konnte und mit
der geschmuggelten Ware den ganzen deutschen Bedarf deckt.
Der Staat macht also mit dem Verbot des Saccharinverkaufs in
Deutschland ein gutes Geschaft, die deutschen Saccharinarbeiter sind
infolge dieses Verbots brotlos, das deutsche Volk wird ungeheuer-
lich belastet, und der Burger, der sich in Mussestunden der Ent-
rilstung iiber die betrugerischen Manipulationen der Saccharinschmugg-
ler hingibt, tritt zur Vermehrung solcher Mussestunden eine Erholungs-
reise nach Tirol an. Beim Kofferpacken achte er nur gut darauf,
dass die Zigarrenkiste unter den Nachthemden gut versteckt bleibt.
Es ware doch peinlich, wenn man sie in Kufstein erwischte !
Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Munchen, Akademiestrasse 9,
Druck von Max Steinebach, Munchen, Baaderstr. lu la. Geschaftsstelle: Munchen. Baaderstr. la. Tel. 2355
KAIN, Heft 2. Inhalt: Politisches Vari6te\ — Tagebuch
aus dem Gefangnis. — Der riihrige Zensor. — „Titanic." —
Die Jesuiten. — Vom Geistesmarkt. — Aus dem ,.Krater".
KAIN, Heft 3. Inhalt: Strindberg- Tagebuch aus dem
Gefangnis. - Miinchner Theater — Bemerkungen. — Bonnot
Gamier und Co. — Der Kampf mit dem Drachen. — Die ent-
sprechende Siihne — Geburtstagsgriisse. Maria im Rosenhag.
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erscheint am 5. und 20. jeden Monats im Format von 24X32 mit ein
bis zwei Handzeichnungen zum Preise von 25 Pf., jahrlich Mk. 5.50.
INHALT
des ersten Heftes: MATISSE: Akt / CLAUDEL
Rezitation aus der Einsetzung des Ruhetages / PASCOLI
Der Taumel / DAUBLER : Der Nachtwandler / PHILIPPE
Briefe I LEHMBRUCK: Akt /
des zweiten Heftes: GENGWA HIROMI: Chinesi-
scher Holzschnitt / CLAUDEL: Magnificat / CLAUDEL:
Aufbau der Kirche / CLAUDEL: Ausschau vom Meer
auf das Land / CLAUDEL: Besuch / CLAUDEL: Der
Schauende ,' CLAUDEL: Beschluss /
des dritten Heftes: DERAIN: Holzschnitt / GEIGER:
Ode / GIDE: Mopsus / RAY: Jules Romain
des vierten Heftes: RODIN: Akt / PEGUY: Myste-
rium / GIDE: Anmerkungen / TREUGE: Gedichte /
L'ARBAUD: Barnabas /
Spiitere Nummern bringen Handzeichnungen von
RODIN / MUNCH / PICASSO / BARLACH / RENOIR
Probenummern werden umsonst nicht abgegeben.
Jede gute Buchhandlung wird zum Bezug der NEUEN BLATTER
empfohlen- Wo diese Art des Bezuges auf Schwierigkeiten stosst, erfolgt
der Versand gern durch den Verlag, der das Porto besonders berechnet.
ERICH BARON / VERLAG / BERLIN W. 15/205
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DiC rDUJlC* fleciKDte. 19M.
(Die Huflage in oergrtffen.)
Der Kr&ter* eem(»te. 1909. m. 2.—
Die ftodtjftciplet* luiiftnei. 1906. m.2.-
Zu bezieftcn durtj) tedt Budjjjandlung und den
Kain<Oerlag, muntftcn, Baaderftrafcc la.
Jtn KaliuDcrlag muntDen, BaaderftraBe la
lit erfdjlcncn:
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Ocr Krater"
eeditftte uon eridt) IHUftfam.
Prcis: m. 2.—
Jahrgangll. No. 5. August 1912
KMN
Zeif/chrifffur
rien/ch(ich(\eir
HemuJgeber;
(rich Huh/am
Inhalt: Generalstreik! — Die Rigorosen. — Bemerkungen. —
Ettor und Giovannitti. — Der Veteran Drux. — Die Munchner
Post. — Verworfen.
Kain-Verlag Munchen.
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Itefert im Original uber jedes Gebiet fiir Gelehrte,
Kilnstler, Schriftsleller. Fachzeltschriften, Financiers,
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Aus dem reichhaltigen Inhalt des 128 Seiten umfassen-
den, illustricrten Bandes heben wir hervor :
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Sozialismus. — Pierre Ramus: Aus den Follerkammern des Staates.
Aufruf der Internal Antimilitarlschen Association; An die Rekruten Frank-
reichs ! Fritz Brupbacher: Die Aufgaben des Anarchlemas im demokratischen
Staate. — Otto Karmin: Syivain Marachal und die Verichwbrung der
Gleichen. — Alexander Berkmann ; Der Fehlachlag des Kompromlsses
zwischen Ideal und Wirklichkeil — Andreas Klelnlein: Per Syndlkallimus
in Deutschland. — Domele F. Nieuwenhuis: Aua dim Leban eine» revo-
oo lutionaren Kampfers etc etc. oo
Einzelexemplar (inkl. Porto) Mk. 1 — , bei Bezug von 3 Exenipl. fiir
insges. Mk. 2.25.
Samtliche Geldsendungen richte man an :
Rudolf Grossman n, Klosterneuburg (bel Wien)
Kierlingerstr. 183, Nd.-Oesterreich.
Jahrgang II. Miinchen,
No. 5. August 1912.
KAIN
Zeitschrift fiir Menschlichkeit.
Herausgeber: Erich Miihsam.
Bl : i: ,l i n ll l liyj I kl i . t - l .l.- i .rj-J.i i^-l-J^ l J..i'ilii l li«i.lci..tMi.| l j.i, l |,j l ,i,<..i„i,,i.,i,,i,,i,,i,.i,,i,.iiii:,i,.ii;irnro l i,,)i.|li|l.li l |l
„KAIN" erscheint im Monat einmal. Der Preis betragt
fiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne-
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag",
Miinchen, Baaderstrasse la
Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber.
Mitarbeiter dankend verbeten:
»l«l>iliiii!|,lli.liil.ifiT.'ii,i.i.,ii.i„rii juiii.j.i.ii.i.,ii,iiii^Tr«--rrrT,Tr^..<.iii.ti-jiii..i.iAiiii|Mi..iiii.i.i|i,ii.i,ii.,i.,i,Lii.i l ,t^ri: l i.ii.|i'iiiM;^
Generalstreik!
Wer, ohne Parteiganger zu sein, den Vorgangen des
offentlichen Lebens mit den Augen eines leidenschaft-
lich Beteiligten folgt, wird seine Aufinerksamkeit haufig
bei Dingen gefesselt fiihlen, die dem hastenden Blick
des Zeitunglesers unwesentlich scheinen oder ganz ent-
gehen. Er gewohnt sich daran, die tatsachlichen Er-
eignisse statt nach ihren katastrophischen Aeusserungen
nach ihren symptomatischen Ursachen zu beurteilen. Er re-
gistriert anstelle statistischer Additionen Wertgleichungen
und untersucht den Bodensatz verdampfter Tageserschei-
nungen auf seinen Gehalt an sozialen und kulturellen
Zukunftskeimen.
Selten genug ist die Freude, in seinem Mikroskop
unter alien toten Resten eine Spur lebendigen Samens
zu finden, und man tut das Seine, dies Leben zu erhalten,
indem man es in den aumahmswilligen Geist zukunfts-
froher Mitmenschen verpflanzt. Dort mag er sich aus-
wachsen zu kritischer Einsicht in die Zusammenhange
der gesellschaftlichen Strukturen und zum Willen, forder-
Uche Entwicklungen zur Frucht reifen zu lassen. Das
— 66 —
namlich ist der Sinn alles Werbens und aller Agitation:
in stimmungsverwandten Intelligenzen Gedanken zu wek-
ken, Gefiihle zu Ueberzeugungen zu erweitern und Sehn-
siichte mit dem Drange zur Tat zu erfullen ....
Unter hundert Depeschen, Korrespondenzen, Mittei-
lungen, eine auf den ersten Schein irrelevante: Die Ar-
beiter-Union in Zurich hat einen vierundzwanzigstiindi-
gen Demonstrations-Generalstreik proklamiert. Die Ak-
tion wurde in nie gesehener solidarischer Geschlossen-
heit durchgeflihrt. Die Forderung der Arbeiter, das
Recht zum Streikposten-Ausstellen, wurde ertrotzt. Das
alles scheint an sich nicht sehr bedeutsam. Ein Streik
ist bei der Klassenformation des Staates etwas Selbst-
verstandliches und AUtagliches, und die Ursache zum
allgemeinen Ausstand war zwingend genug. Der Streik-
posten ist ein unersetzbares Mittel zur Ausiibung des
nachgerade in alien westeuropaischen Staaten geltenden
Koalitionsrechts. Die Schweizer Arbeiter durften und
konnten sich dieses Recht nicht schmalern lassen. Selbst
im Deutschen Reich kann die Einrichtung der Streikposten
ohne Verkiindigung eines Ausnahmezustands nicht mehr
geknebelt werden. Der Versuch der Grossindustrie, mit
der beriichtigten Zuchthausvorlage den Arbeitnehmem die
Moglichkeit der Selbsthilfe zu verkiirzen, misslang, und
als vor mehr als zehn Jahren der Senat der Freien und
Hansestadt Liibeck das Streikpostenverbot auf dem Ver-
ordnungswege trotzdem durchsetzen wollte, musste die
Reichsregierung eingreifen und die vierzehn Machthaber
in die Schranken ihrer freistaathchen Souveranitat zuriick-
weisen. (Zurich und Liibeck Es ist sehr charakteristisch,
dass sich die Regierungen sogenannter freier Republiken
am schnellsten dazu entschliessen, reaktionare Uebergriffe
zu wagen. Sie kennen ihre Demokraten und fiihien sich
sicher).
Der eintagige Ziiricher Generalstreik bote also bei
oberflachlicher Betrachtung keinerlei Veranlassung zur
— 67 —
leuchtenden Anerkennung in den Annalen der Arbeiter-
geschichte. Seine Bedeutung erhalt er erst durch seine
sehr eigenartige Vorgeschichte und durch die besondere
politische Komposition des Zuricherischen offentlichen
Verwaltungsapparats.
Die Schweiz zeichnet sich bekanntlich unter alien Lan-
dern durch die konsequenteste Befolgung einer demokrati-
schen Zivilisation aus. Der grosste Teil derpolitischen For-
derungen unserer Liberalen und Sozialdemokraten ist dort
langst verwirklicht, und es kann durchaus nicht geleugnet
werden, dass dadurch manche Harten der kapitalistischen
Staatsorganisation erhebhch gemildert worden sind.
Staat und Kirche sind getrennte Institute; jedem Schwei-
zer wird vom Staate aus freier Schulbesuch, werden freie
Lehrmittel garantiert; die Beamten werden nicht eingesetzt,
sondern gewahlt, und das Volk hat das Recht, anter Umge-
hung der parlamentarischen und exekutiven Ausschiisse
aus eigener Initiative Gesetze zu entwerfen und einzufuh-
ren. Dabei bewirkt das federative Kantonalsystem vermehr-
ten Schutz gegen zentralistische Vergewaltigungen gegen-
strebender Bezirke, wobei es zugleich dem Gesamtgebiet
der Eidgenossenschaft das volkerpsychologisch sehr lehr-
reiche Bild erfreuUcher Mannigfaltigkeit schaffi.
Unter alien Feldern dieses Mosaikgebildes gilt der
Kanton und die Stadt Zurich als Domizil der freiheitlichsten
Errungenschaften. Diesen Ruf dankt Zurich besonders
den zahlreichen Sozialdemokraten, die das Vertrauen des
Volkes dort in die hochsten Verwaltungsamter berufen
hat. Der Zuricher Polizeiprasident ist Sozialdemokrat,
unter den neun Stadtraten der Gemeinde sind vier Rote,
in der gesamten Gerichtsbarkeit und in alien ubrigen
Beamtenschichten ist die Arbeiterpartei iiberwiegend oder
doch sehr gewichtig vertreten. Ware nun die Behauptung
richtig, mit der die Sozialdemokratie uberall zu ihren Fahnen
ruft, dass das Eindringen des proletarischen Willens in
die Verwaltungen der kapitalistischen Staaten und das
— 68 —
Handhaben der staatsexekutorischen Instrumente durch
Mandatare der ausgebeuteten Klasse die Kluft zwischen
Arm und Reich allmahlich verringern und schliesslich
den gesellschaftlichen Ausgleich im Sozialismus herbei-
fuhren miisse, so ergabe sich, dass in der Schweiz allgemein
und in Zurich speziell schon heute ein mindestens er-
tragliches Verhaltnis zwischen Arbeitgebern und Arbeit-
nehmern bemerkbar sein miisste. — Das Gegenteil ist
der Fall.
Nirgends in der Welt wird der Kampf zwischen
Kapital und Arbeit erbitterter und riicksichtsloser ge-
flihrt als in der Schweiz. Nirgends in der Schweiz steht
das Unternehmertum rigoroser und brutaler gegen die
Arbeiterschaft als in Zurich. Nirgends aber stellt sich
die Regierung eines Staates mit so unverhiillter Partei-
nahme und mit so konsequenter Regelmassigkeit unter
Anwendung aller ihrer Machtmittel auf die Seite der
Kapitalisten wie irr jenen freien Demokratieen des Alpen-
landes. Und endlich: Nirgends innerhalb und ausser-
halb Europas werden waffengeiibte Soldaten so haufig
auf ihre werktatigen Landsleute losgelassen wie die
Schweizer Miliz-Bataillone, durch deren Nachahmung in
Deutschland August Bebel und die Seinen ihre antimili-
taristischen Postulate befriedigt sahen.
Seit Beginn dieses Sommers streiken in Zurich
die Schlosser und die Maler. Die Ausstandsbe-
wegung gewann in beiden Lagern das in der
Schweiz iibliche Aussehen: beteiligte Auslander wurden
des Landes verwiesen, Truppen wurden zusammenge-
zogen, Schiisse fielen und der Ziiricher Stadtrat verbot
auf einen Wink der Regierung durch Maueranschlag das
Ausstellen von Streikposten. Da griff die Arbeiter-Union
ein, erklarte sich mit den Malem und den Schlossem soli-
darisch und forderte samtliche Gewerke und Angestellte
mit Ausnahme der im Sanitatsdienst tatigen Arbeiter auf,
am 12. Juli fur die Dauer von vierundzwanzig Stunden
demonstrativ die Hande ruhen zu lassen.
In prachtvoller Solidaritat kamen die Organisationen
der Aufforderung der Union nach. Alle Betriebe feierten,
sogar die in stadtischer Regie gefuhrten Anstalten. Die
Trambahnbeamten, die besonderen Gesetzen unterworfen
sind und sich schwerer Existenzgefahrdung aussetzten,
erklarten, leider ausfahren zu miissen, sofern sie nicht
durch den Massenandrang Streikender auf den Schienen
daran gehindert wiirden. Man verstand den Wink, und
in fruher Morgenstunde standen vor samtlichen Strassen-
bahndepots Ansammlungen von einigen hundert Arbei-
tern auf den Geleisen, die es den Strassenbahnern erleich-
terten, ihre Berufspflicht hinter ihre Kameradschaftspflicht
zuriickzustellen. (Eine neue und sehr interessante Me-
thode der Sabotage durch gegenseitige Hilfe). Nur die
Typographen hatten von ihrem Berner Zentralkomitee
die Weisung erhalten, gemassregelte Kollegen hatten aus
der Streikkasse keine Unterstiitzungen zu erwarten, und
wurden — sie allein — zu Streikbrechern. Diese raudigen
Schafe (noch mehr Schafe als raudig) hatten dann das
Vergniigen, ihre Schande eigenhandig der Druckpresse
zu iibergeben.
Die Arbeiterschaft, die die radikale Aktion eines all-
gemeinen Solidaritatsstreiks unternimmt, beweist damit,
dass sie entschlossen ist, ihre Rechte mit den allerausser-
sten Mitteln zu verteidigen. Derm es kann nicht verkannt
und soil nicht verheimlicht werden, dass eine Massregel,
die die Einwohner einer Stadt durch die Verhinderung
sich Lebensmittel zu besorgen, ziichtigt, die sie jeder Mog-
lichkeit der mechanischen Beforderung beraubt und in
den Abendstunden der Dunkelheit preisgibt, Zustande
heraufbeschwort, die, iiber mehrere Tage ausgedehnt, un-
ertragbar waren. Der eintagige Generalstreik war eine
Drohung. Er bedeutete: Reizt uns nicht, sonst dehnen
wir die Aktion einmal iiber eine Woche aus. Ein vertan-
— 70 —
gerter Generalstreik aber ware das Signal zu ungeheuerer
Erbitterung, die das geschadigte Kapital vielleicht be-
stimmen konnte, die ihr in Treue willfahrigen offent-
lichen Organe zur Anwendung ihrer Gewaltswerkzeuge
zu veranlassen. Dann ware der Biirgerkrieg fertig.
Die hauptsachlich bei Anarchisten verbreitete Meinung,
der Generalstreik sei das revolutionare Kampfmittel
schlechthin, um die neue gerechte Gesellschaft zu schaf-
fen, bediirfe es nur eines gleichzeitig alle Lander um-
spannenden Generalstreiks, ist nicht ernst zu nehmen. Eine
Revolution und mit ihr der Umschwung aller Dinge lasst
sich nicht von heute auf morgen unternehmen, auch nicht,
wenn alle Arbeitergewerkschaften der Welt den Gene-
ralstreik beschlossen und durchfuhrten. Eine Revolution
bricht aus, wenn ihre Zeit gekommen ist, das heisst,
wenn sich das gestaltet hat, was an die Stelle der iiber-
lebten Einrichtungen tritt. Jede Revolution findet ihre
Mittel allein, und dass eines davon die allgemeine Arbeits-
verweigerung ist, diirfte selbstverstandlich sein. Die Ak-
tion eines auf allgemeinen Umsturz abzielenden General-
streiks wird immer nur Putsche bewirken, Putsche aber
haben sich noch meist als unfruchtbare Energie- und
Blutvergeudung erwiesen.
Der Generalstreik ist die starke Waffe der Arbeiter
gegen das Kapital, wenn es fur den Moment auf eine
unzweideutige kraftige Kundgebung ankommt. Das Bei-
spiel, das die Plebejer des altesten Roms mit ihrem Auszug
auf den heiligen Berg gaben, bleibt fur alle Zeit vor-
bildhch. Als radikales Willensmanifest ist auch der Zu-
richer Generalstreik zu bewerten. Er war gut, weil er
zu rechter Zeit kam und stark durchgefiihrt wurde, und
er war wertvoll vor allem; weil er die klare Abkehr des
Proletariats von der Politik bedeutet, die Besinnung der
Masse auf die eigene Kraft in dem Augenblick, wo die von
ihr gewahlten politischen Personen der Staatsraison den
Vorzug vor den Volksrechten gaben.
— 71 —
Der Ziiricher Generalstreik — und hier liegt die Pra-
zedenz und der Symptomwert des 12. Juli — war der Bruch
der Arbeiterschaft mit seinen eignen politischen Ver-
tretern. Es kampften verbiindet sozialdemokratische und
anarchistische Arbeiter gegen die verbiindeten sozialdemo-
kratischen und biirgerlichen Staatskuratoren.
Ob der Stadtratsbeschluss, der die Belagerung ver-
hangte, Militar kommen liess und die Streikposten ver-
bot, um den Unternehmern gefallig zu sein, einstimmig
erfolgte, steht nicht sicher fest, ist auch unwesentlich. We-
sentlich ist, dass von den vier Sozialdemokraten, die im
Stadtrat sitzen, keiner erklart hat: Wir sind von den fiinf
Biirgerlichen iiberstimmt worden. Der Verdacht, dass
die Proletariatsvertreter dem Beschluss zugestimmt haben,
hat sich, da ihn keiner der Herren abwehrte, zur Gewiss-
heit verdichtet. Der Maueranschlag, der von dem Ver-
bot der Streikposten Kenntnis gab, trug die Unterschrift
des sozialdemokratischen Polizeiprasidenten Vogelsanger.
Die ausfuhrenden Organe der Polizei und der iibrigen Be-
horden sind in ihrer grossen Mehrheit Sozialdemokraten.
Das ist wesentlich.
Diese Beamten und Volksvertreter haben ganz sicher
alle nach ihrer besten Ueberzeugung gehandelt. (Die
hassliche Uebung, Leute, die anders als wir denken und
handeln, als Verrater und Spitzel zu bezeichnen, wollen
wir doch den sozialdemokratischen Politikern iiberlassen).
Sie konnten gar nicht anders handeln, als sie taten, da sie
einmal die Verpflichtung iibernommen hatten, hre Krafte
in den Dienst des kapitalistischen Staates zu stellen. Die
Beispiele Millerands und Briands haben schon friiher er-
wiesen, dass es unmoglich ist, gleichzeitig Staatsinteressen
und Volksinteressen wahrzunehmen. Die Schweiz verfiigt
iiber Beispiele solcher Art ubergenug. Jetzt aber ist
plotzlich die Einsicht iiber das Volk gekommen, dass es
zwischen zwei Stiihlen sitzt, und es hat ohne Riicksicht
auf Parteidisziplin getan, was sein Lebenswille verlangte.
— 72 —
Die Aktion vom 12. Juli hat deshalb weit iiber die
Schweizer Grenzen hinaus Anspruch auf aufmerksamste
Beachtung. Waren die deutschen Behorden nicht so ver-
nagelt, den sozialdemokratischen Staatspositivisten den
Eingang zu den Verwaltungsamtern zu versperren, so
hatten sie langst die Erfahrung gemacht, dass sie in ihnen
die pflichttreuesten Hiiter der kapitalistischen Einrich-
tungen besassen. Schon das Wirken der Roten in den
Parlamenten hatte ihnen dariiber Klarheit schaffen miissen.
Dass sie aus weitblickender Klugheit diesen „revolutiona-
ren" Herren die Gelegenheit nehmen, ihre Staatstuchtig-
keit zu bewahren, kann den Ministern der deutschen Vater-
lander schwerlich zugetraut werden. Derm die Erwagung
ware gar nicht dumm, dass die Arbeiter, wenn ihren Fiih-
rern einmal das Odium umsturzlerischer Gesinnung ge-
nommen wiirde, an ihrer Wirksamkeit erkennen konnten,
wie fern von den Wiinschen des Volkes das Walten ein-
flussreicher Genossen lebt, und dass der Moment, wo
das Volk beganne, den politischen Mumpitz seiner Ver-
treter zu durchschauen, revolutionares Leben in die Gei-
ster bringen miisste. In Zurich ist dieser Moment einge-
troffen. Dort hat sich wieder einmal gezeigt, wie recht
die Marxisten haben, wenn sie behaupten, dass sich die
natiirliche Entwicklung der Dinge nicht aufhalten lasse.
Bios lauft die Entwicklung mitunter andereWege, als den
Drathziehem lieb ist.
Die Rigorosen.
Ein Manifest des lyrischen Nachwuchses.
Das also sind „die wertvollsten Verse, die seit Rilke in deut-
scher Sprache geschrieben wurden". Herr Kurt Hiller, der Heraus-
geber des „Kondors",) einer „rigorosen Sammlung radikaler Strophen"
') Der Kondor. Verse von Ernst Blass, Max Brod, Arthur
Drey, S. Friedlaender, Herbert Grossberger, Ferdinand Hardekopf,
Georg Heym, Kurt Hiller, Arthur Kronfeld, Else Lasker-Schliler,
Ludwig Rubiner, Rene Schickele, Tranr Werfel, Paul Zech. Heraus-
gegeben von Kurt Hiller. Heidelberg igi2. Verlag von Richard
Weissbach.
— 73 —
behauptet es. In schoner Bescheidenheit gesteht er (einleitend), dass
er seine eigenen Gedichte, mit deren zehn er das schmucke grime
Buch bereichert, nicht unter diese wertvollsten Verse rechnet. Er
tut recht daran, denn seine Lyrik taugt nicht allzuviel. Da er aber
bekennt, dass er sich selbst im Kondor „nur aus Eitelkeit" das
Wort gibt, wohingegen er vorher erklart: „Zum erstenmal sollen
hier lebende Kiinstler der Gedichtschreibung (vor Hiller nannte
man solche Leute klirzer und eindeutiger Dichter), und nur Kiinstler
vereinigt werden. Mit Proben, die ausreichen, ein Bild zu geben:
Kiinstler einer Generation" — da er dies vorher aussert, sei
ihm gesagt, dass die „Strophen" der andern Herren, die er neu in
die Weltliteratur einfiihrt, meistensteils nicht besser sind als seine.
Im Februar dieses Jahres schrieb ich in den „Kain" folgende
Satze: „Seit in Wien das Versemachen zum Sport geworden ist,
seit man dort bewiesen hat, dass mit einem Band Hoffmansthal in der
Hand jeder Gymnasiast gute Gedichte machen kann, gibt es keinen
Nachwuchs mehr. Die Berliner Produktivitat aber hat sich von
der Produktion emanzipiert. Sie begniigt sich mit der Verherrlichung
der Reproduktion. Lasst uns Musik komponieren, Bilder malen,
Lyrik dichten, wie Kerr und Hardekopf Kritiken schreibenl — Mit
diesem Programm griinden die Jiingsten Literaturzirkel". — Der
„Kondor" ist der niederdruckende Beweis meines Urteils. Was
Gutes in dem Buch steht, kommt von Dichtern, die uns von Herrn
Hiller nicht mehr prasentiert zu werden brauchen: von Else Lasker-
Schiiler, von Max Brod (der mit Einschrankungen zu loben ist), von
Rene Schickele. Was diese Autoren, was auch der empfindsame
S. Friedlaender mit dem von Herrn Hiller in der Einleitung zwar
bestrittenen, doch aber klar formalierten Programm zu schaffen haben,
ist unerfindlich. Von den iibrigen interessieren nur Georg Heym und
Franz Werfel, und da Heym ja leider im Stadium der Talentproben
verzichten musste, so kommt als Hoffnung nur noch Werfel in Frage.
Uebrigens hatte aus beider Produktion leicht eine bessere Aus-
wahl getroffen werden konnen. Besonders Franz Werfeis Gedicht-
sammlung 1 ) enthalt Verse von starker, schoner und oft riihrender
Empfindung (so das entzuckende Gedicht „Ich bin ein erwachsener
Mensch" oder die Ode „Junge Bettlerin an der Kriicke"). Statt
dessen enthalt der „Kondor" aus Werfers Repertoire nur Stiicke, die
noch peinlich mit gesuchten Ungewohnlichkeiten kokettieren, und darin
zwar personlicher und ursprtinglicher sind als die gewollten Radikalis-
men vieler seiner Anthologie-Kollegen, aber viel mehr charakteristisch,
fur den Hillerschen Geschmack als fur den Franz Werfel, den wir
aus seinem „Weltfreund" fur spatere Manifeste erhoffen diirfen.
') „Der Weltfreund". Gedichte von Franz Werfel. Axel Juncker,
Verlag, Berlin-Charlottenburg (ohne Jahreszahl).
— 74 —
Ueber Georg Heyms abgeschlossene dichterische Konfession
verlohnt sich ein besonderes Wort. Zwei Gedichtbticher zeigen die
Entwicklung des Toten.') Die kurze Frist zwischen der Ausgabe des
ersten und dem Entstehen des zweiten liess eine sichtbare Steige-
rung im Wert noch nicht zu. Dennoch zeigt sich dem aufmerksamen
Leser im zweiten Band schon ein tieferes Schauen, eine Abklarung
und Vergeistigung, ein Hinausstreben liber den robusten Realismus
hinweg, der den ersten Band noch ganz beherrscht und auch spater
nirgends ganz verschwindet. Aber bei Heym verleugnet sich niemals
eine grosse ernste Ehrlichkeit des Empfindens. Die Umsetzung
seiner Gefuhle ins Symbol bleibt auch da ungezwungen, wo das
Bild garzu prosaisch ist, um im lyrischen Gedicht gelten zu konnen.
Die Form seiner Gedichte wachst organisch aus dem dichtenden An-
trieb hervor. Jung und hoffnungsvoll — mit diesem Urteil kann
man sich iiber jede seiner Schopfungen freuen. Eine Personlichkeit
ohne alien Zweifel. Ihn genialisch zu nennen, mochte ich nach
den unausgereiften Proben nicht wagen (Hiller tut es). Genialisch
ist unter alien Vertretern der „rigorosen" Kondor-Kunst nur Else
Lasker-Schliler, und die brauchte es nicht mehr zu erweisen. Von der
wussten wir es schon vor zehn Jahren, Herr Hiller.
Es bediirfte eines viel weiteren Raumes, als mir hier verfilgbar
ist, um mich mit jedem einzelnen der Kondor-Dichter auseinanderzu-
setzen. Glucklicheirweise machen es mir aber die meisten von ihnen
leicht, sie im Ramsch zu erledigen. Denn es ist bezeichnend fur
diese lyrischen Neutoner, die wir nun also als die Reprasentanten
aller zeitgenossischen Verskunst anerkennen sollen, dass sie in ver-
bliiffendem Masse von einander abhangig, dass sie wechselseitig ihre
eignen Epigonen sind.
Horte ich von Heym immer nur ein paar losgerissene Verse
und sahe die Einheitlichkeit seiner Gedichte nicht, so wlirfe ich ihn
unter die andern und sagte: Jacke wie Hose. Da ich ihn aber kenne
und als eigne Kraft schatze, glaube ich ihn als Anreger herausheben zu
sollen und lasse im ilbrigen die Entscheidung offen, ob die weniger
Selbstandigen von Heym oder von ihresgleichen beeinflusst sind.
Lyrik, scheint mir, ist der personlichste Ausdruck klinstlerischer
Empfindung, die denkbar ist. Ein Dichter, den nicht jeder seiner
Verse unverkennbar verrat, wird sich seiner Kunst schwerlich ruhmen
dilrfen. Nun vergleiche man:
„Aus einem Keller kommt ein Fischgeruch,
wo Bettler starren auf die Graten bose.
') „Der ewige Tag". Zweite Auflage. „Umbra Vitae". Nachge-
lassene Gedichte Beide 1912 bei Ernst Rowohlt Leipzig
— 75 —
Sie futtern einen Blinden mit Gekrose.
Er speit es auf das schwarze Hemdentuch."
(Georg Heim.)
„Die Dirnen zlingeln im geschlossnen Munde,
die Dirnen, die ihn welkend weich umwerben.
Ihn angsten Darmverschlingung, Schmerzen, Sterben,
Zuhaltermesser und die grossen Hunde."
(Ernst Blass.)
„Viel farbengeile Fingerspitzen kosen,
der Japandrucke Pracht mit Dreistigkeit,
den braunen Raum durchrinnen Nebelhosen
von Zigarettenduft und Geistigkeit."
(Kurt Hiller.)
Diese flinfjambige Prosaprotzerei in lyrischen Gedichten liesse
sich noch an vielen Beispielen dartun, ohne dass ein Leser mit an-
nahernder Gewissheit sagen konnte, wer der Verfasser ist. Hochstens
Herrn Hiller erkennt man an seinen schauerlichen Reimen:
„Ein seliger Ekel zeigt mir Ewiges . . .
O schaut aus dem verdreckten Licht der Birnen:
Es wehen Hauche nass von kilhlen Firnen,
am Stahl des Himmels zuckte Mowiges"
Unter den Anregem in diesem Kreise scheint mir neben Georg
Heym Ferdinand Hardekopf der fruchtbarste. Entlehnen die Kondo-
risten von Heym den Naturalismus des Schauens und die Form
der Gestaltung (das von Heym bevorzugte, etwas salopp behandelte
Sonett wird — inklusive der saloppen Behandlung — besonders ge-
schatzf), so liefert Hardekopf die Blumigkeit des Ausdrucks: „In
Bastseide, durchsickert von malvenfarbenen Eisenbahnschienen, rakelte
sich Pierot . . " . „Leider bin ich verdammt, aus diesem schmutzi-
gen Licht Angst zu pulsen, den Schein in Grauen zu transfor-
mieren, in Sentiments, in Elend-Quatsch." —
Hardekopf kommt vom Journalismus her. Er hat als Theater-
und Literaturkritiker feine, scharfe, geschliffene Urteile in eine
stilisierte Sprache zu fangen gesucht und dabei ebenso oft die
Reportage zur Dichtung erhoben, wie er in schopferischen Bestre-
bungen dem ubelsten Snobismus verfallen ist. Aber eine geistige
Potenz ohne alle Frage, ein Journalist von Geschmack und Kultur,
ein Stilist, der aus der Verschmelzung Hardenscher und Kerrscher
Spracheigenheiten sehr personliche Wirkungen zu krystallisieren wusste.
— 76 —
— Was er im „Kondor" und im „Ballhaus" *) ajs Lyrik absondert,
ist durchaus Journalismus, und leider rumeist gepflegter Snobismus,
zumal die drei Kondor-Beitrage. Wie heftig hingegen seine Art auf
die „Rigolrosen" gewirkt hat, dafilr ein paar Beispiele:
„Ein Prunksalon, wie eine Schiffskajiite.
Man sitzt in Club-Fauteuils bei Sekt und drinks.
Die schmalsten Madchen tragen Riesenhiite
und lacheln sanft wie Madchen Maeterlincks.
(Ferdinand Hardefcopf im „Ballhaus".)
„0 komm! O komm, Geliebte! In der Bar
verrat der Mixer den geheimsten Tip.
Und iiberirdisch, himmlisch steht dein Haar
zur Rotlichkeit des Cherry-Brandy-Flip".
(Ernst Blass.)
,, . . . Deine Fliedarweste,
du fahler Maler, kiisst mich sehr; Boheme-Girl,
dein Shaw glanzt ganz zitronen; du, System-Earl,
tragst statt des Schlips zerwalkte Himberreste."
(Kurt Hiller.)
„Gllihgrun lampjongt es in den Baumbestanden
zierratsbehuf und olgemut herum" usw.
(Arthur Kronfeld. )
Hardekopf liebt in seinen Kritiken Adjektivbildungen auf esk,
Natlirlich redet der einleitende Hiller von „padagogesken Assozia-
tionen", und Herr Arthur Kronfeld betitelt ein Sonett in leichen-
schanderischer Anmassung „Liliencronesk".
So sind sie, die Rigorosen. Man bedauert die, die sich in die
Gefilde ihrer „radikalen Strophen" hineinverirrten, so Herrn Paul
Zech, dessen nicht sehr betrachtliche aber sympathische Landschafts-
lyrik wohl mehr durch Cafehausbeziehung als durch seelische Attraktion
in den Kondor geriet.
Sehr komisch ist nun Herr Hiller in seiner (einleitenden)
Polemik. Er erwiirgt namlich mit viel Vokabelschwall die Kunst
Stefan Georges, die nun, ebenso wie die der Nachgebliebenen
der „literarischen Revolution", von den Kondoristen endgiiltig ttber-
4 ) „Ballhaus". Ein lyrisches Flugblatt von: Ernst Blass, Max
Brod, Fritz Max Cahen, Hanns Wilhelm Eppelsheimer, S. Friedlaen-
der, Victor Hadwiger t, Ferdinand Hardekopf, Max Herrmann, Arno
Holz, Else Lasker-Schiiler, Rudolf Leonhard, Rolf Wolfgang Mar-
tens, Alfred Richard Meyer, Anselm Ruest, Rene Schickele, Ernst
Stadler, mit einem Prolog von Rudolf Kurtz und einem Titelblatt
von Walter Roessner, Verlag A. R. Meyer, Berlin-Wilmersdorf.
— 77 —
holt und an die Wand gequetscht ist. Der Aesthetizismus ist tot
und der Naturalismus insgleichen. Herr Hiller merkt nicht, dass das,
womit er die Lucken ausfullen mochte, aus beiden Kategorien das
Peinliche bewahrt hat, und dass seine Anthologie (wenn von den paar
Dichtern, die dort mitfigurieren, abgesehen wird) nichts anderes
darstellt als Blatter fur verschmockte und aesthetisierende, form-
schlechte Prosa-Verskunst. Hiller bestreitet mit Recht, dass die
Anwendung ungewohnlicher Vokabeln „an sich ein Beweis fiir
Tiefe sei". Er- sagt das im Vorwort zu einem Buche, in dem er
Wendungen druckt wie diese: „Der Fluss liegt still wie eine
Zuckerstange, dran Kinder horbar lutschen — " (Arthur Drey). „In
Pfutzen-Augen blinkt, gemassigt-uppig, der Wunsch, reelle Kragen-
hohen aufzufischen." (Ferdinand Hardekopf.) „Die azurnen Kerne
zerrieselten zu Malvenflaum." (Kurt Hiller.) „Huftig, schwank, die
Windgemahnte." (Arthur Kronfeld.) „Und uberall Geruch nach
altem Plilsch und Hurenseife." (Ludwig Rubiner.) Die Worte
„schwirr", „strack" und „stief", die sich in dem Buche finden,
gehoren wohl auch hierher.
„Was alle diese treiben ist nicht Kitsch, sondern immerhin
schlechte Kunst", erklart Kurt Hiller (einleitend) und meint damit
Stefan George, die Naturalisten und die Heimatkunstler. Was die
Kondoristen treiben ist hingegen nicht nur „immerhin schlechte
Kunst", sondern auch Kitsch, weil ihre Augen keine guten Bilder,
sondern schlechte Oeldrucke schauen, und weil sie sich einbilden,
Kunst sei die plumpe, unverarbeitete Beschreibung roher 'Sinnes-
eindrucke mit angehangter Pointe und einem dicken Knalleffekt.
Solche gereimte Prosa, wie sie uns hier als „fortgeschrittene
Lyrik" aufgetischt wird, hat es immer gegeben. Solche Gedichte — und
bessere, weil sie sich nicht mit behabiger Beschreibung begnilgen
— finden sich bei Frank Wedekind, Ludwig Thoma, Erich Miihsam,
Dr. Owlglas massenhaft. Nur ist von denen noch keiner darauf ge-
kommen, die Verse als Lyrik auszugeben. Ich personlich habe die
Gedichte, die zum Teil in die Verwandtschaft der Blass-Hardekopf-
schen Art gehoren, in meinem Gedichtbuch „Der Krater" ausdrilck-
lich von dem ersten rein yrischen Teil getrennt. Die anspruchs-
volle Aufmachung der „Kondors" beweist nichts fiir den Zukunfts-
wert seines Inhalts. Wenn es wahr ware, was Hiller (einleitend)
behauptet, dass im Kondor eine „Dichter-Sezession" sich mani-
festiere, und das soil doch wohl heissen, eine Auswahl der auffind-
bar Besten, dann standen wir dem blanken Bankrott deutscher
Lyrik gegenilber. Wir wollen nicht aufhoren, auf besseren Nachwuchs
zu hoffen, der ohne die Protektion einer westlichen Berliner Cafe-
haus-Clique s einen Weg und seine Hohe findet.
78
Bemerkungen.
Ettor und Giovannitti. Der vornehmlich sozialkritische Charakter
dieser Zeitschrift enthebt mich gewohnlich der Verpflichtung, meinen
Lesern tatsachliche Berichte vorzulegen. Das ist Aufgabe der Tages-
presse. Manchmal aber, wenn die Zeitungen eine wichtige Begeben-
heit merkwurdigerweise nicht erfahren haben, flihlt sich der „Kain"
genotigt, helfend einzugreifen. Folgender Vorfall ist der burgerlichen
und sozialdemokratischen Presse vollig entgangen:
In der nordamerikanischen Stadt Lawrence im Staate Massachutes
gewannen die Textilarbeiter, die dort das Hauptkontingent der Be-
volkerung stellen, einen Streik. Die Besitzer der Webereien haben
infolge dieses Lohnkampfes von jetzt ab insgesamt jahrlich 16 Mil-
lionen Dollar mehr an Lohnen auszuzahlen. — Eine derartige Bewe-
gung geht nie ohne starke agitatorische Anfeuerung vor sich, und
gewaltsame Zusammenstosse zwischen Streikenden und Polizei sind
dabei eine sehr haufige Erscheinung. Zur Belebung des Streikes
waren zwei Propagandisten der revolutionaren Gewerkschaftsbewegung
Nordamerikas nach Lawrence gereist: Joseph Ettor und Arturo Giovan-
nitti. Sie reisten wieder ab, als sie sahen, dass der Streik gilnstig
verlief. Nachdem sie fort waren, wurde in einer Versammlung eine
streikende Arbeiterin erschossen. Versammlungsteilnehmer behaupten,
gesehen zu haben, dass der Morder ein Polizist war. Die Regierung
des Textiltrusts aber liess die Agitatoren Ettor und Giovanniti ver-
haften, die sich bereits tausend Kilometer von Lawrence entfernt,
aufhielten. Es wird ihnen der Prozess gemacht wegen Aufforderung
zum Mord. Die Strafe, die ihnen droht, ist der elektrische Stuhl.
Seit Ende Juni erregt diese Angelegenheit die Gemliter der
internationalen revolutionaren Arbeiterschaft leidenschaftlich. Den Ka-
pitalisten wird vorgeworfen, sie wollen ihre 16 Millionen Dollar an
Ettor und Giovannitti rachen. Man befiirchtet eine Wiederholung
des entsetzlichen Justizmordes in Chicago vom II. November 1887,
wo — in einem ganz ahnlichen Falle — fiinf Revolutionare gehangt
wurden. Im wieder aufgenommenen Verfahren wurde spater ihre
Unschuld erkannt, ihre zu Zuchthaus verurteilten Genossen wurden
freigelassen, die Hingerichteten aber blieben tot. — Fur die Rettung
Ettors und Giovannittis werden seit Wochen in aller Welt Protestver-
sammlungen abgehalten, Resolutionen gefasst und Gelder zu ihrer
Verteidigung gesammelt. Die „Schwedische Jungsozialistische Par-
tei" und die „Zentralorganisation der Schwedischen Arbeiter" haben an
die Arbeiter der ganzen Welt einen Aufruf erlassen, worin sie zum
allgemeinen Boykott amerikanischer Produkte auffordern. Ferner
ermuntern sie die Organisationen der Transportarbeiter, von einem fest-
zusetzenden Tag an die Ausladung der amerikanischen Schiffe zu
verweigern. Der Boykott soil dauern, bis Ettor und Giovannitti
freigelassen sind.
Die burgerlichen Zeitungen Deutschlands, die ihre Kenntnisse tiber
die Arbeiterbewegung wohl grossenteils aus der sozialdemokratischen
Presse beziehen, haben vielleicht wirklich nichts von diesen die revolu-
tionaren Kreise aller Lander bewegenden Vorgangen erfahren. Die
sozialdemokratischen Blatter aber miissen daruber informiert worden
sein. Sie haben hochstens in einem kurzen Telegramm die Nachricht
von der Verhaftung der beiden Revolutionare gebracht, von der leiden-
schaftlichen Beteiligung der revolutionaren interessierten Kreise der
— 79 —
ganzen Welt aber mit keinem Wort Notiz genommen. Ettor und
Giovannitti sind namlich keine Sozialdemokraten, sondern sozialistische
Radikale. Die mogen getrost kalt gemacht werden. Ware die
Lawrencer Polizei-, Justiz-, Kapitals- und Staatstat so amlisant wie
die New-Yorker Spielbanksmorderei des Polizeileutnants Becker, dann
wars was anderes. Wozu aber den deutschen Wahler mit dem
Ernst des Lebens langweilen?
Der Veteran Drux. Wer eine Gesellschaftsordnung, die jahr-
lich hunderte von Menschen, darunter massenhaft Kinder und Greise,
an Hunger und Entkraftung zugrunde gehen lasst, filr wert halt zer-
triimmert zu werden, ist bekanntlich ein ehrloser Verbrecher. Der
Patriot halt solche Gesellschaftsordnung filr so wertvoll, dass er zu
ihrer Verteidigung freudig die Waffe nimmt und seinen Leib kam.
pfend dem inneren und ausseren Feind darbietet. Franz Wilhelm
Drux war ein Patriot. Er hatte 1870 tapfer mitgefochten, trug seine
Ehrenzeichen stolz vor der Brust, schwelgte in seligen Kriegserinne-
rungen, hungerte und darbte und sank, 68 Jahre alt, in einem Hofe
der Dilsseldorferstrasse in Wilmersdorf, durch Hunger und Ent-
behrungen vollig erschopft, tot zusammen. Franz Wilhelm Drux war
ein Patriot. Ein Patriot halt unsere Gesellschaftsordnung filr so wert-
voll, dass er zu ihrer Verteidigung freudig die Waffe nimmt und seinen
Leib kampfend dem inneren und ausseren Feinde darbietet. Wer eine
Gesellschaftsordnung, die jahrlich hunderte von Menschen, darunter
massenhaft Kinder und Greise, an Hunger und Entkraftung zugrunde
gehen lasst, filr wert halt zertrummert zu werden, ist bekanntlich ein
ehrloser Verbrecher.
Die Miinchner Post. Die Herren am Altheimereck brauchen
sich nicht zu angstigen. Sie sind nicht gemeint, sondern die vortreffliche
Anstalt, der die Uebermittlung der Rechnungen, Mahnungen, Liebes-
grlisse und Freundschaftkiindigungen obliegt. Die Miinchner Post
unterscheidet sich von der Zeitung gleichen Namens hauptsachlich
dadurch, da ss ihre Findigkeit nicht nur bei den Bettgeheimnissen
unbequemer Mitmenschen haltmacht, sondern nicht einmal zur Ermitt-
lung der Hausnummer bei sehr bequemen Leuten ausreicht. Ich
erhielt kiirzlich auf dem Umwege fiber mein Stammcafe eine Post-
sendung, der ein Kuvert mit abgestempelter Marke und folgender
Adresse beilag: „Herrn Erich Miihsam, Schriftsteller, hier. Akademie-
strasse." Das Kuvert trug auf der Vorderseite den aufgestempelten
Vermerk „zuriick", auf der Riickseite war handschriftlich zu lesen:
„Adr. Akademiestr. ohne Nummer unbekannt".
Ich konstatiere: Ich wohne im Hause Akademiestrasse 9 seit
einem Jahr und 10 Monaten. Die Akademiestrasse ist nur auf einer
Seite mit bewohnten Hausern bebaut. Die andere Strassenseite
wird vollstandig von der Akademie der bildenden Kiinste in Anspruch
genommen. Die bewohnte Seite zahlt etwa zehn Hauser. Ich bin
in Miinchen der einzige Erich Miihsam und der einzige Schriftsteller
Miihsam. Als ordentlicher Staatsbiirger bin ich pflichtgemass polizei-
lich angemeldet. Der Postbote bringt mir tagtaglich einen ganzen
— 80 —
Stapel Briefe ins Haus, und ausserdem — das bemerke ich nicht aus
Eitelkeit sondern, ohne viel Freude daran zu haben, aus Wahrheits-
liebe — bin ich in Bayerns Hauptstadt bekannt wie eine bunte Kuh.
Als ich in Wilmersdorf wohnte, bekam ich einmal einen Brief
mit der Aufschrift „Herrn Schriftsteller Erich Milhsam, Berlin" richtig
zugestellt. Da stimmte noch nicht einmal die Stadt. Der Munchner
Post aber bin ich „ohne Nummer unbekannt." — Im akuten Fall
handelte es sich um eine in Miinchen aufgegebene Drucksache
(das Kuvert steht der Postdirektion zur Verfugung). Da war das
Malheur nicht gross, zumal sich der Absender zu helfen wusste.
Wenn ich mir aber vorstelle, es konnte einmal in einem eine Tagereise
entfernten Grenzort ein Brief mit schicksalsentscheidenden Nachrich-
ten, auf die ich krampfhaft warte, an mich abgehen, der wegen man-
gelnder Hausnummer-Bezeichnung nicht in meine Hande gelangte,
dann danke ich doch fur das Vergntigen. Dann pfeife ich auf die
bayerischen Reservatrechte mit der eigenen koniglichen Armeen
der Strafbarkeit des Konkubinats und der koniglich bayerischen
Postschlamperei. Sollte es aber einmal passieren, dass mir durch die
postalische Betriebstlichtigkeit ein geschaftlicher Nutzen durch die
Finger geht, dann kann sich die Behorde auf eine Schadenersatzklage!
gefasst machen, die sich gewaschen hat.
Verworfen. Auch bei diesem Stichwort brauchen sich die Herren
am Altheimereck nicht zu angstigen. Nicht sie sind diesmal gemeint,
sondern die Berufung, die ich gegen meine Bestrafung wegen
„Eisenbahnbetriebsordnungsubertretung" eingelegt hatte (vgl. „Kam",
Heft 3.): Das schriftliche Urteil steht noch aus. Damit sollen meine
Leser spater erfreut werden. Inzwischen wird Revision zum Obersten
Landesgericht eingelegt. Wie der selige Michael Kohlhaas fur sein
Recht will ich fur meine nachtliche Schale Schwarz kampfen. Quod
Deus bene vertat !
Das Tagebuch aus dem Gefangnis musste wegen Raummangels
in diesem Heft ausfallen.
Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9.
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Miinchen, Baaderstr. 1 la. Tel. 2355
KAIN, Hett 1. Inhalt: Anarchistisches Bekenntnis. — Munchner
Theater. — Intriguen. — Bemerkungen. — Karl May. — Die
Pleite im Ruhrrevier. — Mottl und die „Miinchener Post". —
Die Tugend hat gesiegt.
KAIN, Heft 2. inhalt: Politisches Variete. — Tagebuch
aus dem Gefangnis. — Der riihrige Zensor. — „Titanic." —
Die Jesuiten. — Vom Geistesmarkt. — Aus dem „Krater".
KAIN, Heft 3. Inhalt: Strindberg. — Tagebuch aus dem
Gefangnis. — Munchner Theater. — Bemerkungen. — Bonnot
Gamier und Co. — Der Kampf mit dem Drachen. — Die ent-
sprechende Siihne. — Geburtstagsgriisse. — Maria im Rosenhag.
KAIN, Heft, 4. Inhalt: Die Presse. — Tagebuch aus dem
Gefangnis. — Bemerkungen. — Kritinismus. — Neues von der
Theaterzensur. — Die Polizeiassistentin. — Zeppelins Pech. —
Saccharin. —
Saturnverlag
Harmann Malstar, H ei del barg .
Seit August 1911 erscheint:
E
Eine Monatsschrift fiir Belletristik, Kritik, Satire, Lyrik und Schwarz-
Weiss-Kunst, herausgegeben von Hermann Meister und Her-
bert Grossberger.
Von den Mitarbeitern seien u. a. genannt:
Oskar Baum, Ernst Blass, Max Dauthendey, Albert Ehrensteinj
Johannes von Guenther, Otto Hinnerk, Rudolf Kurtz, Heinrich
Lautensack, Otto Stoessl, Felix Stossinger, Emile Verhaeren, Paul Zech.
Von Urteilen fiihren wir an:
„Auf die unabhangige Zeitschrift sei mit Nachdruck hinge-
wiesen." Prager Tagblatt.
„Eine Zeitschrift von Individualisten fiir Individualisten".
Der Tagesbote, Briinn.
„Eine Zeitschrift, die in dem Gewimmel der Revuen einen be-
sonderen Platz verdient".
Hildesheimer Allg. Zeitung.
Jedes Heft umfasst ungefahr 2 (Bogen und enthalt 2 B i 1 d b e i -
g a b e n , darunter meistens Or iginale wie Lithographien, Kupfer-
stiche, Schnitte. Der Mindestabonnementspreis (fiir 6 Hefte) betragt
Mk. 3. — , Einzelhefte kosten 60 Pfg. Das Abonnement vermittelt
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Heidelberg, sowie jede gutgefiihrte Buchhandlung.
Gratisprobehefte werden nicht abgegeben, dagegen sind gegen
Einsendung von Mk. 1. — zur Orientierung 3 Hefte nur direkt
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erfd)ieuen folgende Btttfttr.
DlC rDUJlC* eectitbte. J9M.
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DlC ftOd|jft<ipl£t* tuoftneu 1906. m.2.-
Zu bczifl)cn durrt) icilc Budjljandlung unri den
Kain<Oerlag, miindjen, Baaderftiaftc la.
Jm Kaln<Dtrlag muncDen, BaaderpraBe la
lit crftDicnni:
»
Ocr Krater"
eetlicftte uon eridt) muftfam.
Prels: m. 2.—
JahrgangIL No. 6. September 1912
KAlN
Zeit/chriftfur
rien/ch(ich(\eir
HemuJgeber;
(rich Huh/am
Inhalt: Verbrecher und Gesellschaft. — Miinchener Theater,
Speidel. — Tagebuch aus dem Gefangnis. — Bemerkungen. —
Herr Hiller berichtigt. — Parsifal. — Vollmarasmus.
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*4? Jahrbuch der Freien f#*
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Aus dem reichhaltigen Inhalt des 128 Seiten umfassen-
den, illustrierten Bandes heben wir hervor:
Peter Krapotkin: Ueber Leo Tolstoi - Luipi: Die Grundlagen des freien
Sozialismus. — Pierre Ramus: Aus den FoHerkammem des Staates. —
Aufruf der Intemat. Anlimilitarlschen Assoziation: An die Rekruten Frank-
reichs! Fritz Brupbacher: Die Aufgaben des Anarchismus im demokratischen
Staate. — Otto Karmin: Syivain Marechal und die Verse hworung der
Gleichen. — Alexander Berkmann: Der Fehlschlag des Kompromisses
zwischen J deal und Wirklichkeit — Andreas Kleinlein: Der Syndikalismus
in Deutschland. — Domele F. Nieuwenhuis: Aus dem Leben eines revo-
oo lutionaren Kampfers etc. etc. oo
Einzelexemplar (inkl. Porto) Mk. 1 — , bei Bezug von 3 Exempt, fur
insges. Mk. 2.25.
Samtliche Geldsendungen richte man an :
Rudolf Grossmann, Klostemeuburg (bei Wien)
Kierlingerstr. 183, Nd.-Oesterreich.
Jahrgang n. Miinchen,
No. 6. September 1912.
KAIN
Zeitschrift fiir Menschlichkeit.
Herausgeber: Erich Miihsam.
1 I :■■ -rn ri'ir-rTFnrnrmmiifMiiiTPmftiw^iiriiwiilBTiidllimiiiBiiimBiinmgraminmmtCBifatnramnTTTmratniiim
, , K A I N " erscheint im Monat einmal. Der Preis betragt
fiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne-
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag",
Miinchen. Baaderstrasse la.
Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber.
Mitarbeiter dankend verbeten.
l«m4..A..I.H..M„M"4..4.4..M. 4..4. J..t,,t,J.,».i..».i..t..t.. < ul..t„t..i„^.l,.t l ,t..4..I..I.J,^..t.t..4..i..l..t k.M^-A^-^K f^^littf f,
Verbrecher und Gesellschaft.
Die tiefe Verwahrlosung der Kultur unserer Zeit pragt
sich am eindringlichsten in den Mitteln aus, mit denen
die staatliche Gesellschaft ihre Einrichtungen nach innen
und nach aussen schiitzt. Der Staat kennt in der Durch-
fuhrung seiner Absichten keine andere Hilfe als die Gewalt.
Zum Schutze beziehungsweise zur Erweiterung seiner
geographischen Grenzen organisiert er stiindlich schlag-
bereite, mit alien erdenklichen Mordwaffen ausgeriistete
Riesenheere. Diese Heere rekrutieren sich aus Mannern
des Volkes, die gegen ihren eigenen Vorteil mit Gewalt zum
Militardienst gezwungen werden. Heer und Flotte wird
durch gewaltsam eingetriebene Steuem alimentiert, und
Gewalt zwingt die Menschen, sich den Gesetzen des
Staates zu fiigen, die keine andere Bedeutung haben, als
der offentlichen Gewalt das Ansehen ernes geweihten
Rechtsgutes zu geben und sie gegeniiber der privaten Ge-
walt zu privilegieren und zu monopolisieren.
Um die Befolgung der Gesetze zu erzwingen, durch
die die Beziehungen der einzelnen Menschen unter ein-
ander schematisch geregelt werden, reicht alle Gewalt der
— 82 —
Erde natiirlich nicht aus. Ein Verstoss gegen die para-
graphierte Ordnung der Dinge treibt die staatliche Ge-
walt immer erst nachtraglich auf die Beine. Aber sie bleibt
deshalb nicht untatig. Wo sie nicht mehr zwingen oder
verhindern kann, straft sie.
Dariiber, dass die Strafjustiz nicht den mindesten
Schutz gegen unsoziale Handlungen bietet ist sich die
moderne Rechtsgelehrsamkeit vollig einig. Das Prinzip der
Rache der Gesamtheit gegen den Einzelnen wird von
alien Ethikern iibereinstimmend verworfen. Die Bestrafung
sogenannter Verbrecher hat demnach schon lange nur
den Sinn, die Hilflosigkeit des Staates gegen Missach-
tung seiner Gesetze durch die verspatete Demonstrierung
seiner Gewaltmittel zu bemanteln. Dabei ist der Staat so
erpicht darauf, zu strafen, dass ihm fur die Ermittlung
von straffalligen Personen, auch wenn von ihrer Ergrei-
fung niemand mehr Nutzen haben kann, keine Zeit, kei-
ne Kosten und keine Anstrengung zu gross ist.
Eine ganze Wissenschaft beschaftigt sich mit der Auf-
findung unzuverlassiger Zeitgenossen, die gesamte Tech-
nik wird, soweit sie nicht schon fur militarische Zwecke
usurpiert ist, in Polizeidienste gestellt, Hunde werden
auf Menschen gehetzt, und lieber setzt man erst ein Dut-
zend Unbeteiligter ins Untersuchungsgefangnis, als dass
man darauf verzichtete, einen Schuldigen auf Kosten der
Steuerzahler in Staatsgewahrsam zu nehmen.
Leider erweist sich jedoch jede kriminalistische Statistik
als traurige Blamage fur den Prozesseifer der Staatsan-
walte. Die Verbrechen nehmen nicht ab sondern zu, und
da es in diesen Zeitlauften aufs heftigste verpont ist, hinter
den Symptomen einer Erscheinung die Erscheinung selbst
zu suchen, als welche sich eine im Kapitalismus begriin-
dete sinnlose Gesellschaftsgebarung und dadurch ge-
forderte soziale Note und sittliche Lockerungen ergeben
miissten, hecken staatsfromme Burger immer neue und
immer radikalere Mittel aus, mit denen man — nicht den
— 83 —
Verbrechen und ihren Ursachen, sondern den Verbrechern
zu Leibe gehen solle.
Die frankfurter Zeitung" brachte in ihrem ersten
Morgenblatt vom 3. August dieses Jahres (Nr. 213) einen
Artikel von A. J. Storfer (Zurich), der iiberschrieben war:
„Kastration und Sterilisation von krirninellen Geisteskran-
ken in der Schweiz." In dieser Abhandlung wird unver-
bliimt der Vorschlag gemacht und begriindet, man solle
verbrecherisch veranlagte Personen durch Vernichtung
ihrer sexuellen Potenz fur sich und ihre Nachkommen von
den Freuden des irdischen Daseins ausschliessen. Gleichzei-
tig erfahren wir, dass dieses Verfahren in einer ganzen
Reihe von amerikanischen Staaten langst eingefuhrt ist,
und dass man es seit einiger Zeit auch schon in mehreren
Anstalten der Schweiz angewandt hat. Herr Storfer eifert
nun dafur, dass man der Frage auch in Deutschland naher
treten moge und ermuntert besonders die Juristen, dem
Gegenstand, der bisher nur zur Kompetenz der Aerzte
gehorte, erhohte Aufmerksamkeit zuzuwenden. Die Re-
daktion der „Frankfurter Zeitung" schhesst sich in einer
Schlussbemerkung dieser Anregung freundlich an.
Die grauenvolle Tatsache, dass es bereits Lander gibt,
in denen die Gesetzgeber die Scheusslichkeit einer kor-
perlichen Verstiimmelung in die Folterkammer ihrer staat-
lichen Gewaltmittel eingestellt haben, konnte als charak-
teristischer Riickfall unseres Jahrhunderts in die Zeit der
Hexenprozesse hingenommen werden, und die betreffen-
den Staaten konnte man getrost der Verachtung der gan-
zen kultivierten Welt uberlassen, trate uns die Mitteilung
bloss als widerwartiges Kuriosum entgegen. Wir erfah-
ren aber die ekelhafte Infamie in der Form einer Propa-
ganda zur Nacheiferung. Wir erfahren, dass die Domanen
dieser neuen Justizschweinerei demokratische Republiken
sind, die sich auf ihre freiheithche Zivilisation besonders
viel zu gute tun, und wir erleben, dass der erste Posaunen-
stoss fur die Einfuhrung der Entsetzlichkeit bei uns nicht
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von der abgewirtschafteten Kaste feudalistischer Kraftmeier
ausgeht, sondern von einem Blatt, das — manchmal mit
Recht — als das kulturell flihrende unter den Tageszeitun-
gen gut. Es ist deshalb notig, dem verruchten Plan pole-
misch entgegenzutreten, ehe das natiirliche Begreifen
seiner Verruchtheit durch eine liberal-demokratische Sug-
gestion, er sei ein Triumph der Entwicklung, betaubt
wird.
Natiirlich wird die Humanitat auch von den kastrier-
wiitigen Staatsrettern bemiiht. Sie wollen namlich nicht
etwa kastrieren und ihre Delinquenten zu ausserlich kennt-
lichen Eunuchen machen, sondern bloss „sterilisieren",
was als „dauernde Durchtrennung der die Fortpflanzungs-
zellen von den Geschlechtsdriisen nach aussen leitenden
Kanale" definiert wird. Diese Operation, heisst es empfeh-
lend, kann innerhalb drei Minuten ausgefuhrt werden und
„der Operierte kann sofort zu seiner Arbeit zuriickkehren".
Herr Storfer berichtet: „Im Jahre 1907 nahm Indiana, der
Heimatstaat von Dr. Sharp (dem Erfinder der Sterilisa-
tion) ein Gesetz an, demnach jede staatliche Anstalt fur
Verbrecher und Schwachsinnige zwei Chirurgen zugeteilt
bekommt. Wenn nach dem Urteil der kompetenten Or-
gane die Fortpflanzung irgend eines Insassen nicht wiin-
schenswert und eine Besserung seines Zustandes durch-
aus unwahrscheinlich ist, wird die Sterilisation vorge-
nommen." Welchen Eifer die „kompetenten Organe" von
Anfang an entwickelten, ergibt sich aus der in befriedig-
tem Sperrdruck verkiindeten Feststellung, dass in den
ersten vier Jahren nach Annahme des Gesetzes nahezu
900 Manner, hauptsachlich Verbrecher, sterilisiert wurden.
Die grosse Zahl derer, deren Fortpflanzung „nicht
wiinschenswert" erscheint, erklart sich leicht, wenn man
die Aufzahlung der Einzelfalle beachtet, die in unserem
trauten Nachbarlande, der freien Schweiz, praktiziert wur-
den. Ich will von den Kindesmorderinnen absehen, von
denen da die Rede ist. Derm ich gebe den Herren Kastra-
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toren zu, dass eine Frau, die keine Kinder kriegen kann,
ihre Kinder auch nicht morden wird, wenngleich mein
Widerwille gegen den gewaltsamen Eingriff in den Korper
dieser Frauen durch fremde Personen nicht geringer ist
als gegen die Gewalttat, die sich die Mutter selbst zu-
schulden kommen liessen. Ich sehe die beiden Verbre-
chen nur in der Nuance unterschieden. — Da wird aber
auch von der „Kastration eines moralisch defekten Dienst-
madchens", gesprochen, bei der „nicht nur die Fortpflan-
zung verhiitet, sondern auch der sexuelle Faktor, der fur
ihre Lugenhaftigkeit und ihre Diebstahle offenbar mitbe-
stimmend war, bis zu einem gewissen Masse ausgeschaltet
werden" sollte. Erzahlt also ein Madel seiner Dienstherr-
schaft, es miisse seine Tante beerdigen helfen, wahrend
es in Wahrheit zum Schatz will, so kastriert man es. —
Einer geschiedenen Bankbeamtensgattin wurde die „sug-
gestionskraftige Lugenhaftigkeit" wegsterilisiert, und ein
funfzehnjahriges Schulmadchen wurde entweibt, weil es
sich schon seit Jahren sexuell betatigte und dabei der
verfuhrende Teil war. Die Tatsache friiher starker Sinn-
Uchkeit geniigt also diesen Weltverbesserern schon zu
einem Eingriff in die personlichsten Rechte von Menschen
und zur dauernden Unterbindung sinnlicher Regungen.
Ich habe fur das Verfahren kein anderes Wort als:
viehisch!
Als wissenschaftliche Basis, auf der sich die neue
Kriminal-Theorie aufbaut, muss Lombrosos Vererbungs-
lehre herhalten. Die „erschreckende Haufigkeit, mit der
sich Defekte vererben", wird als ein naturgesetzliches
Axiom behandelt und auf solche vage Theorieen stiitzt sich
dann — wie man sieht, mit Erfolg — die Forderung,
die unzahlige Menschen von dem einzig Versohnlichen
ausschliessen will, das das Leben ihnen bieten kann. Es
wird das Beispiel eines amerikanischen Verbrechers ange-
fiihrt, von dem man 1200 Nachkommen in 75 Jahren nach
weisen konnte. Darunter waren 310 Gewohnheitsbettler,
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die zusammen 2300 Jahre in Armenhausern verpflegt wur-
den, 50 Prostituierte, 7 Morder, 60 Gewohnheitsdiebe und
130 andere Verbrecher. „Die Kosten", heisst es weiter,
„die die Nachkommenschaft dieses einen Menschen der
Oeffentlichkeit verursacht hat, belaufen sich auf Millionen".
Aha, die Kosten. Wenn gar kein Argument Ziehen sollte,
der Hinweis auf den Geldbeutel wird gewiss die Einsicht
dafur kraftigen, dass unbequeme Nebenmenschen ver-
schnitten werden miissen.
Nun klingen ja die angefuhrten Zahlen sehr schreck-
hch. Ich mochte jedoch dieselbe Statistik zur Unterlage
folgender Betrachtung machen: Ein Verbrecher, ein Aus-
gestossener also und Gemiedener, wird Stammvater von
1200 Personen binnen 75 Jahren. AUe diese 1200 Men-
schen sind unterernahrt aufgewachsen, sind infolge ihrer
Herkunft sozial degradiert, sind nie erzogen und nie ge-
bildet worden. Dass von diesen von Hause aus zum Hun-
gern Verurteilten 25,8 Prozent betteln, wird niemand iiber-
raschen. Dass von den Frauen (die ich auf 600 anneh-
men will) 10 Prozent durch die Vermietung ihres Leibes
ihren Unterhalt erwerben, scheint mir iiberraschend we-
nig. Wenn unter den Personen, die Eigentum nie beses-
sen haben und die sich zeitlebens wie Hunde behandeln
lassen mussten, denen alles Menschliche im staatlichen
Ordnungsbetriebe gewaltsam aus der Seele gerissen wur-
de, 5 Prozent die Unterscheidung zwischen Mein und Dein
und 0,58 Prozent den Respekt vor dem Leben anderer
Leute eingebiisst haben, so kann ich auch dabei nichts Auf-
regendes finden, als die Tatsache selbst, dass die verfluch-
ten Gesellschaftsverhaltnisse der Gegenwart imstande sind,
unzahlige Menschen im embryonalen und Sauglingszu-
stand schon und dann das ganze Leben hindurch an aller
Entwicklung zu verhindern. Was die 130 „andern Ver-
brecher" fur Spezialscheusaler sind, wird in der Statistik
nicht verraten. Rechnen wir sie zu den ubrigen, so er-
gibt sich, dass von den Nachkommen des Verbrechers mehr
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als die Halfte trotz der ungiinstigsten Bedingungen ihrer
Existenz einen Wandel fuhrten, an dem nicht einmal die
statistischen Schnuffler, die sich mit dieser Familie ausgie-
big beschaftigten, etwas fur ihr kriminalistisches Material
Verwendbares zu finden wussten. Das Beispiel ist also
zur Begriindung der Kastration als sozialhygienisches Pro-
hibitivmittel unbrauchbar und liefert nur Material fur die
ungeheuerlichen Zustande des kapitalistischen Gesell-
schaftsgefiiges.
Man hat schon aus den angefiihrten-Beispielen ge-
sehen, wie weit der Begriff „Verbrechen" gedehnt werden
kann und wie schon die arztlichen Vorkampfer der Idee
Prostitution, hervorragende Sinnlichkeit, Liigenhaftigkeit
und ahnliche Dinge als Eigenschaften beanspruchen, die
die Verstiimmelung der betreffenden Personen rechtfer-
tigen. Wohin es fiihren wird, wenn die erstrebte „gesetz-
Uche Grundlage" fur die Verschneidung Tatsache wird, ist
unberechenbar. Zweifelt irgend ein Mensch, dass man
sehr bald dahin gelangen wird, unbequeme Ansichten als
vererbbare Eigenschaften imbeziller Naturen zu betrach-
ten und zu behandeln? Sozialisten, Anarchisten, Athe-
isten, erotische Schriftsteller und Maler, Ehebrecherinnen
und Kurtisanen, Majestatsbeleidiger, Trinker und Spie-
ler sind bedroht, ohne Riicksicht darauf, ob sie fur die
Kultur der Menschheit dauernde Werte schaffen oder
nicht. Von Homosexuellen gar nicht zu reden. Kennt
doch schon der Bericht iiber die in der Schweiz bereits aus-
gefuhrten Operationen „die Kastration zweier Manner,
deren Leben von einem pathologisch ubermachtigen Se-
xualtrieb in einer sowohl fur die Gesellschaft als fur sie
selbst ausserst ungiinstigen Weise beherrscht war."
Heutzutage wird man fur Zeit eingesperrt, spaterhin
wird man fur die Dauer des Lebens ungliicklich gemacht
werden. Wir, die wir das eine wie das andere als men-
schenunwiirdig und dumm obendrein ablehnen, werden
fortwahrend gefragt: wie soil sich denn nun die Gesell-
schaft gegen unsoziale Elemente schiitzen? Die Antwort
ist seht einfach: indem sie menschliche soziale Einrich-
tungen schafft. Dass es ungeheures Elend gibt, und dass
solches Elend ewig Verbrechen zeugt, sieht jeder, der
Augen hat. Deshalb ist die Propaganda fur den Sozia-
lismus auch etwas sehr andres, als der erkliigelte Sport
weltfremder Schiwarmer. Aufklarung ist notig iiber die
Ursachen der sozialen Verrottung. Fast samtliche Ver-
brechen, die begangen wurden, geschehen aus dem An-
triebe der Not. Die Strafgesetze, nach denen wir uns
richten miissen, schiitzen zum iiberwiegenden Teil den
Besitzenden gegen die Geliiste des Armen. FreiUch gibt
es auch Vergehen gegen die Rechte des Nebenmenschen,
die von andern Trieben als denen der Selbsterhaltung
bestimmt werden. Ich glaube aber, dass in solchen Fal-
len eine Luft- oder Diat-Veranderung allemal mehr Nutzen
stiften wird als eine verbitternde Internierung hinter ver-
gitterten Fenstern. Vor allem sollten sich die Massnah-
men, die die Gesellschaft zu ihrem Schutze ergreift, nie-
mals entfernen von den Eingebungen der Menschlich-
keit. Verstandigung fiihrt weiter als Gewalt. Als ich
es seinerzeit unternommen hatte, die sogenannten Ver-
brecher, den „Auswurf" und die „Hefe", die Lumpen
und Vagabunden in ihren Kaschemmen aufzusuchen und
von Mensch zu Mensch mit ihnen iiber ihre Not und deren
Ursachen zu sprechen, da fiel alles hohnend und schim-
pfend iiber mich und meine Kameraden her. Ich glaube
aber immer noch, dass unser Verfahren zu besserem Ziele
fiihren muss als Zuchthaus, Arbeitshaus und Gefangnis,
zu besserem Ziele auch als „die dauernde Durchtrennung
der die Fortpflanzungszellen von den Geschlechtsdriisen
nach aussen leitenden Kanale".
Munchener Theater.
Speidel.
Der Tod des Generalintendanten Freiherrn v. Speidel ist die
schlimmste Katastrophe, die das Munchener Theater in diesem Augen-
blick treffen konnte. Einen ehrenvolleren Nekrolog weiss ich dem
Verstorbenen nicht zu widmen, als die Feststellung, dass grosser
noch als die Trauer um den liebenswlirdigen feinen Mann und
lauteren Charakter die Sorge ist um die Erhaltung seines Werks.
In der Nachricht, die am I. September einer dem andern weitergab:
Speidel ist tot — lag die bange Frage: Was wird aus dem Hof-
theater ? und damit die Gewissheit: ware Speidel am Laben ge-
blieben, dann hatten wir auf eine weitere Entwicklung der Blihnen
zu wertvollen Kunstinstituten sicher hoffen dilrfen.
Ueber die Dienste, die Albert v. Speidel den Opernhausern
geleistet hat, steht mir kein Urteil zu. Mir fehlt dazu die musika-
lische Bildung und Vergleichsmoglichkeit. Aber ich weiss, dass
Speidel seinerzeit Mottl zum Direktor der Hofoper machte, und in
dieser Handlung liegt schon das Zeugnis, dass ihm auch im grossen
Hause und im Prinzregententheater jedes autoritare Streben fernlag,
und dass ein reiner anstandiger kunstlerischer Wille sein Wirken
bestimmte.
Dem Schauspiel des Hoftheaters hat Speidel unschatzbaren Nutzen
gestiftet. Er hat — als unmittelbarer Nachfolger Ernst v. Possarts
— seiner Anstalt modern gebildete Klinstler zugefuhrt und hat ihnen,
was ihm, dem hofisch erzogenen Offizier, besonders hoch angerechnet
werden muss, moderne klinstlerische Aufgaben gestellt. Er hat
die traditionelle Hoftheaterei, die er vorfand, durch eine zeitgemasse
Regie zu reformieren getrachtet und dazu erst Albert Heine, dann
Albert Steinriick nach Milnchen gezogen. Seine Absicht, Hermann
Bahr die Leitung des Schauspiels zu ilbertragen, scheiterte an dem
Geschrei der Moralhiiter, die ihr Spiel dadurch gewannen, dass
Bahr die Selbstverstandlichkeit, das er als freier Mensch Anarchist ist,
einmal ausgesprochen haben soil. Freiherr v. Speidel wusste, in
welcher Zeit er lebt und fiihrte daher zum Entsetzen gewisser
Frommlinge zeitgenossische Autoren auf: Bahr, Schnitzler, Halbe,
Ruederer, Wedekind, Thoma.
Gewiss ist das Hoftheater heute noch keine zweifelfreie Muster-
anstalt. Zumal bei den Auffilhrungen klassischer Stucke mochte
man angesichts der konservativeren Darsteller, bei denen die Possar-
tistik immer noch sehr im Schwunge ist, oft stohnend davonlaufen.
Es ist aber zu beriicksichtigen, dass Speidel mitten in der besten
Arbeit abtreten musste. Die Tendenz seiner Tatigkeit arbeitete
unzweideutig auf die Modernisierung des Theaters hin. Allmahlich
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nur und langsam konnte er die uberlebten Krafte durch neuen und
lebendigen Ersatz zurlickdrangen, und da hat er in den sieben
Jahren seiner Wirksamkeit Eminentes geleistet.
Den ruckwarts strebenden Geistern im Lande war Speidel natur-
lich ein Stein des Anstosses, und wie gern man den 'Stein (aus dem
Wege geraumt hatte, das zeigte vor einem halben Jahre die wider-
wartige, feige und gemeine Hetze, die pfaffenhorige Banausen ge-
gen ihn inszenierten. Nun ist diesem Gelichter der Tod zu Hilfe ge-
kommen. Nun heisst es acht geben, dass der Kunst kein Schaden
geschehe.
Die kulturellen Kreise Milnchens wollen, dass im Sinne Speidels
weiter gewirkt werde, und dass ein Mann an seine Stelle trete,
der sich von keinen politischen, sondern ausschliesslich von kilnst-
lerischen Intentionen leiten lasst. — Wir wollen keine Wiederholung
der Possartschen Zeit. Wir wollen auf der Blihne Stlicke sehen, die
Zusammenhang mit dem Leben haben, und wir wollen auf der Biihne
Schauspieler sehen, die Menschen sind. Wir haben die Polterer
Bart, die im Theater Possarts System mullern und possartikulierte
Laute von sich geben Uns geliistet es nach Kunst.
Was alle ubrigen Mlinchener Buhnen treiben, ist trostlos. Dem
Schauspielhause mangelts an Regie, dem Lustspielhause an Reper-
toire (denn es ist alle Versprechen schuldig geblieben und spielt in
endlosen Serien minderwertige Reissex). Was das Kunstlertheater
mit eherner Standhaftigkeit immer noch seinen anspruchvollen Namen
zu filhren den Mut gibt, ist schon lange unerfindlich. Aller Trost
und alle Hoffnung kam bisher vom Hoftheater. Der Mann, dem
wir Trost und Hoffnung dankten, ist tot. Videant consules.. . ')
Tagebuch aus dem Gefangnis.
(Fortsetzung.)
Schon mit dem Friihkaffee wurde mir ein eroffnetes Telegramm
gebracht, die erste Teilnahmsausserung, die — abgesehen von den
durch Caros Besuche ubermittelten — zu mir drang. Es war am
I. November in Aeschispiez aufgegeben (jetzt war schon der dritte)
und lautete: „Sei ruhig, lieber Freund, ich schreibe noch heute.
Johannes." Ich hatte gleich nach meiner Einlieferung hier Ian
') Zu spat, um hier noch eine ausfiihrliche Betrachtung zu
gestatten, fand im Hoftheater die erste Festvorstellung des Vereins
„Volksfestspiele" statt. Es gab „Der standhafte Prinz", eine Schan-
dung Calderons durch Georg Fuchs. Ich behalte mir vor, auf die
schleimige Geschmacklosigkeit zuruckzukommen, wenn die frische
Emporung einigermassen verraucht sein wird.
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Johannes Nohl ebenso wie an Henry Telegramme abgehen lassen,
die von meiner Verhaftung Nachricht gaben. Jetzt merke ich, dass
bei aller Ausfiihrlichkeit, mit der ich mich jede Einzelheit zu
registrieren bemilhe, doch noch manches vergessen ist. Das Telegramm,
war also die Antwort auf meines und ich war — ich weiss eigent-
lich garnicht, warum? — so geriihrt iiber die Worte, dass es
mir heiss hinter den Augen aufstieg. Dabei fallt mir auf, dass
mir in der ganzen Zeit, seit ich festgenommen wurde, weder vor
noch nach dem Moment, wo ich das Telegramm las, je ein Drang
zum Weinen gekommen ist, nicht einmal in den langen, schlaflosen
Nachten, in denen ich wahrlich genug von traurigen Vorstellungen
geschlittelt wurde. Und zur rechten Stunde Weinen hat noch jedem
gutgetan.
Den Vormittag brachte ich mit der Lektiire Paul Scarrons hin.
Als ich meine Mittagsmahlzeit bekam, richtete mir der Aufseher einen
Gruss von Caro aus, der nur auf einen Sprung dagewesen war
und gleich weiter musste. Ich war ziemlich betrilbt, ihn an diesem
Tage nicht zu sehen, da er mir bisher taglich als einziger Schimmer
aus dem fernen Cafehause in meine Einsamkeit geschienen hatte.
Ich ass das etwas fett geratene Kotelett, das mir Herr Fahrland
geschickt hatte, etwas missmutig herunter und sog bei Beendigung
des Mahles noch den Rest Bier aus der Flasche, als mir der Auf-
seher mitteilte, dass ich sofort zum Untersuchungsrichter kommen
solle.
Ich lief mit der grossten Geschwindigkeit die Treppen hinunter.
Denn ich dachte mir, das kann nur heissen: Frei! — oder: Nach
Miinchen! — An der untersten Treppe nahm mich der lange Glatz-
kopf in Empfang, der mir schon am Tage meiner Einlieferung so
wenig angenehm begegnet war. „Kommen Sie mal mit!" komman-
dierte er und blieb, wahrend ich durch den Garten zum Gericht
hintibermusste, immer so dicht vor, hinter oder neben mir wie ein
Schlachter, der ein widerwilliges Schwein zu transportieren hat.
„Da rauf!" hies es an einer Treppe, und ich folgte dem Grobian
zu derselben kahlen kleinen Kalkzelle, aus der ich ihm schon ein-
mal hinuntergefolgt war.
Drei Leute in Straflingskitteln waren schon dort, die mich
neugierig musterten. Als ich hinzukam, war die Bude so voll,
dass wir uns an die Wande quetschen mussten, um uns nicht gegen-
seitig zu drucken. Mir zunachst stand ein kleiner untersetzter Kerl
mit dickem, blondem Schnurrbart, borstig hochstehendem Haar und
suffunterlaufenen Augen. Er war der einzig lebhafte von den dreien,
der mir nach wenigen einleitenden Hoflichkeiten mitteilte, dass
er wegen Vagabondage achtzehn Monate abgerissen hatte und jetzt
wegen einer Bettelei seiner Aburteilung harre. — Auf dem einzigen
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Stuhl des Gemaches sass traurig ein schwarzbartiger Mann von
vielleicht 33 Jahren, den vornlibergeneigten Kopf in die Hande gestiitzt.
Auf die Lebhaftigkeit des Kleinen reagierte er nur mit gleich,
gliltigen Zustimmungen. Das Fenster verdeckte vollstandig der Korper
eines riesigen Menschen, der mit dem Riicken zu uns stand. Er
sah in den Garten hinaus und schien sich fur nichts in der Welt
zu interessieren. In seinem Aussehen und seinem Phlegma erin-
nerte er mich stark an den Asconeser Grotto-Wirt. Nach einiger
Zeit wurde der traurige Schwarze hinausgerufen, und statt seiner
trat ein grosser blonder jlingerer Arbeiter ein, der lachend ver-
klindete : „Sechs Wochen mit Ueberweisung." — „Hast du 't anje-
nommen?" — „Die sechs Wochen, ja. Aber die Ueberweisung
nich." — „Mensch, warum nich? In Moabit is' doch besser als
hier." — „Ja, ich wollt' ja och annehmen. Aber ik weess selbst nich.
Er fragt: Nehmen Sie's an ? — Die sechs Wochen, ja, sag ik. Aber
von wejen die Ueberweisung — . Ik wollte ihm man bios fragen, aber
da sagt er schont: Der Beschuldigte nimmt die Strafe an, protestiert
aber jejen die Ueberweisung. Mensch, wenn de mit dem redst, det is
jrade, als wenn de jejen de Wand sprichst. Ik sag zu dem
Mann: Wejen det eenmal betteln, sag ik — nehmen Se doch Riick-
sicht! — Wat? sagt er. Sie sind wejen Diebstahl vorbestraft und
wejen Widerstand, un denn verlangen Se noch Riicksicht? sagt er.
Wat wollen Sie denn machen, wenn Se wieder raus sind? sagt er. —
Denn jeh 'k stehlen, sag ik. Da ha 'k wenigstens wat von, sag ik.
Denn ik war nu schon jiftig. — Weesste, wat det Luder macht?
Er lasst det befiirworten. Er sagt zu dem jungen Mann, der da
sitzen dut: Schreiben Sie det uf, sagt er. Der Anjeschuldigte er-
klart, dat er nach Verbiissung der Strafe stehlen jehen will. Na,
wat sagste nanu? frag ik dir." — Der kleine Blonde kircherte aber
bloss und meinte: „Wat er Justav'n woll ufbrummt?" — Der kam
schon wieder und der Kleine musste selbst hinaus. Jetzt fragte der
Lange: „Na?" — Der Schwarze knurrte, wahrend er sich wieder
auf den Stuhl niederliess: „Sechs Wochen mit Ueberweisung." —
„Haste 't anjenommen?" — „Ja." — „Na ja, helfen du 't ja doch
nich, wenn ma 't nich annimmt." Und dann erzahlt er umstandlich
noch einmal, wie er aus Versehen zu einem Protest gegen die
Ueberweisung gekommen war, wie er gereizt wurde, wie er er-
klarte, er wolle nachher stehlen gehen, und wie der Richter das
„befurworten" liess. „Ne, schloss er, an Charlottenburg will ik
jedenken." — Dann kam auch der Kleine wieder: „Sechs Wochen
mit — I" schrie er schon an der Tur. Der Grosse pellte sich nun auf
Anruf vom Fenster los und verliess das Gemach mit den Worten:
„Denn kann ik mir ja och unjefahr ausrechnen, wat ik krieg."
— „Sechs Wochen mit kriegste", schrie ihm das muntere Mannchen
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nach. „Ik hab 't jleich angenommen", erzahlte er dann. „Aber
ik lass mir nach Prenzlau uberweisen. Mensch, Justav, da musste
mitkommen. Meld dir jleich heite, dat de willst nach Prenzlau."
Der Schwarze rtihrte sich nicht. Der Kleine wurde immer narri-
scher. „H6rste, Justav. Det is det beste, sag ik dir. Komm mit
nach Prenzlau." — „Lass mir doch zufrieden." — „Aber Justav,
sei doch keen Dussel ! In Prenzlau is' am allerscheensten." —
„Ja, for dir, weil de da zustandig bist." — „Macht nischt, Justav,-
ik sag dir, komm och nach Prenzlau." — „Lass ihm doch," fiel
endlich der Lange ein. „Er muss et doch selbst am besten wissen."
(Fortsetzung folgt. )
Bemerkungen.
Herr Hiller berichtigt. In der klugen Erkenntnis, dass nur die strenge
Berufung auf einen Gesetzesparagraphen einen Dialog zwischen aufs
Geistige gerichteten Menschen ermoglicht, sendet mir der Heraus
geber des „Kondors" folgenden Brief:
An den verant wortlichen Redakteur der Zeit-
schrift filr Men schlichkeit „Kain".
Sehr geehrter Herr!
Aufgrund des § 11 des „Gesetzes ilber die Presse" vom
7. Mai 1874 ersuchte ich Sie, in der nachsten Nummer des „Kain"
folgende Berichtigung zu veroffentlichen:
Auf den Seiten 76 — 77 des „Kain" behauptet der Heraus-
geber, innerhalb einer Abhandlung ilber das Gedichtbuch „Der
Kondor": „Herr Hiller. . erwlirgt. . die Kunst. Stefan Georges, die
nun., von den Kondoristen endgultig uberholt und an die Wand
gequetscht i s t „Was alle diese treiben, ist nicht Kitsch,
sondern immerhin schlechte Kunst", erklart Kurt Hiller (einleitend)
und meint damit Stefan George... ". Diese Behauptungen sind
unwahr. Wahr ist vielmehr, dass ich, in Uebereinstimmung mit
alien Mitarbeitern meines Gedichtbuchs die Kunst Stefan Georges
aufs ausserste verehre und dieser Verehrung, in der Vorrede zum
„Kondor", unzweideutigen Ausdruck verliehen habe, mit dem Satz:
„Keineswegs die Meister — die wir ehrfiirchtig lieben (auch wo
sie uns befremden) — , sondern ihre traurigen Nachaffer sind
es, deren sakrales Gouvernantentum und steife, stiefe Pose wir nicht
mehr ertragen konnen."
Berlin, 15. August 1912.
Kurt Hiller.
„Diese Behauptungen sind unwahr. Wahr ist vielmehr..." Ha!
Das heisse ich mir doch eine kernige deutsche Sprache. Ich erkenne
den Hiller nicht wieder, der im „Kondor" (einleitend) eine Prosa
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exekutiert, deren „unzweideutiger Ausdruck" mich zu einem so pein-
lichen Missverstehen veranlassen konnte. Zur Klarung der Sachlage)
(ich schliesse mich hier der Juristenterminologie an, die Herr Hiller
fur Erklarungen im „Kain" bevorzugt) mochte ich dem Herrn einige
Fragen vorlegen: Wessen Lyrik entnahmen Sie die Worte „Wasen",
„getarnt" und „Gewafer", die Sie — wenn mich der Eindruck
Ihrer Polemik nicht zum zweiten Male tauschen sollte — zur Be-
grtindung Ihrer Abneigung gegen die „Hochnasigkeit als konstitu-
tives Prinzip von Dichtungen" anfuhren? Ferner: Wen meinen Sie
ausser George, wenn Sie in diesem Zusammenhange „die Meister"
von Ihrer Befehdung ausnehmen ? Und: Haben Sie, da Sie „das
murrische Pathos dieser feierlichen Magister aus des grossen George
Seminar" ablehnen, den „grossen George" wirklich nicht in ironi-
schen Anfiihrungszeichen gedacht ?
Vielleicht empfiehlt es sich, Herr Hiller, wenn Sie sich kunftig-
hin bestrebten, auch dann, wenn Sie nicht schmerzhaft gekitzelt
sind, sondern sich „nur aus Eitelkeit" literarisch produzieren, eine
Deutlichkeit des Ausdrucks zu erzielen, wie er Ihnein in dem Briefe
an mich so vortrefflich gelingt. Ihre Kritiker werden dann davor
behtitet sein, sich offentlich von Ihnen sagen lassen zu mtissen:
„Diese Behauptungen sind unwahr. Wahr ist vielmehr..."
Parsifal. Hermann Bahr ist ein Fanatiker, das macht ihn so
ungemein sympathisch. Seine Rede ist ja, jal oder nein, nein! Was
dariiber ist, dtinkt ihn von Uebel. Was er bekennt, bekennt er begei-
stert, kampferisch, aggressiv. Seine Ueberzeugung ist immer ehrlich
und stark, und deshalb kommt er uns verrant vor, wenn er einmal
ja, jal sagt, wo wir nein, neinl rufen.
Hermann Bahrs Fanfaren fur das vom Hause Wahnfried be-
triebene Parsifal-Schutzgesetz finden wenig Echo, und es hiesse Pfaffen
nach Bayern tragen, wollte man alle Grtinde gegen ein Ausnahme-
gesetz noch einmal aufzahlen. Warum soil denn eigentlich das Mani-
fest des fromm gewordenen Wagner dem finanzkraftigen Sommer-
publikum reserviert bleiben? Weil es dermassen weihevoll ist, dass
ihm die Ausdunstung der misera plebs am Kunstwert Abbruch tun
konnte ? Merkwilrdig: ich habe mir immer eingebildet, Ehrgeiz jedes
Kunstlers mlisse es sein, in die Massen zu wirken. Eine erlesene
Aufflihrung ist gewiss sehr schon, aber ein erlesenes Publikum
bringt man Jucht durch exorbitante Eintrittspreise zusammen Will
man das haben, so versende man personliche Einladungen an kulti-
vierte Menschen und lege fur Minderbemittelte Fahrkarten nach
Bayreuth bei.
Glaubt man, dass die Bayreuther Parsifal-Aufflihrung ewig un-
erreichbar sein wird, gut, so veranstalte man sie auch fernerhin jedes
Jahr. Wer sichs leisten kann, wird dann auch klinftig lieber die
Reise unternehmen, als sich die Bemilhungen eines heimischen Stadt-
theaters genugen zu lassen.
Aber schliesslich sollten die Bayreuther nicht gar so gering-
schatzig iiber die Provinztheater die Nasen rumpfen. Ohne die
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riesigen Tantiemen, die von den Provinzbuhnen aus jahraus jahrein
fiir bessere oder schlechtere Wagnerauffiihrungen nach Bayreuth
geflossen sind, waren dort die katholischen Sonntagsfeiern fur das
atheistische Synagogenpublikum vermutlich garnicht moglich gewor-
den. Und was liegt denn daran, wenn der „Parsifal" wirklich mal in
irgendeinem Wandertheater schmierenmassig in den Grund gespielt
wird? Man sagt, dass auch die Werke eines gewissen Shakespeare
wert waren, nur von erlesenen Kiinstlern gespielt zu werden. Ihnen
so wenig wie Goethes „Faust" hat es bisher an ihrem wahren Wert
geschadet, dass sich in billigen Sommertheatern unfahige Regisseure
und talentlose Debutanten mit ihnen abqualen.
Nun ersteht der Familie Wagner plotzlich ein neuer Halfer
in der Person des Dr. Richard Strauss. Der Brief, den der bertihrnte
Musiker an Herrn Karpath geschrieben hat, ist in mancher Bezie-
hung sehr bemerkenswert. Ich sehe von der bodenlosen Geschmack-
losigkeit des Tones ab, in dem das Dokument verfasst ist. Ueber-
raschend aber ist die geradezu kindliche Unbehilflichkeit, in der
hier ein Mann, der geistige Werte schafft, dem gesamten sozialen
Geschehen gegenlibersteht. Strauss will den „Willen des Genies" als
oberstes Gesetz ilber alle offentliche Massnahmen aufstellen. Et
beschimpft die Juristen und Politiker, weil ihnen das Verstandnis
fiir die „unbeschrankten Rechte des geistigen Eigentumers" fehlt. Es
muss aber gesagt werden, dass ein Kunstler, der sein Werk iiber-
haupt veroffentlicht, damit die Allgemeinheit schon zum Miteigen-
tiimer macht. Wenn es nach Strauss ginge, dann mlisste jeder
Architekt, der an eine Strasse eine kilnstlerische Hausfassade baut,
das des Weges kommende Publikum auf seine Wiirdigkeit kontrol-
lieren dtirfen, an seinem Gebaude verliberzugehen, oder aber
einen teuern Strassenzoll von den Passanten erheben konnen. —
Strauss entsetzt sich bei dem Gedanken, dass eines Tages der Fall
eintreten kann, dass jeder Spiessblirger „statt fortwahrend in dan
Kientopp und in Operetten zu gehen, auch fiir die funfzig Pfennig den
Parsifal horen" werde. Und wenn schon! Funfzig Pfennig be-
deuten fur sehr viele Menschen betrachtlich mehr Geld als die
hunderte Mark, die die Reise nach Bayreuth kostet, denen, die 6ie
jahrlich unternehmen. Es ist traurig genug, dass die Erhebung durch
die Kunst iiberhaupt vom Geldbesitz abhangig ist.
Die Exkursionen des Dr. Strauss ins Politische sind reichlich
komisch. Er beschimpft „das Mode allgemeine Wahlrecht" und
wiinscht statt dessen eines, bei dem etwa „die Stimme eins einzi-
gen Richard Wagner hunterttausend und ungefahr zehntausend Haus-
knechte zusammen eine Stimme bedeuten." Aber Herr Doktor !
— Der schaumende Revolutions entblosst sich hier in all seiner Welt-
fremdheit. Er, der glaubt, mit seiner ungeheuerlichen Forderung die
Staatsordnung aus den Fugen zu reissen, klammert sich wie jeder
ausgediente Demokrat an „das Mode allgemeine Wahlrecht". Nur
das gleiche Wahlrecht will er abschaffen. Ach, lieber Herr, ein
Wahlrecht ist so Mod wie das andere. Ob die Hausknechte das Genie
vergewaltigen oder ob das Genie das ganze Volk zu seinem Haus-
knecht machen mochte, macht wenig Unterschied. Traurig und
jammervoll ist nur, dass zwischen Volk und Genie gar kein Zusam-
menhang besteht. Ist Wagners Genie so volksfremd, dass Bein
Werk nur unter Ausschluss der Oeffentlichkeit gedeihen kann, so
soil man das Volk nicht schmahen, das ihm keine Extrawurst brat.
Aufgabe der Kunstler ist es, am Erleben des Volkes teilzunehmen,
wie es der Revolutions von 1848 Richard Wagner tat. Dann
werden ihre Werke den Sinn aller Kunst erfilllet, verbindenden
Geist zwischen den Menschen zu schaffen, und wir werden eine Kultur
haben, von deren Fehlen das Schreiben des Doktor Strauss ein
betrubender Beweis ist.
Vollmarasmus. Der Ritter Georg von Vollmar, eine stolze
Stiitze der sozialdemokratischen Partei, ein Mann, liber dessen tiefre
Wesensart sich jedermann im Kapitel „Georg" der Streitschrift seines
Genossen Mehring „Meine Rechtfertigung" ausgiebig informieren
kann, sprach am 21. August im Bayerischen Landtag nicht ohne
Emphase diese Satze: „Im Wahlkampf ist von Zentrumsagitatoren
die Behauptung aufgestellt worden, wenn ein Krieg ausbrache, wiir-
den die Sozialdemokraten durch einen Massenstreik die Mobilmachung
storen, die Reservisten hindern, der Fahne Folge zu leisten und
wilrden Verrat am Vaterlande begehen. Es ist zwar bereits im
Reichstage vom sozialdemokratischen Redner diese Luge zurilckge-
wiesen worden, ich will es aber ebenfalls tun. Gewiss werden wir
Sozialdemokraten alles daran setzen, damit der Friede erhalten bleibt...
Wenn es aber ohne Schuld des Reiches nicht gelingt, den Frieden
zu erhalten, dann wird alles vor der Not des Vaterlandes zuruck-
treten, und es ist selbstverstandlich, dass dann auch die Sozialdemo-
kraten dem Lande ihre Dienste leisten werden, und sie werden nicht
die schlechtesten Verteidigter des Vaterlandes sein." — In der
gleichen Sitzung des Landtags hat nach dem Bericht der „M. N. N."
Ritter Georg die Behauptung eines Zentrumsredners, die Sozialdemo-
kraten seien Republikaner, mit dem Zwischenruf beantwortet: „Das
ist eine Unverschamtheit!" — Es bleibe dahingestellt, ob dieser
Bericht zutreffend ist oder der der „Munchener Post", nach dem auf
den Vorwurf des Republikanismus nur zwischengerufen wurde:
„Wo sind die Beweise?" — Die Beweise filr ihre antimonarchische
Gesinnung ist die Sozialdemokratie allerdings bisher durchaus schul-
dig geblieben, und so scheint auch das Empfinden begreiflich, aus
dem die Unterstellung, die Herren seien, wie es das Erfurter Pro-
gramm von ihnen verlangt, Republikaner, den Ruf „Unverschamt-
heit" geweckt haben konnte.
Was seine Partei tun wird, wenn es mit Schuld des Reiches
nicht gelingt, den Frieden zu erhalten, hat Herr von Vollmar
nicht verraten. Da er den Verdacht, sie konnte den Massenstreik
organisieren, prinzipiell als Luge stigmatisiert hat, muss angenom-
men werden, dass sie auch dann „alles daran setzen" wird. — Wir
Antipolitiker haben der Sozialdemokratie oft den Vorwurf gemacht, sie
sitze zwischen zwei Stuhlen. Dieser Vorwurf ist nicht aufrecht zu
erhalten. Die rechte Hinterbacke hat langst eine Ecke des liberalen
Nachtstuhles erklommen, wahrend die linke, die mit vereinzelten
Flecken der Schamrote in der Luft hangt, langsam abfault.
Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsara, Miinchen, Akademiestrasse 9.
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baaderstr. 1 u.la. Geschaftsstelle: Miinchen, Baaderstr. la. Tel. 2355
jVAIJN, -H-Clt 1. Inh al t : Anarchistisches Bekenntnis. — Miinchner
Theater. — Intriguen. — Bemerkungen. — Karl May. — Die
Pleite im Ruhrrevier. — Mottl und die „Miinchener Post". —
Die Tugend hat gesiegt.
KAIN, Heft 2. Inhalt: Politisches Vari6t6. — Tagebuch
aus dem Gefangnis. — Der riihrige Zensor. — „Titanic." —
Die Jesuiten. — Vom Geistesmarkt. — Aus dem „Krater".
KAIN, Heft 3. Inhalt: Strindberg. — Tagebuch aus dem
Gefangnis. — Miinchner Theater. — Bemerkungen. — Bonnot
Gamier und Co. — Der Kampf mit dem Drachen. — Die ent-
sprechende Siihne. — Geburtstagsgriisse. — Maria im Rosenhag.
KAIN, Heft, 4. Inhalt: Die Presse. — Tagebuch aus dem
Gefangnis. — Bemerkungen. — Kritinismus. — Neues von der
Theaterzensur. — Die Polizeiassistentin. — Zeppelins Pech. —
Saccharin. —
KAIN, Heft 5. Inhalt: Generalstreik! — Die Rigorosen. —
Bemerkungen. — Ettor und Giovannitti. — Der Veteran Drux. —
Die Miinchner Post. — Verworfen.
Saturnvertag
Harmann Malstar, Heidelberg.
Seit August 1911 erscheint:
Q
Eine Monatsschrift fiir Belletristik, Kritik, Satire, Lyrik und Schwarz-
Weiss-Kunst, herausgegeben von Hermann Meister und Her-
bert Grossberger.
Von den Mitarbeitern seien u. a. genannt:
Oskar Baum, Ernst Blass, Max Dauthendey, Albert Ehrensteinj
Johannes von Guenther, Otto Hinnerk, Rudolf Kurtz, Heinrich
Lautensack, Otto Stoessl, Felix Stossinger, Emile Verhaeren, Paul Zech.
Von Urteilen fiihren wir an:
„Auf die unabhangige Zeitschrift sei mit Nachdruck hinge-
wiesen." Prager Tagblatt.
„Eine Zeitschrift von Individualisten filr Individualisten".
Der Tagesbote, Brunn.
„Eine Zeitschrift, die in dem Gewimmel der Revuen einen be-
sonderen Platz verdient".
Hildesheimer Allg. Zeitung.
Jedes Heft umfasst ungefahr 2 Bogen und enthalt 2 Bildbei-
g a b e n , darunter meistens Originate wie Lithographien, Kupfer-
stiche, Schnitte. Der Mindestabonnementspreis (fiir 6 Hefte) betragt
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Die ftodt)Jlflplcr* iu!ift»ieL 1906. m.2.-
Zu bezieften durrt) icde Budjljandlung und den
Kain*Oerlag, mundjen, BaatlerftraBe la.
Jm KaliuDerlag muntDen, BaaderftraBe la
lit crfdnenni:
»
Ocr Kratet"
eedid&te Don eridt) muftfam.
Prels: m. 2.—
JahrgangH. No. 7. Oktober 1912
KMN
Zeif/chrifffur
rien/ch(ich(\eir
HemuJgeber;
(rich Huh/am
Inhalt: Chemnitz. — Miinchener Theater. — Tagebuch ans dem
Gefangnis. — Gedichte. — Bemerkungen. — Die Teuerung. —
Die tapferen Eisenbahner. — Herve, der Renegat. — Vom Hofe.
Kain-Verlag Munchen.
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Jahrgang II. Miinchen,
No. 7. Oktober 1912.
KAIN
Zeitschrift fiir Menschlichkeit.
Herausgeber: Erich Miihsam.
I|I ||,.|.„ | iH,. | I, | , i | |,|I*i | i.|„<,i|„| ., | ..|.|. I | . I .J 1 11. I I .|..|..|I>.|I.|.1.|„I I |. M I |., | I | .|., | .|.1 II| M- I H I ..H I I. r UM. IIIl .l'.I.I.MrTTT^
„KAIN" erscheint im Monat einmal. Der Preis betragt
iiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne-
raent 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag"
Miinchen. Baaderstrasse la.
Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber.
Mitarbeiter dankend verbeten.
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Chemnitz.
Die Genossen unterscheiden bei ihren Parteitagungen
zwischen den Stunden, in denen sie sich der Beschaftigung
mit ihrer schmutzigen Wasche hingeben, und denen, wo
„positive Arbeit" verrichtet wird. Chemnitz zeichnete
sich durch das imponierende Ueberwiegen der „positiven
Arbeit" aus. Diese Arbeit besteht in der Vorlegung eines
hochst respektabeln Kassenrapports, in eliichen popularen
Vortragen iiber allgemein interessierende Angelegenheiten,
in der Annahme von Parteivorstands-Antragen und der
Ablehnung von Vorschlagen einzelner Delegierter, in der
Zustimmung zu phrasentonenden Resolutionen und endhch
im dreifachen Hoch auf die intemationale volkerbefreiende
Sozialdemokratie und dem Absingen der Wahlrechts-Mar-
seillaise („das freie Wahlrecht ist das Zei-heichen"), in die
die Delegierten begeistert einstimmen. Jn seiner posi-
tiven Arbeit sieht also ein sozialdemokratischer Parteitag
einer freisinnigen Bezirksvereins-Versammlung verzweifelt
ahnlich.
Mitunter kommt ein lebhafterer Zug in die Langweilig-
keit solcher Oesinnungsparade, wenn namlich bei der
Springprozession der Partei in den Revisionismus hinein
(zwei Schritte vorwarts, einer zuriick) der zweite Schritt vor-
warts aufs Master klappt. Im vorigen Jahr geschah das
in Bebels Jenenser Bekenntnis zur imperialistischen Reichs-
politik (vgl. „Kain" I, 7). Den Schritt riickwarts dirigierte
in Chemnitz mit Geschick und Geschmack Herr Haase, der
neue Parteioberhirt, in seinem Referat iiber den Imperia-
Usmus. In diesem Jahre hopste man seine zwei Schritte
vorwarts mit der Billigung der bei den Wahlen kreierten
„Dampfung" zugunsten der liberalen Bundesgenossen. Der
Riickbopser in den RadikaUsmus geschah mit der Relega-
tion des Genossen Gerhard Hildebrand aus der Partei.
Hire schmutzige Unterwasche behielten die Genossen
diesmal mit viel Zuriickhaltung am Leibe. Ausser Herrn
Radek, dem Protege der,, Bremer Burgerzeitung'',brauchte
sich in Chemnitz niemand von seinen Gesinnungsfreun-
den einen Hundsfott schimpfen zu las sen, und gerade bei
der Goppinger Affaire zogen Revisionisten und Radikale so
einmiitig am gleichen Strang, als ob von ihrer inbriinstigen
Gefahrtenliebe niemals ein Dresdener Jungbrunnen etwas
weggespiilt hatte. Hildebrand aber wurde mit den zartlich-
sten Achtungsbeteuerungen aus der Partei geekelt. Er
wird es erst merken, was er fur ein Schurke ist, wenn die
Presse seiner bisherigen Genossen mit ihm per „ein Herr
Hildebrand" wird diskutieren diirfen.
Der Hass zwischen Revisionisten und Radikalen, dessen
hemmungsloses Toben die Debatten der sozialdemokrati-
schen Parteitage seit Dresden so anmutig belebte, schien
in Chemnitz bis zu der Gerichtsverhandlung gegen Hilde-
brand im lauteren Bestreben um harmonische Geschlossen-
heit erioschen zu sein. Besonders tiefblickende Kritiker
wollten bemerkt haben, dass die Revionisten angesichts
ihrer bei Auszahlungen immer wieder zutage tretenden nu-
merischen Schwache bis zu gelegenerer Zeit vor den Radika-
len kapituliert hatten, ich glaube, sie irren. Mir scheint
die Chemnitzer Tagung gerade dadurch bemerkenswert,
dass hier zum erstenmale die prinzipiellen Debatten iiber
die Parteidogmen als iiberfliissig erkannt wurden, und die
— 99 —
Spaltung der Partei in zwei grundsatzlich gegnerische poli-
tische Gruppen als fait accompli in die Erscheinung trat
Die feindlichen Briider finden sich von jetzt ab miteinander
friedlich ab, da sie eingesehen haben, dass das bisher ge-
iibte Verfahren der gegenseitigen groblichen Beschim-
pfung nicht zu dem erwiinschten Ziel der Bekehrung und
Verstandigung fiihren kann.
Eine vergleichende Beobachtung der Machtstarke der
beiden Unterparteien fiihrt zu sehr lehrreichen Schliissen.
Der sogenannte radikale Fliigel besteht auf der demonstra-
tiven Betonung der von Marx und Engels als Leitsatze
proletarischer Politik aufgestellten Thesen. Er halt ein
revolutionares Vokabularium fur unentbehrlich, um den
Glauben an die oppositionelle Mission der Sozialdemokra-
tie nicht untergehen zu lassen. Der radikale Sozialdemo-
krat glaubt an ein sozialistisches Endziel, und wenn er auch
in seinem taktischen Verhalten alles tut, um dieses Ziel
nie in greifbare Nahe gelangen zu lassen, so wahrt ihm
sein frommer Glaube doch vor sich selbst und vor der be-
geisterungsgewillten Menge die Wiirde des Idealisten.
Dass seine Anhangerschaft der Zahl nach immer noch die
weitaus uberlegene ist, erklart sich daraus von selbst.
Die Revisionisten stellen sich bewusst ausserhalbjeder
dogmatischen Umsturzbestrebung. Sie wiinschen, eine
pohtische Gegenwartspartei zusein, mit der einzigen Unter-,
Scheidung von anderen Parteien, dass es ihnen ausschliess-
lich um die soziale Hebung des Arbeiterstandes inner-
halb des kapitalistischen Staates zu tun ist. Sie teilen mit
den Radikalen den Wunsch nach Erlangung der politischen
Macht. Sie wollen mit dieser Macht aber nicht die Umwal-
zung der gesellschaftlichen Einrichtungen erkampfen, son-
dern ledighch die Moglichkeit, auf die bestehenden und im
Wesen fur gut befundenen Verhaltnisse im demokratischen
Sinne einzuwirken. — Es ist klar, dass dieser Parteifliigel
aus dem Proletariat den geringeren Zulauf hat, bei den
staatserhaltenden Elementen der Gesellschaft aber die
grossere Sympathie.
— 100 —
Aus der Vergleichung der beiden Tendenzen in der
deutschen Sozialdemokratie ergibt sich notwendig die von
den Entwicklungstatsachen seit Jahren bestatigte Folge,
dass auf den Parteitagen die Antrage der Radikalen stets
die grossere Aussicht auf Annahme haben, dass aber
die reale Macht des Revisionismus trotzdem und unbe-
schadet der numerischen Starkeverteilung innerhalb der
Parteigenossenschaft standig wachst. Somit konnen beide
Gruppen fortan in Eintracht nebeneinander wohnen. Derm
beide erreichen, was sie ihrem Charakter gemass anstre-
ben mii s sen: Die linke Seite den schonen Applomb der
Annahme ihrer Antrage, die rechte die schwindende Wirk-
samkeit der auf iiberholte Axiome gestiitzten Massnahmen.
Hildebrand ist ausgeschlossen worden — gewiss. Aber
Ludwig Frank konnte unmittelbar nach dem Parteitag in
einer Mannheimer Versammlung den Grundsatz proklamie-
ren, es komme nicht auf die theoretischen Lehren an, die ein
Genosse verbreitet, sondern auf den praktischen Nutzen,
den der Einzelne der Partei bringe. Dass diese Ansicht in
einer Partei Geltung gewinnen kann, deren Programm auf
bis zur Intoleranz straffen (wenn auch logisch nicht halt-
baren) Theorien fusst, kennzeichnet das Mass der Ent-
fernung zwischen rechtem und linkem Fliigel.
Vor die Wahl gestellt, welcher der beiden Richtungen
der zukunftsglaubige Mensch seine Sympathieen zuwenden
soil, tut einem das Herz weh. Manche meinen, die Revi-
sionisten seien wenigstens so ehrlich, ihre Advokatenpoli-
tik nicht mehr mit revolutionaren Redensarten zu ver-
bramen. Die so urteilen, mogen einmal einen revisionisti-
schen Parteibonzen in einer Arbeiterversammlung spek-
takeln horen. Das Register der brandroten Phrasen be-
herrscht der so virtuos wie der roteste Radikale: nur merkt
man, dass er auch anders kann, dass er mit Vorsicht hetzt,
dass er bremst, sobald er furchtet, seine Worte konnten
iiber die Stimmung des Augenblickes hinaus erhitzen.
Wer daran zweifelt, dass die Herren Revisionisten be-
wusst tauschen, wenn sie ins radikale Horn stossen, der
— 101 —
sei an Vollmars freches Wort erinnert, der bei der Erwah-
nung der gewaltigen Tat der Pariser Commune meinte,
man solle die Erinnerung daran furs Schaufenster reser-
vieren. —
Die Radikalen sind menschlich noch immerhin ertrag-
lich. Was von ihnen abstosst, ist aber die dumme An-
massung, mit der sie die Marxischen Verschrobenheiten
als den allein „wissenschaftlichen Sozialismus" re-
klamieren. Alles andere ist „Utopie". Als ob es je ein
Zukunftsideal geben konnte, das nicht Utopie ware, und
als ob je eine Idee verwirklicht ware, die nicht einmal
Utopie war! Aber die auf eine vergewaltigte Logik ge-
griindete, von einer spekulativen Philosophie abhangige,
rechnerisch verkehrte, von alien Erfahrungen desavouierte
Oekonomie Marxens ist unantastbare Wissenschaft. Bei
dieser kritiklosen Arroganz ist es nicht verwunderlich,
dass das praktische Tun der Herren zu ihrem theoretischen
Bekenntnis in immer lacherlicheren Gegensatz gerat, und
dass sie trotz ihrer zahlenmassigen Ueberlegenheit den re-
visionistischen Tendenzen in der Partei immer grosseren
Einfluss einraumen mussen, was wiederum den sozialde-
mokratischen Wahn von der Unbezwinglichkeit der gros-
seren Ziffer sehr hubsch illustriert.
Als auf dem internationalen Kongress in Amsterdam
im Jahre 1905 Jaures den drei Millionen deutschen Sozial-
demokraten ihre ganzliche Einflusslosigkeit vorhielt, er-
widerte ihm Bebel: Lasst uns nur erst acht oder zehn Mil-
lionen Stimmen haben, denn werden wir schon zeigen,
was wir konnen. In Chemnitz sprach Haase denselben Ge-
danken aus und gab zu, dass die vier Millionen Wahler von
1912 noch gar keine positive Macht bedeuten. Beide Her-
ren scheinen nicht bedacht zu haben, dass die Stimmen-
zahl, die sie fur notig halten, um damit erfolgreich auf-
trotzen zu konnen, garnicht anders erreicht werden kann,
als durch Heranziehung des Burgertums zur sozialdemo-
kratischen Unterstutzung, und zwar in noch viel weiterem
Umfange als sie bisher schon geiibt wird. Wir haben
— 102 —
alle gesehen, wieviel Konzessionen die Partei den mit dem
Kapitalismus vollig einverstandenen Kleinbiirger bei jeder
Wahl macht, um seinen Zettel zu kriegen. Sollen jene Re-
serven bis zur Komplettierung der verdoppelten und ver-
dreifachten Zahl sozialdemokratischer Wahler mobil ge-
macht werden, so bleibt garments anderes iibrig als vol-
liger Verzicht auf jede Demonstrationspolitik und volliges
Aufgehen in positiver demokratischer Staatspolitik. Die
Eroberung der politischen Macht geht somit Hand in
Hand mit dem Aufgeben der revolutionaren Ziele und hat,
wenn sie perfekt ist, garment mehr die Moglichkeit, fur den
Sozialismus gebraucht zu werden.
Aber auch die radikalen Vertreter des Marxismus kon-
nen von diesem Wege der Konzessionen und Inkonse-
quenzen nicht mehr zuriick. Wollten sie es, so miissten
sie ihre ganze parlamentarische Taktik im Stich lassen und
SoziaUsten werden. Das aber widersprache dem Wesen
der politischen Partei. Dass die Herren einen Mann wie
Hildebrand, der die militarische Eroberung exterritori-
aler Kolonien empfiehlt, aus der Partei ausschliessen,
miisste dem denkenden SoziaUsten selbstverstandlich er-
scheinen. Trotzdem mochte ich diese Elimination nicht
als eine Konsequenz der Genossen bezeichnen, sondern
eher als eine Inkonsequenz in ihren Inkonsequenzen. —
Viel interessanter als der Ausschluss war jedenfalls das
Bemuhen der Revionisten, Hildebrand fur die Partei zu
retten. Dieser Grad von Toleranz (nach rechts hiniiber)
zeigt die Tendenz, in der sich die revolutionare Partei
Deutschlands bewegt. Und die Radikalen miissen mit, sie
mogen wollen oder nicht
Eine nach aussen sichtbare Spaltung der Partei wird in
absehbarer Zeit kaum erfolgen. Die beiden Innenparteien
werden noch sehr lange miteinander weiterwursteln. Die
Partei wird dabei von rechts her immer mehr Wahler an-
setzen, wahrend nach links hin die enttauschten Arbeiter
nach und nach den Weg ins Freie finden werden. Ein-
geweihte wissen langst, mit welcher Sorge die sozialdemo-
103
tratischen Seelsorger schon heute das langsame aber ste-
tige Anwachsen der anarchistischen Bewegungen beob-
achten.
Munchener Theater.
Vor einem Monat versprach ich, hier auf die schleimige Ge-
schmacklosigkeit zurtickzukommen, die Herr Georg Fuchs mit seiner
„Nachdichtung" von Calderons Trauerspiel „Der standhafte Prinz"
begangen hat. Die frische Emporung ist seitdem verraucht, und es
ist mein Entschluss, das „Misterium" modern zu lassen, wo es ver-
dientermassen eingesargt ist. Nur ein kritisches Wort, zu dessen
Autorschaft ich mich bekennen muss und das allzu eifrig weiter ge-
geben wurde, mochte ich revozieren. Ich sagte gleich nach der Auf-
fiihrung 4u Freunden: „Fuchs, du hast es ganz gestohlen". — Das
ist leider unrichtig. Alle Ersetzung Calderonscher Dramatik durch
Geschwatz und Salbaderei ist von Fuchs selbst, alle Zutat an from-
men Wundem und frommem Brimborium ist von ihm, kurz alles, was
die Bezeichnung der Tragodie als „Misterium„ begrilnden sollte und
was aus Calderons starkem Drama den larmoyanten Schmalzfladen
machte, bei dessen Genuss dem Publikum libel wurde. Steinrlick's
Regie wies grosse Kostlichkeiten auf. Doch sollte in Zukunft der
Verein „Munchener Volksfestspiele" einem Klinstler von seinem
Range vor sauberere Aufgaben stellen als vor die Inszenierung Fuchsi-
scher Anbiederungsversuche an die bayerische Landtagsmehrheit,
Herrn Fuchs selbst aber muss geraten werden, kilnftighin sein christ-
katholisches Gemlit anderswo zu betatigen als im Theater. Jedenfalls
moge er, wenn ihm schon jede eigne dramatische Erfindung von sei-
nen Schutzheiligen versagt ist, seine Finger von den Gebeinen grosser
Dichter fernhalten. Das Saumensch von Muse, von dem sich Georg
Fuchs gekusst ftihlt, hat mit dem Genius Calderons nie eine Liaison
gehabt.
Ein Strindberg-Abend im Residenztheater gibt Anlass zu freund-
licheren Bemerkungen. Der Akt „Mutterliebe" freilich, der drama-
tisch und psychologisch zu den starksten Strindberg-Arbeiten ge-
hort und die seelische Knebelung eines lebensfreudigen Madchens
durch ihre egoistische Mutter in beklemmender Wahrhaftigkeit enthlillt,
geriet unter der Regie des Herrn Dr. Kilian nur zu einer recht dilrf-
tigen Auffiihrung. Wobei ein paar sehr starke Momente des Frl.
Hohorst als Tochter und die kilnstlerisch brillante Gestaltung einer
intriganten alten Schachtel durch Frau Conrad-Ramlo riihmlich hervor-
gehoben werden mtissen. — Dagegen war „Wetterleuchten. Ein
Kammerspiel in drei Szenen" ebenfalls in Kilians Inszenierung eine
— 104 —
sehr lobenswerte Darstellung. Steinrtick spielte die Hauptrolle, und
so ging sein Geist durch alle Bilder und Vorgange. Die fast erschrek-
kende Natlirlichkeit dieses Mannes, die das Theater vollig vergessen
macht, gab dem ganz in der Erinnerung an seine geschiedene Frau
und ihr Kind lebenden pensionierten Beamten die greifbarste Wirk-
lichkeit. In Herrn Basil als Bruder des Herrn fand Steinrtick
einen ausgezeichneten und ebenfalls uberaus lebenswahren Gegen-
spieler. Der Konditor Stark, der alte Hausgenosse wurde von Herrn
Schroder wirksam verkorpert, und Gerda, die geschiedene Frau, die
nach zehn Jahren plotzlich wieder in den Gesichtskreis des Gatten
tritt und damit alle guten Erinnerungen in seinen Herzen zerstort, er-
hielt durch Frau v. Hagen Sichtbarkeit und Glaubhaftigkeit . . .
Im Schauspielhause fand hier zugleich mit den Premieren an x
anderen Blihnen Leo Birinski's Tragikomodie „Narrentanz" ihre Ur-
auffiihrung. Die meisten Kritiker haben das Werk abgelehnt, einige
sogar recht schroff. Ich glaube es schon deswegen verteidigen
zu sollen, weil sich darin ein recht starkes theatralisches Talent
verrat, und weil das Stilck von einem Autor ist, dessen Jugend zwar
Warnung aber auch Ermutigung verdient. — Dabei will ich gleich
bemerken, dass ich mich schroffer als irgend ein andrer Kritiker
gegen die Arbeit aussprache, wenn ich den Vorwurf berechtigt fande,
dass es auf eine Verhohnung der russischen Revolution abgesehen
sei. Denn ich glaube an die Buhne als moralische Anstalt und gebe
die Berechtigung eines l'art pour l'art-Standpunktes fur das Theater
nicht zu.
Die machtigen Emotionen, die in der Mitte des vorigen Jahr-
zehnts Russland erschlitterten, haben dem Russen Birinski schon den
Stoff zu seiner Tragodie „Moloch" gegeben. Gegen den Versuch,
diesen ernsten Ereignissen auch lustige Seiten abzugewinnen, habe
ich moralisch nichts einzuwenden, zumal im „Narrentanz" wirklich nur
die 'korrumpierte Beamtenschaft, aber nie und nimmer die Be-
geisterung und der Opfermut der Revolutionare in verachtlichem
Lichte erscheint. Im zweiten Akt, in der grossen wirren Dis-
kussion der Revolutionare (tibrigens der weitaus starksten, drama-
tisch wirksamsten und menschlich wahrsten Szene der Komodie]
ist jeder einzelne freudig bereit, das fingierte Attentat des Gou-
verneurs auf sich zu nehmen, und das ganze Stilck hindurch er-
kenne ich wohl die leise Ironie des Autors gegeniiber dem unbe-
hilflichen Eifer der jungen Leute, nirgends aber entfernt eine Ver-
spottung ihrer Ergriffenheit. Auch die Voraussetzung der Handlung
scheint mir nicht gesucht. Es ist sehr wohl moglich, dass die Revo-
lutionare ein Gouvernement „revolutionsfrei" halten, um dort vor
Polizeichikanen sicher zu sein und gefahrdete Kameraden, wichtige
Papiere und Waffenvorrate unbehelligt zu beherbergen. Dass dem
gewinnsilchtigen Gouverneur, der fortwahrend von der Regierung
— 105 —
Geld verlangt, die Ruhe in seinem Distrikt sehr unbequem ist, kann
ebenfalls glaubwurdig gemacht werden, und komische Komplika-
tionen ergeben sich aus solcher Umkehrung der Wahrscheinlich-
keiten von selbst. Die Verlegung des Waffenarsenals und des Archivs
in die Wohnung des Gouverneurs, das aufgezwungene Liebesverhalt-
nis des Vertrauensmannes der Gruppe mit der Frau des Gouverneurs
sind unbeanstandbare Lizenzen des Komodienschreibers.
So ware die Idee des Stilckes kein Grund, mit Herrn Birinski
unzufrieden zu sein. Leider hat aber die Gestaltung selbst arge
Schwachen. Ein Drama, das kraftig einsetzt und schwach endet,
mag im Leben ilblich sein, auf der Bilhne ist es unmoglich. Dar
erste Akt ist ein famoser frischer Schwank, der zweite eine intelligent
gearbeitete, wirksame Milieustudie, der dritte ein in unnaturliche
Lange gereckter szenischer Einfall und der vierte ein Nichts, eine
gekilnstelte und in jeder Hinsicht unbefriedigende Auflosung der
Schwankidee in einen tragischen Effekt, dessen Tragik schwank-
massig behandelt wird, und der daher im Zuschauer die peinlich-
sten Empfindungen bewirkt. Dazu die groteske Ungeschicklich-
keit, als Schlusspointe die Enthilllung eines Vorgangs hinzusetzen,
dessen Z euge das Publikum im ersten Akt selber war. Die Zusam-
menziehung der beiden Schlussakte und die Abanderung des Aus-
gangs, die Birinski inzwischen vorgenommen hat, konnen dem Werk
bestimmt nichts schaden. Hoffentlich niltzen sie ihm.
Auch Einzelheiten sind nicht immer erfreulich. Die Figur
des Bauers Nikiita („Tun Sie mir um Gotteswillen kein Unrecht) ist
von Tschechow her zu bekannt, als dass sie noch einmal so ausgiebig
benutzt werden diirfte, wie Birinski es tut. Aergerlich war mir die
Gestalt der Mascha, der einzigen Revolutionarin des Stilckes. Diese
quitschende, larmende, hysterische Person ist gewiss nicht die ty-
pische Frau der russischen Erhebung. Ich kenne russische Revolu-
tionarinnen, die aber anders geartet sind, und sicher charakteristische!
gewirkt hatten als Birinskis alberne Gans. Sein Drama hatte einer
viel kraftigeren Ton gehabt, wenn an Stelle der Mascha eine Frau
gezeichnet ware, wie sich jeder, der in diese Kreise Einblick hat
die Terroristin vorstellt: Das ist die starke, sinnliche, uberragend
intelligente, zum Auessersten entschlossene Frau, die den Mannern
erst die Aktivitat gibt und die in alien Phasen der russischen Revo-
lution das Temperament, die Kraft und die Initiative der ganzen
Bewegung gewesen ist.
Das Wissen um seine grosse theatralische Begabung sollte Herrn
Birinski zur Vorsicht mahnen. Er ist in Gefahr, sein dramatisches
Talent um szenischer Wirksamkeiten willen zu verkitschen Bei des
Anlagen, die sich im „Moloch" und im „Narrentanz" verraten, kann
— 106 —
man vielleicht viel bessere Biihnenstucke von ihm erwarten, die
sowohl dramatisch gehaltvoll als auch theatralisch geschickt sein
mogen.
Die Darstellung — unter der Regie des Herrn Direktor Stollberg
— war nur teilweise befriedigend. Herr Jessen als Gouverneur,
hatte eine gute Auffassung seiner Rolle. Doch storte mich sein er-
mildendes Organ. Die wichtige Figur des Kosakow war ganz un-
beholfen und armselig, wie denn ihr Darsteller gewohnlich mit Un-
recht Talent beanspruchende Rollen anvertraut bekommt. Sehr lustig
spielte Herr Heller den Sekretar und Herr Siegfried Raabe den
Bauerntrottel. Frau Schaffer betonte die Hysterie der Mascha, statt
sie zu kachieren. Recht gut gefiel mir Herr Burghardt als der distin-
guierte Jude Goldmann, und ganz ausgezeichnet Frau Gltimer in
der Episodenrolle der mauschelnden Christin Katharina. Seit Gustav
Waldaus Weggang vom Schauspielhaus ist diese Frau fast die
einzige Kraft des Theaters, in der starke moderne Klinstlerschaft
lebt. Die schonen Blihnenbilder, die Herr Ferdinand Gotz zu schaffen
weiss, entschadigen auf die Dauer nicht filr die Mangel der Regie und
der Darstellungskunst im Schauspielhause.
Tagebuch aus dem Gefangnis.
(Fortsetzung.)
Ich stand inzwischen wie auf Kohlen. Gleich sollte sich's ent-
entscheiden, ob ich freigelassen wiirde oder ob man mich — vielleicht
schon diese Nacht — nach Mlinchen transportierte. So war ich froh,
als der Riese zurilckkam und der Glatzkopf rief: „Muhsam, kommen
Sie mit!" — Der Mann flihrte mich — wieder mit ausgesuchter Un-
hoflichkeit — vor den Untersuchungsrichter, einen Mann mit eng-
lischem Schnurrbart und etwas blasiertem, aber elegantem Exterieur.
„Sind Sie Miihsam?" fragte er mich. „Ja." — Er erklarte mir
nun, er habe mir zu eroffnen, dass gegen mich eine Voruntersuchung
eingeleitet sei, da ich hinreichend verdachtig ware, die Gruppen
„Vagabund" und ,,Tat" begrlindet und darin in Gemeinschaft mit
dem gleichfalls angeklagten Klavierspieler Karl Schultze (Morax), der
wegen einer anderen Sache in Untersuchungshaft sitze, zu einer Reihe
Verbrechen, wie Desertion, Einbruch, Falschmilnzerei usw. auf-
gefordert zu haben. Deshalb ersuche der Untersuchungsrichter in
Munchen, mich zu verhaften und ins Untersuchungsgefangnis Neu-
deck abzuliefern. Ich wollte gleich zu Protokoll geben, dass die
Vorwlirfe, die gegen mich erhoben wurden, absurd seien. Der
Herr erklarte aber, dass seine ganze Aufgabe sei, mir das Delikt,
dessen ich beschuldigt sei, zur Kenntnis zu bringen. Ich fragte nun.
— 107 —
ob das Ersuchen, mich in Neudeck abzuliefern, bedeute, dass ich
nach Munchen gebracht werden solle, worauf ich erfuhr, dass das
allerdings damit gemeint sei, dass aber erst die Entscheidung iiber
die von mir gegen die Verhaftung eingelegte Beschwerde fallen
miisse. Im ilbrigen sei er, der Untersuchungsrichter, mit der Materie
nicht vertraut und wolle sie zur weiteren Erledigung dem Herrn
geben, der sie bisher unter sich hatte, worauf er die Akten zu Herrn
Assessor B. schickte und mich entliess.
Als ich aus dem Bttro trat, sah ich zu meinem Erstaunen meinen
Bruder vor mir stehen, der mir mit Kondolenzmiene die Hand
schilttelte . . . ')
Der Kahle fiihrte mich nun in der gewohnten Manier wieder in
das Kalkstlibchen, in dem sich die Leidensgefahrten von „6 Wochen
mit — !' nicht mehr befanden. Hinter nur wurde die Tilre geschlossen,
und ich hatte nun Gelegenheit, in dieser Zwischenstation die Lage
zu uberdenken. Ich war also weder frei, noch wurde ich nach Mun-
chen gebracht. Es blieb vielmehr zunachst alles beim Gleichen Nur in
Einem sah ich klarer. Ich hatte jetzt ein bischen Naheres iiber das
erfahren, was mir zum Vorwurf gemacht wird. Zuerst beruhigte mich
diese Kenntnis, weil ich mir sagte: Das alles ist denn doch zu grotesk,
um geglaubt werden zu konnen. Dann aber stieg mir die Frage auf:
Wer mag mich beschuldigen? Es muss doch schliesslich jemand da
sein, der diese Dinge entworfen hat, und der dem Untersuchungs-
richter glaubwlirdig genug vorkommt, um mich auf seine Beschuldigung
hin verhaften zu lassen. Von denen, die regelmassig mit uns zusam-
menkamen, kann ich mir eigentlich keinen denken, der einerseits
gegen Morax und gegen mich so gemein zu handeln imstande ware,
andrerseits nach dem haufigen Anhoren meiner Vortrage, in denen
ich es regelmassig ausdrucklich abgelehnt habe, zu einer illegalen
Handlung anzureizen, noch so dummes Zeug behaupten konnte.
Interessant ist mir, dass die Anklage von der „Gruppe Vagabund"
spricht, die doch in der Tat niemals zustande gekommen ist. Unter
den Freunden wurde der Ausdruck fast nie — wenn nicht uberhaupt
nie — gebraucht. Bleibt ubrig, dass ihn der Denunziant aus meinem
„Sozialist"-Artikel „Neue Freunde" ! ) entnommen hat, in dem ich die
Hoffnung aussprach, dass wir in Munchen bald eine „Gruppe Vaga-
bund" haben mochten. Jedenfalls freue ich mich heute schon auf
') Der rein private Charakter der Unterhaltung mit meinem
Bruder veranlasst mich, die folgenden detaillierten Aufzeichnungen
des Tagebuchs auszulassen.
') Vgl. „Sozialist". Jahrg. I, Nr. 12 vom 1. August 1909.
— 108 —
die Konfrontierung mit dem Burschen, der sich mir da als erfinderi-
scher Spitzel prasentieren wird '.)
Das war das Verhangnis alles Weltgeschehens von
jeher, dass neue Entwicklungen, neue Erfahrungen neue Ein-
sichten und neue Kultur nie langsam und sanft daherkamen und im
Uebergang der Generationen allmahlich wuchsen, sondern dass sie
sich elementar Bahn brachen und rucksichtslos zerstorten, was
ihnen hinderlich war. Das ist die ewige Wahrheit von der Unum-
ganglichkeit der Revolutionen und die ewige Entlarvung der revo-
lutionaren Luge. — Und so stand ich nun allein in der kleinen gekalk-
ten Zelle und dachte hin und her und blickte aus dem vergitterten
offenen Fenster in den Garten hinaus und sah, wie die Kinder des
Inspektors oder der Aufseher auf mich aufmerksam wurden und
neugierig hinaufsahen, was fur ein merkwilrdiger langhaariger, selt-
sam aussehender Gefangener da im Gewahrsarn ihrer Vater war. Und
die Zeit ging hin, und ich fragte mich, warum ich wohl so endlos
lange warten mlisste, bis ich wieder zurlick dilrfte in meine Zelle
Nr. 42.
Endlich kam der Kahlschadel und hiess mich barsch ihm folgen.
Beim Gefangnisbliro setzte er mich ab, wo ich ordentlich beruhigt war,
das gutmutige Gesicht des Inspektors wiederzusehen Ich begrilsste
ihn und wollte durchs Btiro zur Treppe gehen. Da sagte er: „Sie
kriegen eine andere Zelle, Herr Muhsam. Lassen Sie Ihre Sachen
nur gleich nach 48 bringen. Sie konnen gleich umziehen." Ich
ging (die Treppen hinauf und konstatierte nach der Uhr, dass mich
der Glatzkopf liber eine Stunde in dem kleinen Loch allein gelassen
hatte, ganz sinn- und zwecklos, und offenbar nur, um seine Macht
zu zeigen.
Inzwischen hatte der Inspektor die Aufseher verstandigt, Gies-
mann wurde heraus geholt, und der Umzug wurde in weniger als
zehn Minuten vollzogen. Ich nahm mein bischen Schreibpapier und
die beiden Bticher, Giesmann brachte das ubrige, die Decken und
Bettiiberzuge. Das alles wurde in der grossten Behendigkeit ein Stock-
werk hoher in Zelle 48 wieder gebrauchsfertig gemacht.
Als ich die Zelle betrat, war ich in der Tat geblendet von ihrer
Pracht. Zwar war sie um nichts breiter als Nr. 42, aber erstens um
mindestens einen Schritt langer, und dann — was fur ein herrliches
Fenster ! Und ein richtiger Tisch! Und ein Stuhl! Und ein
ganzes Waschgeschirr im Metallgestell ! Ich will die Herrlich-
keiten einzeln beschreiben. — In der dem Zelleneingang gegenuber-
') Hier folgen wieder langere Betrachtungen ganz personlicher
Art, die sich fur die Veroffentlichung nicht eigenen. Nur die allge-
meinen Schlusssatze drucke ich ab.
— 109 —
liegenden Winkel steht der viereckige Tisch, ein richtiger Kuchen-
tisch, in dem ich zu meiner grossten Freude eine ausgiebige Schub-
lade entdeckte, die jetzt meine Zigarren und mein Schreibpapier ent-
halt. Der Tisch fullt genau den Raum zwischen den beiden Wanden
links und rechts aus und liegt mit der Breitseite an der Hinterwand,
Unmittelbar iiber dem Tischrand erhebt sich, und zwar in der Hohe bis
zur Decke, das Fenster, dessen oberes Drittel halb aufgeklappt ist.
Vom Rande dieses Teils hangt wie ein Damoklesschwert eine Holz-
stange so dicht iiber mir, dass ich beim Aufstehen vom Stuhl stets
in Gefahr bin, sie mir in den Schadel zu rammen An dieser Stange
kann man das Fenster nach Bedarf schliessen Da die Zelle hin-
reichend geheizt ist, hat sich dieser Bedarf fur mich noch nicht er-
geben. (Fortsetzung folgt).
Gedichte.
Testament
Nein, ich will nicht eher zu Grabe,
eh ich nicht auch die letzten Sprossen
irdischen Gliickes erstiegen habe, —
eh ich das Leben nicht ganz genossen;
eh ich nicht alle Frauen umschlungen,
die mich durch meine Trdume begleiten,
eh ich nicht alle Lieder gesungen,
die sich in meinen Schmerzen bereiten;
eh ich nicht alle Werke gestaltet,
die sich den schaffenden Geiste entbinden,
eh ich der Fiihr er-pflicht nicht gewaltet,
dass die Menschen ihr Wegziel finden;
eh ich nicht frohliche Augen sehe,
die von Erhebung und Stolz verfangt sind;
eh ich nicht iiber Acker gehe,
die statt mit Tranen mit Freude gedilngt sind
Nimmt der Erloser dann und Vernickte
von meinen Tagen die lastenden Ketten,
sollt ihr den seligsten Menschen und Dichter
tief in befreites Erdreich betten.
— 110 —
Moses Tod.
Und Moses blickte ins gelobte Land
und sah es siiss von Milch und Honig triefen,
und sehnte sich vom Berge in die Tiefen,
wo Israel, sein Volk, die Heimat fand.
Und Boten trugen Aehren her und Wein.
Kundschafter -priesen Saaten, Land und Fliisse,
und Jubel gabs im Volk und Tanz und Kiisse, —
und Moses sah und durfte nicht hinein.
Da beugt er sich zu brunstigem Gebet
und sprach zu Gott: „Du hast mich hart getroffen.
Des Menschen Himmel ist allein sein Hoffen.
Doch wehe, wem ein giinstiger Wind sich drehtl
Der du den Lebenden die Sehnsucht gabst,
nie wieder tdusch den Schwarmer, der dir traute.
Den Trank, der sich aus Schaum und Traumen braute,
giess ihn nicht aus, eh du den Durstigen labstl
Gott! Hilt dich, dass der Mensch sich nicht emport !
Wo Funken gliihen, schiire sie zu Flammen!
Wo Herzen lieben, fiihre sie zusammen!" — —
Und Moses starb. — Gott hat ihn nicht erhort . . .
Bemerkungen.
Die Teuerung. Die Frilchte der Felder sind durch die mass-
losen Regenglisse des Sommers verfault. Die Missernte ist all-
gemein. Zu dieser Not kommt der unertragliche Mangel an Vieh.
Denn die gesegneten Gesetze des Landes pramiieren die Ausfuhr
und verhindern die Einfuhr von lebendem Essfleisch. Nicht ein-
mal Gefrierfleisch darf ilber die deutschen Grenzen. Die Vieh-
zuchter im Reiche haben ein Interesse daran, dass das Volk,
das Objekt aller Gesetzgebung, den Ertrag seiner flir die Herren
geleisteten Arbeit, ausschliesslich zu ihrem, der Gesetzgeber, Nutzen
in Nahrung umsetzt. Die Unfahigkeit der Viehziichter, das Volk
ausreichend mit Fleisch zu bedienen, andert nichts an diesem In-
teresse, und tritt eine Hungerkrise ein, wie wir sie augenblick-
lich erleben, so knurrt ja nicht der Magen dessen, dem das Elend
der Massen Bedingung zum eignen Wohlstand ist.
— Ill —
Die politischen Vertreter des Proletariats fordern laut und ein-
dringlich die Oeffnung der Grenzen, die Aufhebung der Einfuhr-
scheine und die Zulassung von auslandischem Konservenfleisch,
Das ist ganz schon, und zweifellos wird der entsetzlichen Hungerei
dadurch im Augenblick ein wenig abgeholfen werden. Das Volk
hat aber gar kein Interesse an billiger Nahrung, es hat
nur Interesse an reichlicher und guter Ernahrung. Sind die Preise
fur die wichtigsten Erhaltungsmittel hoch, so hat die Arbeiter-
schaft ja die Macht, die Kaste, die die Preise bestimmt, zu zwingen,
entsprechend hohere Lohne zu zahlen. Hatte jede Preissteige-
rung die allgemeine Forderung nach hoheren Lohnen, die stets
durch wirtschaftliche Machtmittel unterstiitzt werden kann, zur
Folge, dann wiissten die herrschenden Machte recht gut die Mog-
lichkeiten zu finden, die keine Teuerung zulassen. Aber vor So-
zialdemokraten von Massenstreik zu sprechen, der auf andere Dinge
als auf Wahlrecht abzielt, ist bekanntlich Volksverrat und Spitzelei,
Die Initiative dieser Leute erschopft sich nach wie vor in Resolutio-
nen und in Antragen an die Majoritat solcher Korperschaften, in
denen sie selbst Minoritat sind. Was sie damit erreichen, erkennt
man am besten aus dem Geschimpf, mit dem sie nach monatelanger
Anstrengung, die Hungersnot zu beseitigen, immer noch ihre
Blatter fullen. Konnte man die Abnahme der nachts auf den Da-
chern patrouillierenden Katzen statistisch feststellen, dann erhiel-
ten die. segenvollen Zustande, in denen wir leben, eine besonders
liebliche Illustration. — Es ist iibrigens unbegreiflich, dass die
Regierungen und ihre Auftraggeber, die Grossgrundbesitzer, das
Abschlachten von Katzen und Hunden noch nicht als eine Um-
gehung der Zollgesetze unter Strafe gestellt haben. — Sie konn-
ten sich dabei wie beim Saccharin getrost auf den Standpunkt der
offentlichen Gesundheitspflege stellen. Denn das Volk stirbt viel hy-
gienischer an Hunger als an madigem Fleisch.
Die tapferen Eisenbahner. Im bayerischen Landtag haben die
Herren Sozialdemokraten lebhaft mit dem Verkehrsmimster darum
gestritten, ob die Eisenbahnarbeiter das Recht zum Streiken haben
sollen oder nicht. Herr v. Seidlein erklarte schliesslich, er werde
sich kiinftig von jedem Arbeiter einen Revers unterschreiben lassen,
dass er auf ein Streikrecht keinen Anspruch mache. Man mag ja
der Ansicht sein, dass ein Streik mit Revers und ohne moglich ist.
Denn, wenn einer oder zwei oder zwanzig oder zehntausend eines
Tages nicht zur Arbeit kommen, dann kann keine Gewalt sie zwingen,
ihren blauen Tag zu unterbrechen. — Aber dem „Suddeutschen
Eisenbahner- Verband", einer der Sozialdemokratie eng verschwa-
gerten Gewerkschaft, war der Schrecken doch in die Glieder ge-
fahren. Diese tapfere Gesellschaft hat die ganze Rederei der sozial-
demokratischen Spielkameraden Rederei sein lassen und ist win-
selnd zu Kreuz gekrochen. Sie hat namlich dem Minister offiziell
mitgeteilt, dass sie filr ihre Anhangerschaft aus freien Stricken
auf das Streikrecht verzichte, dass sie die Bedenklichkeit eines Eisen-
bahnerstreiks filr die allgemeine Wohlfahrt einsehen und solchen
Streik fur ein gesetzlich unzulassiges Vorgehen halte.
Der Fall ist ohne Beispiel, selbst in der deutschen Arbeiter-
bewegung. Die „Munchener Post" sogar lehnt den jammervollen
Wisch des Verbandes ab. Eine Gewerkschaft verzichtet aus Angst,
- 112 -
ihre Organisation, von der eine erhebliche Zahl wohldotierter Be-
amten leben, konne in ihrem Bestand Schaden leiden, freiwillig auf
das wichtigste Arbeiterrecht und unterstellt ein Gesetz, das von den
wlistesten konservativen Schreiern seit langer Zeit mit andauern-
dem Misserfolg angestrebt wird, als gegenwartig rechtsglilttig. Die
sozialdemokratischen Zeitungen und die zentralistischen Gewerkschafts-
blatter mogen sich noch so heilig entrilsten liber das Verhal-
ten des Sliddeutschen Eisenbahnerverbandes: Dessen Klaglichkeit
bleibt doch immer die Folge ihrer energielahmenden Verstandigungs-
politik. Die Tariftaktik der deutschen Gewerkschaften bedeutet
schon zur Halfte den Verzicht auf das Streikrecht. Man rege sich nicht
auf, wenn eine Gewerkschaft in ihrer Devotion vor dem Arbeitgeber
Staat sich nun vor aller Welt in die Hosen macht.
Amtisant ist die nachtragliche Enthilllung, dass der Minister
v. Seidlein die Winselei des Verbandes langst kannte, als er seine
Philippika gegen die Anmasslichkeit der Eisenbahner hielt. Den
Fusstritt haben die organisierten Schlappschwanze redlich verdient.
Herve, der Renegat. Gustave Herve ist in sich gegangen. Im
Gefangnis ist ihm die Einsicht aufgedammert, dass die Gedanken, filr
die er litt, falsch seien. Die Justiz hat ihren grossten Triumph
erlebt. Sie hat einen verstockten Sunder gebessert. Wegen seiner
antipatriotischen Gesinnung wurde Herve eingesperrt. Als Patriot
hat er das Gefangnis verlassen. Zur Zeit begrussen die Sozialdemokra-
ten den vernlinftig gewordnen Mann frohlich in ihrer Mitte. Dem-
nachst werden sie ihn wohl in die Kammer entsenden. Und von dort
aus ist der Weg ja vorgezeichnet. Aristide Briand hat ihn zu
finden gewusst — warum sollte Gustave Herve ihn verfehlen ? Eines
Tages werden wir den Antimilitaristen, der bisher die Insurrektion
mit Hilfe des „Citoyen Browning" gepredigt hat, als Kriegsminister
der Republik das Schaffort fur Deserteure empfehlen horen. —
Es tut weh, einer Personlichkeit, deren Lebensweg man stets mit
freudiger Zustimmung begleitet hat, plotzlich seine Verachtung und
seinen Ekel aussprechen zu mlissen.
Vom Hofe. Schliesslich hat es doch den traurigen Ausgang
genommen Erst vor ein paar Wochen hat Prinz Georg die schone
Rede fur die Jesuiten gehalten, und nun ist ihm seine junge Frau
abgereist und will nicht wiederkommen. Wo wir uns liber das Ehe-
gllick des Prinzen Georg schon alle so gefreut hatten. Vorerst sind
sich die liberalen Zeitungen nicht ganz einig liber die Grlinde, die
die Prinzessin Isabella nach Wien zurlickgetrieben haben. Die Lesart,
dass sie infolge unliberwindlicher Abneigung gegen ihren Mann ent-
flohen sei, verdient natlirlich keinen Glauben. Es muss schon etwas
Ernsteres passiert sein. Und richtig: es hat sich herausgestellt, dass
Prinzessin Isabella genotigt wurde, hinter der Prinzessin Gisela zu
Tisch zu gehen. Dadurch erklart sich naturlich alles. — Wie das
„Berliner Tagblatt' femer meldet, ist Prinz Georg aus Gram in das
dritte Stockwerk der Residenz gezogen. Nebbich!
Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, MCinchen, Akademiestrasse 9.
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaflssk'lk' Miinchen, Baaderstr. la. Tei.2355
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den, illustrierten Bandes heben wir hervor:
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Sozialismus. — Pierre Ramus: Aus den Folterkammern des Staates. —
Aufruf der Internat. Antimilitarlsohen Assoziation: An die Rekruten Frank-
reichs ! Fritz Brupbacher: Die Autgaben des Anarchismus im demokratischen
Staate. — Otto Karmin: Syivain Marechal und die Verschworung der
Gleichen. — Alexander Berkmann: Der Fehlschlag des Kompromisses
zwischen Jdeal und Wirklichkeit — Andreas Kleinlein: Der Syndikalismus
in Deutschland. — Domele F. Nieuwenhuis: Aus dem Leben eines revo-
oo lutionaren Kampfers etc. etc. oo
Einzelexemplar (inkl. Porto) Mk. 1 — , bei Bezug von 3 Exempl. fur
insges. Mk. 2.25.
Samtliche Gel d s e ndu ngen richte man an :
Rudolf Grossmann, Klosterneuburg (bei Wien)
Kierlingerstr. 183, Nd.-Oesterreich.
Jahrgang II. No. 8. November 1912
KMN
Zeif/chrifffur
rien/ch(ich(\eir
HemuJgeber;
(rich Huh/am
Inhalt: Fur den Frieden. — Miinchener Theater. — Tagebuch aus
dem Gefangnis. - Bemerkunken. — Gerhart Hauptmann. — Wenn
der bayerische Lowe briillt. — Lieb Vaterland. — Schlechte Manieren.
Kain-Verlag Munchen.
3Q Pfg.
Die Schaubuhne
Herausgeber:
Siegfried Jacobsohn.
Stimmen der Presse:
Die Zukunft. Die Schaubuhne ist d'e beste deutsche Theater-
zeitschrift, die wir besitzen; eine der am wurdigsten redigierten Zeit-
schriften. Ein Golfstrom: Lebendigkeit, Wa'rme, Geistigkeit, Kampf,
Witz, Seele geht von ihr aus.
Dresdener Anzeiger. Nach acht Jahren des Bestehens
dieser Zeitschrift, die damals bereits an dieser Stelle mit Anerkennung
begriisst wurde, muss nachdrlicklich betont werden, dass wir in
Deutschland jetzt keine Theaterzeitschrift haben, die der Schau-
buhne an S c h a r f e und Weitsichtigkeit des Urteils, an gediegenen und
glanzenden Aufsatzen vorangestellt werden kann. In jahrelagner auf-
merksamer Prufung hat sich dieses Urteil bei uns befestigt. Jeder
Freund einer ehrlichen, freien und eindringlichen Kritik wird die
Schaubuhne mit Genuss und reichlichem Nutzen lesen.
Han nover scher Courier. Recht verschiedene Geister
sind es, die sich hier im Rahmen einer Zeitschrift zusammenfinden,
aber eins eint sie: sie alle reden mit durchaus persbnlichen Ak-
zenten, es sind namlich Leute, die ihrem eigenen Instinkt lieber
folgen als dem Instinkt der Masse. Manche sprechen geradezu im
Ton der Leidenschaft, des Fanatismus. Der Inhalt des Blattes
ist in hohem Grade mannigfaltig; auch die Form unterhaltsam und
abwechslungsreich.
Mannheimer Generalanzeiger: Die Schaubuhne ist
von alien Theaterzeitschrift en die aparteste, lebendigste und an-
Siegfried Jacobsohn g ib t sie heraus. Er ist von denen,
iiber Theater schreiben, der einzige, der wirklich Kritik
regendste.
die h e u te
hat.
N e u e
redigierte s ,
f e m e r mit
menhangt.
Zuricher Zeitung. Die Schaubuhne ist ein frisch
inhaltlich anregendes Organ fur alles, was naher oder
der Buhne in deutschen Landen wie im Ausland zusam-
Sie ist eine jener Zeitschriften, die man stets gerne in die
Hand nimmt, weil man stets sicher ist, irgend etwas zu finden, was
Interesse und Nachdenken weckt.
Leipziger Tageblatt. Die Schaubuhne verdient das Lob,
eine unsrer besten Zeitschriften und unter denen, die sich mit dem
Theater- und der dramatischen Kunst beschaftigen, weitaus die beste
zu sein.
Vierteljahrlich M. 3.50, jahrlich M. 12. — , Einzelnummer 40 Pfg.
Einmonatiges Probe-Abonnement gratis und franko.
Verlag der Schaubuhne ?"tH£EE! , S™
Jahrgang 11 Munchen,
No. 8. November 1912.
KAIN
Zeitschrift fur Menschlichkeit.
Herausgeber: Erich Miihsam.
J| tl II Rl l-IUi l. l.M * i k.i li II I I II I II I >l : ii.i.i.ii.j.i.Hi i.<i. 1. 1 r.t~rT^. i. I ■* |,.j I I ilT 1-4 i.i-irr
„ K A I N ' erscheint im Monat einmal. Der Preis betragt
fiir das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne-
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag"
Munchen, Baaderstrasse la
Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber.
Mitarbeiter dankend verbeten.
Fiir den Frieden.
Der Friedenspfeife der europaischen Staaten ist ein
Funke davongeflogen. Der hat den Benzinbehalter am
Balkan explodieren lassen, und nun steht GroB und Klein
neugierig und von einem wolliistigen Schauder gekitzelt
in gemessener Entfernung um den dicken Pulverturm
herum und wettet, ob inn das Feuer wohl erfassen werde
oder ob man in ihm weiterhin das europaische Gleich-
gewicht stabiliert sehen diirfe. Die geaichten Patrioten,
die nichts Geistiges zu verlieren haben, spucken schon in
die Hande und freuen sich auf den frisch-frohlichen Krieg
gegen die Nachbam, die im Moment, wo es losgeht, zu
Erbfeinden avancieren werden. Vaterlandische Schor-
nalisten kriimeln aus dem Zettelkasten der stereotypen
Redewendungen den wohltatigen Aderlass hervor. Der
Burschoa sichtet seine Papierchen und richtet seine Speku-
lation auf Baisse ein. Die Manner in der Bluse lassen
den drohnenden Schritt der Arbeiterbataillone horen,
begeben sich in musterhafter Disziplin zum Meeting in
einen benachbarten Vergniigungspark, nehmen — einige
hunderttausend klassenbewuBte Manner und Frauen —
— 114 —
einstimmig eine Resolution an, in der sie den Krieg fur
kulturlos erklaren und die Einberufung der Abgeordneten
fordern, die das noch einmal sagen sollen. Dann begeben
sie sich in bewundenswerter Ordnung nach Hause.
Manche meinen auch, es sei noch nicht so gefahrlich.
So schnell schieBen die PreuBen nicht. Gut Ding will
Weile haben. Es wird nichts so heiB gegessen, wie es
aufgetragen wird. Was geht's uns an, wenn unten weit
in der Turkei die Volker aufeinanderschlagen? Kommt
Zeit kommt Rat. Wie gehts Hinen derm sonst?
Wir leben in einer triiben Zeit, der im Denken und
Wollen faulsten, die die Geschichte erlebt hat. Der Ehr-
geiz der Volker strebt nach der technischen Vollkommen-
heit der Kriegswaffen. Die Beziehungen der Nationen
regeln sich nach den Tolpeleien, die den aller Aufsicht
entriickten Diplomaten und Botschaftem in ihrem Dauer-
schlaf passieren. Die Massen werden politisch geschult,
indem ihnen ein schwachliches Parteiprogramm als Gummi-
schnuller in den Sabbermund geschoben wird. In den
Schulen und auf den Bierbanken werden die Ideale ge-
predigt, an denen schon vor 1870 das Talentchen des
seligen Professors Emanuel Geibel verkrachte. Ueber jede
junge Begeisterung aber, iiber alles frische Trachten nach
Leben, Bewegung, Freiheit, Schonheit, Gliick fiihrt die
senile Erfahrenheit klapperiger Oberlehrer den schabigen
Wischlappen einer tragen Geschaftsmoral.
Und die Jungen lassen sichs gefallen. Sie kommen
gamicht darauf, daB die Weisheiten, die man ihnen ein-
paukte, kritikfahig sind. Weil die Alten es ihnen so
sagten, glauben sie an den Gott, der uns Menschenkinder
an der Strippe fiihrt und uns nach Belieben iiber Graber
hopsen oder hineinplumpsen laBt. Sie finden es ganz in
der Ordnung, daB ihre Liebe den Alten ein Rechen-
exempel, ihr Beruf eine Spekulation, ihr Lebenswandel
ein Borsenpapier bedeutet. Die Jugend unserer Tage hat
keinen Stolz, kem, Selbstvertrauen, keinen Mut. Sie furchtet
— 115 —
den Rohrstock der vorigen Generation und plappert darum
nach, was das brave Kind wissen soil, bis sie es glaubt,
bis sie alle bessere Einsicht, alles natiirliche Gefiihl, alien
jungen Leichtsinn verdrangt hat und selbst alte Generation
geworden ist.
Was aber den jungen Menschen dieser Zeit am
bittersten fehlt, das ist die Fahigkeit zur Leidenschaft,
zum Zorn, zur Ergriffenheit. Der Verlauf der Gegen-
wartsgeschichte ware ein vollig anderer, wenn die offent-
lichen Begebenheiten nicht so sehr auf kritischen Verstand
als auf kritische Herzen Riicksicht zu nehmen hatten.
Die gemeinsten Schandlichkeiten, die in aller Welt ge-
schehen, werden mit einer Niichternheit und inneren
Teilnamslosigkeit diskutiert, daB man an jeder Aktion, die
Empfindung, Hingabe, Seele verlangt, fur alle Zukunft ver-
zweifeln mochte. Unser indolenter Nachwuchs aber glaubt
sich .vorurteilslos, weil er temperamentlos ist, und hat
keine Ahnung, daB er Opfer jener kalten, fatalistischen
und im Grunde tiefphilistrosen materialistischen Geschichts-
auffassung ist, die alle Handlung als naturgewollt und der
EntschlieBung des individuellen Willens entriickt ausgibt.
Das briistet sich mit unverstandenem Nietzsche, heiBt sich
amoraUsch und turnt jenseits von Gut und Bose an unso-
zialen Begriffsbarren herum. Es ist hohe Zeit, daB die
Werte Gut und Bose wieder Eingang linden in die Gefuhls-
welt der jungen Leute. Sie miiBten nur den Pfaffen und
Advokaten entrissen werden und im Sinne von Sozial
und Unsozial die Ethik der Wertvollsten stiitzen, dann
konnten sie dem klugen Kritizismus unserer Zeit sehr
wohl die Warme geben, die zu seiner Umsetzung in
forderliche Taten notig ware.
Man horche nur in den Zirkeln der Jeunesse doree
herum, wie schnuppig bei aller Heftigkeit und Lebhaftig-
keit der Erorterungen die gegenwartigen Vorgange auf
dem Balkan und die daraus hervorquellenden Moglichkeiten
behandelt werden. Der Rassentheoretiker, der allemal
— 116 —
zugleich Entwicklungspolitiker ist, begriiBt freudig die
Energie der verbiindeten Slavenvolker, die endlich die
verhaBte, kulturlose, degenerierte, erbarmliche Osmanen-
bande aus Europas benedeitem Zivilisationsbezirk ver-
treiben werde. Der gewitzte Realpolitiker bekennt sich
dagegen als deutscher Nationalist und legt — sehr viel
gescheiter, aber frei von jeglicher sachlichen Beteiligung —
dar, wie schreckliche Folgen eine Niederlage der Tiirken
fur das Deutsche Reich haben miiBte. Derm die sieg-
reichen Balkanstaaten wiirden sich zu einem machtigen
Bundesstaat vereinigen, Oesterreich bekame dadurch eine
starke GroBmacht in den Riicken und ware als Bundes-
genosse fur Deutschland ganzlich entwertet, das nach alien
Grenzen hin absolut isoliert dastande. Argumente fur
den Volkerfrieden, die vom reinen Gefuhl diktiert werden,
werden von beiden mit gleicher Verstandnislosigkeit an-
gehort. Die Menschlichkeit hat als uberzeugende Kraft
in unseren Zeitlauften langst ausgedient.
Wie steht es derm aber wirklich mit der ganz Europa
beschamenden Kulturlosigkeit der Tiirken? Wahrscheinlich
nicht gar so arg, wie es gemacht wird. Zunachst ist es
eine gehnde Falschung, die Tiirken ohne weiteres mit den
Osmanen zu identifizieren. Die Rasse ist von arabischen,
tscherkessischen, slavischen und romanischen Elementen
langst so griindlich durchsetzt, daB die Schwatzer, die mit dem
Maul ein ganzes verkommenes Hunnenvolk auszurotten
scheinen, genau so geschmacklos daherreden wie ihre
Gegner, denen alle Serben, Bulgaren, Montenegriner und
Griechen nichts anderes als verlauste Hammeldiebe sind.
Der Verlauf des Krieges soil jetzt die Untiichtigkeit der
Tiirken evident beweisen. Dem kann wohl entgegnet
werden, daB Kriegstuchtigkeit nicht im mindesten ein
Kriterium fur den sittlichen Wert eines Volkes ist. DaB
es den Tiirken weder an Mut noch an Entschlossenheit
gebricht, haben sie vor ganz wenig Jahren gezeigt, als sie
in der kiirzesten, unblutigsten und zielklarsten Revolution
— 117 —
sich demokratische Einrichtungen schufen, die dem PreuBen,
das zur Ausbildung tiirkischer Soldaten Offiziere auslieh,
noch lange fromme Sehnsucht bleiben werden. Es sei
daran erinnert, daB dasselbe Osmanenvolk, das jetzt als
Ausbund letzter Klaglichkeit gemalt wird, dermaleinst vor
den Toren Wiens gestanden hat, daB es in den letzten
vierzig Jahren eine Reihe von Verteidigungskriegen gefuhrt
hat und im Augenblick, da es noch mitten im Kriege
gegen eine europaische GroBmacht begriffen war, von den
landhungrigen Nachbarn angegriffen wurde.
NatiirUch haben die aggressiven Herren Konige, von
denen nur zwei iiberhaupt Landsleute ihrer Untertanen
sind, nicht verabsaumt, durch die Berufung auf sein Kreuz
das Andenken des ersten Christen zu schanden. Diesen
Beauftragten gewissenloser GroBspekulanten war es nicht
zu schabig, fur ihr straBenrauberisches Beginnen, fur den
tiickischen Ueberfall auf ein geschwachtes Land, dem man
noch nicht einmal Zeit lieB, sich in den durch die Re-
volution neu geschaffenen Verhaltnissen zu orientieren,
fur die Hinmordung zehntausender junger Menschen, fur
die Brandschatzung ganzer Landstriche mit alien unver-
meidhchen Schweinereien an Notzucht und Greisen- und
Kindermord, — diesen gottgesalbten Potentaten war es
nicht zu schabig, fur all das Entsetzliche des Raubzugs
die Friedens- und Liebeslehre des Christentums zum Vor-
wand zu nehmen. — Und die man bei uns auf diese
Niedertracht aufmerksam macht, finden sie ganz selbstver-
standlich und sehen nicht ein, warum man im Bauernvolk
die Leidenschaft nicht mit Scheingriinden erhitzen soil,
da die wahren Motive fur den Krieg bei der unverdor-
benen Masse ja doch nicht auf Verstandnis rechnen konnen.
Ich will mir den Vorwurf des krassen Dilettantismus
in politischen Dingen gem gefallen lassen, wenn ich nun er-
klare, daB meine Sympathie sogleich auf Seiten der slavischen
Balkanvolker (nicht ihrer Konige) sein wird, wenn Oester-
reichs begehrlicher Langfinger in die Morderei eingreift.
— 118 —
ein Raubzug um exploitierfahige Landstrecken sein, sondern
ein revolutionares Aufbegehren gegen die auf Geld- und
Militaruberlegenheit trumpfende Rauberei europaischer
Sklavenjager. — Wird es dazu kommen? Wird die oster-
reichisch-ungarische Volker-Koalition wirklich die Verant-
wortung tragen wollen, um die direkte Nachbarschaft mit
der Tiirkei zu retten, den entsetzlichsten aller Kriege
heraufzubeschworen ?
Hatten die unter Habsburgs Szepter vereinigten Volker
zu entscheiden, dann brauchten wir nichts zu flirchten.
Aber die haben Steuern zu zahlen, zu gehorchen und ihr
Blut zu lassen. Aus sittlichen Griinden werden die Wiener
und Budapester Regierungen gewiB nicht zaudern, ihre
Slavenvolker gegen die Slaven des Balkans marschieren
zu lassen. Die letzte Entscheidung iiber Krieg oder Frieden
haben heutzutage die Borsen und Bankhauser. Da werden
Gewinn- und Verlustchancen — nicht nach Menschen-
sondern nach Geldwerten — berechnet, und verspricht
nach der Kalkulation der Krieg fur die Millionare ein
Geschaft zu werden, dann wird zur Attacke geblasen, dann
werden hunderttausende kleinere wirtschaftUche Existenzen
vernichtet und hunderttausend kraftige junge leistungsfahige
Manner hingeschlachtet — fur die Ehre des Vaterlandes.
Geht es aber los, das wissen wir alle, dann wird es
ein Weltkrieg, wie er furchterlicher noch niemals gebrannt
hat. Derm Oesterreich hat nicht gegen die Serben zu
kampfen, sondern gegen die Russen. Fur Deutschland
und Frankreich werden die Biindnispflichten akut, und
weil ein paar Wiener Bankiers den Serben ihren "Korridor"
zum Meer, den Sandschak-Novibazar nicht glauben gonnen
zu diirfen, werden in ganz Europa, in Westen und Osten,
alle Ungeheuer der Kriegswissenschaft lebendig, namen-
loses Elend erfaBt alle Volker, Leben und Werte werden
zerstort, Familien, Dorfer, Stadte und Provinzen gesprengt
und Kultur und Gesittung, wo sich ihre knospenden An-
— 119 —
Dann narnlich wird der Kampf dieser Nationen nicht mehr
lagen finden mogen, entwurzelt und ausgerodet.
Vielleicht ist — wenn diese Hefte ausgegeben werden —
der Brand schon ausgebrochen; vielleicht hat sich das
Gewitter, dessen Blitze den Horizont in dieser Stunde schreck-
haft verzerren, inzwischen verzogen. Ist das erste der
Fall, marschiert unsere kraftigste Mannschaft schon um
eines Nichts willen in den Tod, dann bedarf es keiner
zornigen und warnenden Worte mehr, dann agitiert
die scheuBliche Kriegsbestie unter der sterbenden Jugend
wirksamer fur den Volkerfrieden, als alle revolutionare
Sehnsucht es je vermochte. Ist es aber noch Zeit, hat
die gesegnete Angst der Lander voreinander, und die
dreimal gesegnete Angst mancher Regierungen vor Insur-
rektion und Revolution das Schreckliche verhindert, dann
mag unser geistiges Volk und alien voran unser junges
Volk erinnert werden, daB es not tut, den von Borsen
und Regierungen drohenden Gefahren den Willen zu einer
neuen Kultur entgegenzustellen. Der Weg zu neuer Kultur
fuhrt iiber Zom und Leidenschaft. Ihre Bedingung ist
Freiheit von den Traditionen und Konventionen der Eltern,
Verachtung der Schulideale, HaB gegen Knechtung und
Krieg und Wille zum Schonen, Wesentlichen und Wahren.
Miinchener Theater.
Die Entwicklung des Lustspielhauses vom Grossen Wurstl zu
den Mlinchner Kammerspielen ist vollendet. Warum einem Theater,
das in zweijahriger Wirksamkeit ausser Tschechows „M6ve", Strind-
bergs „Vater" und Heinrich Manns „Unschuldige" doch eigentlich
keine Leistung gezeigt hat, die einige seelische Erschutterung bewirken
konnte, der anspruchslose Name Lustspielhaus nicht genligte, ist
schwer einzusehen. Aber meinetwegen auch Munchner Kammer-
spiele. Man durfte neugierig sein, mit welchem Werk Herr Dr.
Robert die neue Wurde seines Hauses zuerst dokumentieren werde.
Der Weihrauch, der dem Lustspielhaus bisher ilberreichlich ge-
spendet wurde, wird jetzt mit dem feierlichen Namen des Theaters
ausdrilcklich verlangt, und die Direktion wird sich bewusst gewesen
sein, dass sie infolgedessen eine Kritik von hoheren Ansprilchen her-
ausfordere, als sie einstmals dem Grossen Wurstl zukamen. Die
— 120 —
Wahl des ersten Stuckes ward offenbar vom Zeitgeschmack entschei-
dend mitbestimmt: sie fiel auf „Das Leben des Menschen", ein Spiel
in ftinf Bildern von Leonid Andrejew.
Das Werk des Russen ist ein Mysterium. Ich gestehe, dass ich
den Verdacht nicht loswerden kann, diese Eigenschaft habe dem Stilck
zur Annahme in den Kammerspielen verholfen. Mysterienspiele ent-
sprechen anscheinend zur Zeit einem Publikumsbedtirfnis. Ich mochte
mit dem Bekenntnis nicht hinterm Berge halten, dass ich im Theater
wesentlich andere Bedlirfnisse befriedigt zu sehen wlinsche. Wir sind
mit Mysterien nachgerade uberfuttert. Von den Oberammergauer
und Erler Passionspielen ganz abgesehen: zuerst kam das immer noch
naive und infolge seiner brillanten Inszenierung und seiner Singularity
recht interessante alte Spiel von Jedermann. Dann kungeltem vom
aller Herren Lander die Reinhardtschen Erfolge mit Vollmollers
„Mirakel" herilber. Uns Mlinchnern ist dieses Opus ja bis jetzt freund-
lich vorenthalten geblieben, aber wir wissen genug, wenn wir der
Begeisterung des Wiener Eucharisten-Kongresses gedenken, dessen
Geschmack anscheinend ausgezeichnet entsprochen war. Uns Milnch-
nern hingegen allem war der schandhafte Prinz beschieden — und
nun auch noch das Unglilck in der Augustenstrasse. Wir haben ge-
nug. Wir danken bestens. Wir wollen im Theater Dramen sehen,
keine Allegorieen.
Ein Drama charakterisiert sich dadurch, dass in ihm Typisches
am Einzelfall dargestellt wird. Die — von Andrejew geiibte — Personi-
fizierung des Typus ist undramatisch und darliber hinaus unklinst-
lerisch. Da tritt der Mensch auf — schlechtweg der Mensch. Kein
Individuum etwa, kein Besonderer, kein von einem einzelnen Schick-
sal aus der Masse gestellter Mensch, — nein: der Mensch, als natur-
geschichtliche Spezies, wie der Hund, die Schlange, das Glirteltier.
Und um ihn herum seine Gattin, seine Freunde, seine Feinde, seine
Gaste, und noch etliche Abstrakta in menschlicher Gewandung: nam-
lich die alten Frauen, die Parzen ahnlich, seine Geburt und seinen
Tod begreinen und den Klatsch, das Ungllick, den Neid und falle
bosen Dinge versinnbildlichen. Und dann ist da ein Jemand in
Grau. Der spricht zuerst einen Prolog, in dem erzahlt wird, was wir
auch vorher wussten, dass der Mensch geboren wird, dass es
ihm manchmal gut geht und manchmal schlecht, und dass er am Ende
seiner Tage stirbt. Dieser Werdegang wird nachher in filnf Buh-
nenbildern im Einzelnen vorgefiihrt, und der Jemand in Grau steht
die ganze Zeit dabei und hat zum Zeichen, dass das Leben zum Schluss
hin immer klirzer wird, eine brennende Kerze in der Hand, die bei der
Geburt des Menschen mordslang ist, dann von Akt zu Akt weiter her-
unterbrennt, bis in dem Moment, wo der Mensch — naturlich in einer
Budike unter lauter Besoffenen und selbst total heruntergekommen -
— 121 —
endlich stirbt, der Jemand in Grau den kleinen Kerzenstummel zu
aller Befriedigung auspustet. Ich kann wohl sagen, eine banalere
Symbolisierung des menschlichen Lebens ist mir denn doch noch nicht
vorgekommen. Das Publikum sass naturlich in tiefer Ergriffenheit
dabei: Es war doch so poetisch!
Im Besonderen bietet das Stuck nicht viel mehr Erfreuliches als
im Gesamten. Dass gleich zu Anfang der Zuschauer Ohlrenzeuge einer
Geburt sein muss, ist doch zum mindesten geschmacklos. Wars we-
nigstens rasch erledigt, aber man bekommt die Meinung, dass
hinter der Kulisse mindestens Drillinge aus Licht wollen. Das Schreien
des kreissenden Weibes hort garnicht auf und wird immer arger. Man
ist wahrhaft froh, wenn der Jemand in Grau mit der lebenslanglichen
Stearinkerze erscheint und mitteilt, was man sich schon gedacht hat:
dass der Mensch endlich geboren sei. Die Trivialitat des Vaters des
Menschen und seiner Verwandten zeichnet Andrejew naturgemass am
besten.
Das zweite Bild heisst „Liebe und Armut"'. Der Mensch ist
jungverheiratet und hat mit seiner Frau nichts zu essen. Aber man
liebt sich und ist gllicklich, auch stecken die guten Nachbarn gele-
gentlich ein Stuck Brot ins Zimmer. Ausserdem ist der Mensch ja
Kunstler und Architekt (der tiefer Schauende erkennt auch hier des
Dichters feine symbolische Absicht), da wirds schon werden Und
richtig: der Mensch ist nicht zu Hause und seine Frau schlaft. Da
erhebt der Jemand in Grau seine Stimme und erzahlt, dass der Mensch
jetzt einen Bauauftrag kriegt, und dass nun alle Not aufhoren wird
Immerhin auch eine Art, wie sich Herr Andrejew hier mit einer
Schwierigkeit der dramatischen Gestaltung abfindet.
„Reichtum; Ball beim Manschen". Es ist furchtbar vornehm
bei Menschens geworden. Eine Pracht geradezu. Die Gaste sitzen
herum und bewundem den Reichtum Die Freunde freuen sich und die
Feinde stecken die Kopfe zusammen. Ja, so gehts zu.
Im vierten Bild ist man aber schon wieder im Ungluck. Man ist
alt und tauscht Reminiszenzen aus. Man hat aber auch Hoffnungen
und ein Kind. Das stirbt und wir flirchten fur den Menschen das
Aergste.
In jener schon erwahnten Budike ereilts ihn. Denn so pflegt es
ja im Menschenleben herzugehen, dass man schliesslich im Rinn-
stein verreckt. Der Vorhang fallt, das Publikum ist begliickt und
geht in schwermutigen Betrachtungen fiber die Lehren des tiefen
Werks heim.
Ich leugne nicht langer, dass ich das Stuck zum Speien finde
und dass ich das Publikum im Verdacht habe, mit seinem Applaus die
gelinde Gene zu verbergen, dass as ein Werk des grossen Russen
Andrejew nicht genial finde. Man hat namlich noch in Erinnerung,
— 122 —
dass sein Landsmann Tschechow wirklich ein uberragender Geist
war. — Moglich auch, dass der Beifall der Regie gegolten hat. Mir
personlich war das Werk selbst so peinlich, dass mir auch die glan-
zendste Regie nicht liber sehr unangenehme Empfindungen hinweg,
geholfen hatte. Ich finde aber auch, dass die Regieleistung des
Herrn Dr. Robert zu Ekstasen der Begeisterung keinen Anlasa
bietet. Schon war nur das dritte Bild Die Marionetten der begllickten
Gaste waren komisch und wirksam gesteilt und dirigiert. Auch bot
dieses Bild die erquickende Abwechslung, dass man die Buhne
ilbersehen konnte. Dass man den grossten Teil des ersten Bildes
und das ganze funfte Bild hindurch vor vollstandig dunkler Szene
sitzen musste, verdreifachte die Qual des Abends, fur die ich ub-
rigens den Direktor der Kammerspiele nicht allzuscharf angreifen
mochte. Er hatte nur dem vermeintlichein Zeitgeschmack, nicht bis
zu der Verirrung dieser mystischen Banalitat nachgeben sollen. —
Leber die Darstellung ist nicht viel zu bemerken. Herr Rene sprach
als Jemand in Grau eindrucksvoll und gut. Leider versagte der Dar-
steller des Menschen, der eigens von auswarts verschrieben war,
durchaus. Die Rolle hatte aus dem standigen Personal des Theaters
sicher besser besetzt werden konnen. Fur einen Fehler halte ich
es auch, dass Frau Roland die Frau des Menschen spielte. Ihre
Art ist zu hart und zu schroff filr eine Rolle, als deren vollendalle
Gestalterin man sich etwa Lucie Hoflich vorstellen kann. Unter
den Nebenrollen mogen die Herren Schwaiger und Kaiser, sowie
Frl. Lorm lobend hervorgehoben werden.
Das Schauspielhaus brachte ein Schauspiel des Danen Henri
Nathansen heraus: „Hinter Mauern". Die ersten beiden Akte
hindurch empfangt man den Eindruck, dass sich hier ein ganz feiner
differenzierter Dichter offenbare, einer, der mit grosser Liebe das
Milieu seines Werks studiert hat und es versteht, den Zuschauer in
diesem Milieu sogleich heimisch zu machen. Das Problem verrat
sich sogleich: Die Revolution der aufgeklarten Jugend gegen das kon-
servative Alter, dargestellt in einer jildischen Familie. Esther Levin
hat sich mit dem jungen Privatdozenten Dr. Herming verlobt, und
der Konflikt besteht nun nicht nur darin, dass die orthodoxen jildi-
schen Eltern schon im Prinzip der Verbindung mit einem Christen
widerstreben, sondern verscharft darin, dass Hennings Vater von
Jugend auf der intimste Feind des Vaters Levin ist. Da gibt es nun
sehr reizvolle Szenen: wie die Familie Levin am Freitag abend um
den gemeinsamen Tisch versammelt ist, wie: Esther zu spat von der
Vorlesung (rede Verlobung) kommt, wie sie der Mutter beichtet, wie
— die schonste und poetischste Szene des Stuckes — Frau Sara
Levin ihren Gatten zugunsten der Tochter bearbeitet. Dann die Ein-
fiihrung des blonden Brautigams in die Familie und das Verhalten
— 123 —
der unterschiedlichen Briider Esthers, — alles sehr klug beobachtet
und mit viel Liebe und Geschick gestaltet. — Aber dam kommt
die grosse Pause, und danach der dritte und vierte Akt. Jetzt
soil die dramatische Handlung losgehen, und jetzt wird's Kientopp.
Die Verlobungsfeier im Hause des Staatsrats Hermimg, die Ausein-
andersetzung ttber die kirchliche Trauung, iiber die Religionszuge-
horigkeit der eventuellen Kinder — und daraus entsteht dann der
Krach. Der alte Zorn iiberkommt die Vater wieder. Herr Levin don-
nert dem Feinde ein „Schuft!" entgegen, das auch von Bataille sein
konnte, und Verlasst in grosser Pose mit seiner Frau das Haus Her-
mings. Esther hort die Stimme des Blutes und die Zusammengehorig-
keit mit ihresgleichen und lost Knall und Fall die Verlobung. Aber
der Edelmut des jungen Herming fuhrt alles noch zum gllicklichen
Ende. Er sieht ein, wie recht die Gegenpartei hat und liebt Esther
von Stund an nur umso heisser. — Schade drum. In dem Augen-
blick, wo Nathansen sich besinnt, dass es nicht bis zum Schiusa
mit Milieuschilderung abgehen kann, verlasst ihn jeder Geschmack
und jede Psychologie. Da Vater Levin schon die Ehe seiner Toch-
ter mit einem Christen und noch dazu mit dem Sonn seines antisemi-
tischen Feindes zugegeben hat, leuchtet die Verzweiflung darliber,
dass seine Enkel getauft werden sollen, nicht mehr ein Der rilhr-
selige Ausgang verdirbt dann auch noch den immerhin moglichen
dramatischen Schluss, dass auf beiden Seiten die Einsicht aufgebt:
Der seelischen Hemmnisse sind auf beiden Seiten zu viele — und
die liebenden jungen Menschen mlissen eben daran zerbrechen.
Die Auffuhrung war eine der befriedigendsten, die Direktor
Stollberg seit langem zuwege gebracht hat. Dia Stimmung in der judi-
schen Familie wurde ausgezeichnet getroffen, und die Darsteller stan-
den alle am rechten Platz. Carl Friedrich Peppier gab dem alten
Levin viel Warme und glaubhaftes Leben, an seiner Seite die wun-
dervolle Frau Gliimer entzlickte wieder mit jedem Wort und mit jeder
Geste, und besonderer Erwahnung wert ist aussserdem Frau Fritzi
Schaffer, in der die Esther ganz vorzliglich verkorpert war. Hier
liegen wohl die besten Moglichkeiten dieser Schauspielerin: in der
Gestaltung herber trotziger Madchencharaktere. Ich erinnere mich,
schon mehrfach in ahnlichen Rollen jene leichte Verbissenheit mal-
tratierter Gemuter sehr ausdrucksvoll von ihr dargestellt gesehen
zu haben. — So in Halbes „Mutter Erde", — doch kaum je bat
mir Frau Schaffer besser gefallen als in Nathansens Schauspiel')
') Platzmangel zwingt mich, mein Urteil ilber die letzten Premieren
des Residenztheaters „Magdalena" und „Belinde" einen Monat zu-
ruckzustellen.
— 124 —
Tagebuch aus dem Gefangnis.
(Fortsetzung.)
Sehr luxurids ist nun, dass sich nicht nur liber der Breitseite
des Tisches, sondern auch liber seinen beiden Schmalseiten je ein
Fenster bis zur Decke erhebt, so zwar, dass die Seitenfenster noch
etwas schmaler sind, als der Tisch. Meine Zelle liegt namlich, wie
der Inspektor mir schon verraten hatte, im Erker, und ich kann, wenn
ich morgens iiber den Hof marschiere, um „frische Luft" zu mir zu
nehmen, stolz erkennen, welches Fenster meine Zelle bezeichnet.
Uebrigens sind die Scheiben meines Fensters auch nicht
von Eisenstangen durchschnitten, sondern haben ein richtiges hol-
zernes Fensterkreuz, das sich zwar leider nicht offnen lasst, aber doch
immerhin ganz httbsch aussieht. Leider ist das Glas hier so wenig
durchsichtig wie in Nr. 42. Nur eben angedeutet sieht man hinter
den gerillten Scheiben des Breitfemsters wie der Seitenfenster ein festes
eisernes Aussengitter. — Der Stuhl, auf dem ich sitze, hat eine Lehne,
und alles ubrige ist so beschaffen wie in Nr. 42 auch. Nur hangt am
„Spind" ausser den ubrigen Anweisungen noch ein „Alkohol-Merk-
gesteuert werden soil. Und das fromme Plakat, das jede
Zelle schmuckt, tragt hier auf der einen Seite die Inschrift: „Gott
will, dass sich der Gottlose bekehre von seinem Wesen und bete.
Hesekiel 33, 11a; auf der anderen Seite, die ich mir nach aussen
gehangt habe: „Erkenne deine Missetat, das du wider den Herrn
deinen Gott geslindigt hast. Jerem. 3, 13." Ich hege einigen Zwei-
fel, ob schon einmal ein Sunder durch das wochenlange Betrachten-
diirfen solcher aus dem Zusammenhang gerissener Satze von seiner
Slindhaftigkeit kuriert worden sei. Will man schon erziehlich wir-
ken, indem man wenig gebildeten Menschen Spruche biblischer
oder sonstiger Weisheit in die Gefangniszelle hangt, so sollte man
doch zu allererst darauf achten, dass etwa das Wort „dass" nach
„Erkenne" mit ss zu schreiben ist, und dass „deinen Gott" als
nahere Definition zu „den Herrn" in Kommata gesetzt werden muss.
Ich lebe der Ueberzeugung, dass ein orthographischer Fehler, der
sich dem Gehirn eines minder differenzierten Menschen einpragt, mehr
Schaden bewirken kann, als ein auswendig gelerntes Bibelwort
Nutzen.
Mit diesem padagogischen Bekenntnis will ich den Bericht ilber
jenen denkwlirdigen Mittwoch abschliessen, der im weiteren Ver-
laufe nichts Bemerkenswertes mehr bot, und die Feder bis morgen
aus der Hand legen. Ein wenig nachgeholt habe ich heute jedenfalls
und vielleicht kann ich in zwei, drei Tagen schon immer liber das je-
125
weilig Aktuelle berichten. — Der heutige Sonntag ging leider dahin,
ohne Aufschluss iiber den Verbleib meines Notizbuches zu bringen.
Montag, den 8. November 1909.
Beim Genuss der vortrefflichen Zigarren und gelockt von dem
angenehmen hellen Licht, dem bequemen Stuhl (im Gefangnis ist
schon ein einfacher Kilchenstuhl so bequem wie im Salon ein Klub-
sessel) und dem grossen Tisch, hatte ich mich am Mittwoch noch an
die Ausflihrung eines literarischen Essays gemacht, mit dem ich
schon lange umgehe ... Es handelt sich um eine Charakteristik
Frank Wedekinds als Schauspieler. Don ganzen Juli hindurch
war Frank Wedekind Herr des Munchener Schauspielhauses und
spielte nacheinander den Nikolo in „So ist das Leben", den Schon
im „Erdgeist", den Hetmann in „Hidalla", den Gesanglehrer in
„Musik", den Burridan in „Zensur", den „Marquis von Keith" und
den „Kammersanger". Ich habe alle die Leistungen gesehen . . .
und sehr starke Eindriicke empfangen, die niederzulegen mir viel
Freude machen wird . . Weit kam ich allerdings nicht mit dem
Artikel — nicht iiber die Einleitung hinaus. Denn die intensive
Beschaftigung mit dem Buch des Danen Madelung, der ich mich
vorher hingegeben hatte, drangte nach Erledigung dieser Lekture.
„Jagd auf Tiere und Menschen" ist ein gutes, kraftiges Buch, von
einem klugen Menschen geschrieben, der zugleich robuste und ge-
pflegte Nerven und ein klares Auge hat. Madelung ist ein
brillanter Schilderer der Gegenden, die er bereist, der Menschen,
die er kennen lernt, der Zustande, die er antrifft. Storend wirk-
ten auf mich die lyrischen Abschweifungen in manchen seiner Be-
richte, besonders in der Geschichte „Tops". Zwar findet Madelung
immer gute dichterische Bilder, die im einzelnen genommen vor der
strengsten Kritik bestehen, aber seine Lyrismen sind mir zu klug,
zu literarisch, zu gewollt. Ich glaube es einfach diesem Kraft-
menschen nicht, dass ihm etwa das Spiel der Sonnenstrahlen in
abgefallenem Laub neben der Beobachtung, die schon sehr viel
ist, noch Vergleiche abnotigt. Ich habe das Buch schon abgegeben
und kann daher das, was ich meine, nicht an Beispielen belegen.
Jedenfalls gilt es mir da am meisten, wo er einfach in festen Strichen
zeichnet, was er sieht, beschreibt, was er weiss. Die schmncklosesten Ka-
pitel des Buches sind die starksten: „Terror" und „Progrom", — und
daneben die Schilderung der Landstrasse und der Marsch nach
Besowo im Eingang des Buches, das im ganzen als eine Iiber-
aus wertvolle Quelle zum Studium russischer Volkheit und russischer
') Mein Aufsatz „Der Schauspieler Wedekind" erschien erst im
Anschluss an das Wedekind-Gastspiel im Jahre 1910 in der „Schau-
btthne". Ich benutzte ihn hier bei der Beurteilung des Gastspiels
im Jahre 1911. (Vgl. „Kain" I, 5, S. 75.)
— 126 —
Zustande Beachtung verdient und technisch zweifellos einen Dich-
ter verrat. (Fortsetzung folgt.)
Bemerkungen.
Gerhart Hauptmann. Es geziemt sich, des Mannes, der unter
alien lebenden deutschen Dichtern mit seinen Werken die starksten
Wirkungen ausgeubt hat, an seinem fiinfzigsten Geburtstage ehrend
tu gedenken. Es ware zum Glttck verfruht, den Dank fur Gerhart
Hauptmanns Schaffen in die Form einer literaturkritischen
Uebersicht tu kleiden. Denn mit seinen jlingsten Werken „Die
Ratten" und dem tiefen Roman „Der Narr in Christo Emanuel
Quint" hat Hauptmann sehr deutlich gezeigt, dass er noch lange
kein abgeschlossenes Lebenswerk hinter sich hat, und dass wir seinen
Geburtstag als Tag der Hoffnung auf weitere Kostlichkeiten feiern
dilrfen. Wer sich ein personliches Fest aus dem Gedenktage machen
will, der nehme sich Gerhart Hauptmanns „Einsame Menschen"
vor oder „Rose Bernd" oder „Michael Kramer" oder „Der Biber-
pelz" — und der ehrliche Glilckwunsch fur des Dichters Leben
und langwahrende Dichterkraft wird ihm von selbst aus dem Herzen
steigen
Wenn der bayerische Lowe briillt. Jede Stunde dieser aufgereg-
ten Tage kann die Mobilisierung des Heeres bringen. Jeden Mo-
ment muss jede Familie bereit sein, Vater, Sohn, Bruder oder
Freund zu entlassen und auf Leben oder Tod in den Krieg Ziehen
zu sehn. Zum Besten des Volkes natiirlich. Aber das Volk hat
keine Ahnung, wann sich das Schicksal und in welcher Form
zu seinem Besten wenden wird. Das knobeln die europaischen Re-
gierungen unter sich aus. Zwar fordern die Demokraten aller Schat-
tierungen, dass in Fallen ernster Verwicklungen das Parlament
einzuberufen und um seinen Rat zu befragen sei. Aber wer Augen
hat und Ohren, weiss, dass das Volk in parlamentarisch regierten
Landern genau so wenig liber seine intimsten Angelegenheiten er-
fahrt, wie bei uns. Das bringt die Institution der Regierungen selbst
mit sich, das System des Staats also, in dem es ganz gleichgultig
ist, ob das Volk mit seiner eignen Initiative zugunsten eines er-
wahlten oder zugunsten eines ernannten „Cabinets" abgedankt hat.
— Das Volk aber verbringt diesseits und jenseits der Landes-
grenzen die Zeit, in der seine Existenz auf dem Spiel unterschiedlich
befahigter Diplomaten steht, mit Ratselraten. Es lauert auf An-
zeichen, auf Symptome, auf Indiskretionen subalterner Eingeweih-
ter und schnuppert in der Luft, ob er nicht am Geruch erraten
kann, was fiir eine Suppe ihm in jenen Dunkelkammern gekocht wird.
Jetzt hat der bayerische Kuchenchef auch mal mit seinem
Loffel in der Terrine geriihrt, und es sind Aufruhrblasen und
Kriegsdlinste aufgestiegen. Ausgerechnet jetzt, wo alle Welt in
ausserster Spannung der Entwicklung der Ereignisse entgegensieht,
glaubte das wahrhaft genial inspirierte Ministerium Hertling eine
Lticke der Gesetzgebung mit der beschleunigten Einflihrung eines
— 127 —
Standrechtsgesetzes ausflillen zu miissen. Ganz zum Schluss der
Landtagssession und mit einer Eile, als ob der bayerische Lowe
schon los sei. Die Zeitungen waren offenbar von oben her instruiert
worden, dass sie aus der Geschichte keine Schreckensaktion ma-
chen sollten. Denn sie brachten die Nachricht, als ob sich's um
eine Vorlage handle, die die Abanderung der blanken Knopfe an
den Uniformen der Parlamentsdiener betrafe. 1st es aber wahr, was
die offiziosen Herren versichern, dass dies Gesetz gar keinen Zu-
sammenhang mit der gegenwartigen politischen Situation habe, dann
muss ihnen doch gesagt werden, dass der Zeitpunkt, den sie zu seiner
Einbringung gewahlt haben, mal wieder die ganze Tiefe bayerischer
Regierungsweisheit verrat. Die Nervositat der Bevolkerung in die-
sem Augenblick dermassen ungeschickt zu steigern, heisst doch grade-
zu, einem schlaflosen Neurastheniker Wanzen in' Bett stecken.
Das Gesetz selbst? Ein freundliches Gemalde: wie wir leben
werden, wenn die Barone Hertling und v. A Heydte Diktatoren
sind. Ein Sachverstandiger hat mir neulich vorgerechnet, dass
die Fusilierung eines Delinquenten etwa 60 Pfennige an Patronen
kostet. Da das Gesetz der christlichsten aller Regierungen die
a tempo zu vollstreckende Todesstrafe weitaus haufiger vorsieht als
das im ubrigen Deutschland geltende Standrecht, wird sich bei
Ausbruch einer Revolution oder eines Kriegs Bayern wenigstens einer
sparsamen Justiz rlihmen diirfen.
Lieb Vaterland. Die hochste Tugend eines edlen Mannes ist
bekanntlich die Vaterlandsliebe. Wie weit das Vaterland zu lieben
ist, ergibt sich ohne Schwierigkeit aus einem Blick auf die politische
Landkarte. Seit der Einigung des Deutschen Reichs hat der Meck-
lenburger das Schwabenland, der Schlesier Schleswig-Holstein, der
Sachse Ostpreussen und der Niederbayer Hinterpommern als sein
Vaterland inbrlinstig zu lieben. Bei Grenzverschiebungen weiss der
Patriot, was er zu tun hat: er wird sogleich seine Vaterlandsliebe
den neuen politischen Verhaltnissen loyal anpassen. Sollte ein-
mal wieder ein Napoleon ins Land kommen und das halbe Deutsch-
land seinem Reiche beifilgen, dann ist es ein billiges Verlangen,
wenn die deutschen Patrioten nunmehr aufgefordert werden, ihre
Vaterlandsliebe fortab nach Frankreich zu dirigieren. Das muss
doch eine Kleinigkit sein, und wems schwer iallt, dem wird schon
nachgeholfen werden. Haben wir Deutschen nicht selbst gezeigt,
wie man nachhilft? Wo gabe es in Elsass-Lothringen noch Leute,
die Frankreich als ihr Vaterland liebten? Nord-Schleswig weiss
kaum mehr, wo Danemark liegt, und die Polen gar haben sich in feiner
Weise den Preussen assimiliert, dass sie ihren Besitz an Grund und
Boden nur noch an deutsche Ansiedler verkaufen. Die preussi-
sche Regierung kommt ihnen dabei erdenklich weit entgegen. Fallt
es einem Polen garzu schwer, sich von seinem Besitz zu trennen, dann
greift wohltatig das Gesetz ein, und der Staat fuhrt mit vaterlicher
Hand das Grundstiick in das Eigentum eines preussischen Eingebor-
nen ttber. Viermal ist die Operation nun vollzogen (einmal bei einer
polnischen Witwe) und die preussische Vaterlandsliebe ist den Ent-
eigneten dadurch schon soweit in Leib und Seele eingedrungen, dass
sie ihnen nachgerade aus alien Poren schwitzt. Ihre polnische
— 128 —
Sprache, ihre Sitten und ihre Kultur wird man ihnen mit Gottes
Hilfe auch bald abgewohnt haben. Auf diese Weise sorgt Preus-
sen auf das Zuverlassigste fiir eine zufriedene und wahrhaft gluck-
liche und patriotische Bevolkerung in jenen Grenzlandern, der jedes
revolutionare Trachten naturgemass fiir alle Zeiten weltenfern bleibern
muss. Wo heutuztage ein paar Polen sich noch auf ihrem ehemaligen
Boden zusammenfinden, singen sie, wie ich erfahre, mit treu-
deutscher Begeisterung das Lied: Das Vaterland muss grosser seinl
Schlechte Manieren. In einer norddeutschen Provinzzeitung ent-
aussert sich ein anonymer Schmock eines schmalzigen Foljetongs
ilber den Kilnstlerstammtisch in einem Milnchener Weinlokal. Der
norddeutsche Provinzonkel erfahrt daraus, dass sich manche Leute,
deren Namen er schon mal gelesen hat. manchmal zu einem Glase
Wein zusammenfinden, und dass man den Abfasser des Foljetongs
aus diesem Kreise nicht hinausgeschmissen hat. Schmockchen stolpert
ilber eine Unbequemlichkeit. Zu der Stammtischrunde gehort ein
Mensch, der die Schmocke gern Schmocke nennt, und der den
Provinzonkeln in Nord und Slid deshalb von alien Schmilcken gern
in der Aufmachung einer missratenen Kreatur serviert wird. Nach-
dem sich Herr Inkognito mit alien Berlihmtheiten des Tisches aufs
Leutseligste angebiedert hat, rlickt er mit dem Gestandnis her-
aus, dass an dem Tisch auch der ,,Edelanarchist" Erich Muhsam
verkehrt. (Falls Schmockchen diese Zeilen lesen sollte, sei ihm
mitgeteilt, dass ich die Gepflogenheiten der Leute, die ihre Begeg-
nungen mit Anarchisten dadurch beschonigen wollen, dass sie uns
mit einer schmockigen Vorsilbe versehen und in Anfiihrungsstriche
setzen, hier schon mehrfach als trottelhafte Unverschamtheit gekenn,
zeichnet habe.) Wenn auch bios "Edelanarchist", — der Provinz-
onkel konnte doch Anstoss an Schmocks Verkehr mit solchem
Kerl nehmen, der deshalb beschimpft sei. Das Foljetong stellt also
fest, dass ich einen wilden Bart und schlechte Manieren habe. Dass
Schmockchen meine Witze ertraglicher als meine Ansichten fin-
det, will ich ihm zugute halten. Das Gehirn fast aller Saugetiere
ist so eingerichtet, dass es nur auf das reagiert, was es allenfalls zu
begreifen vermag. — Bleiben meine schlechten Manieren. Obgleich
ich mir nicht bewusst bin, je mit dem Messer in den Zahnen ge-
stochert oder meine Beine auf den Esstisch gelegt zu haben, bin
ich natiirlich nicht zur Beurteilung meines eignen Benehmens kom-
petent. Aber was fiir ein Zeugnis stellt das Mannchen mit dem
wahrscheinlich prachtig frisierten Bart all den beruhmten Mannern
aus, mit denen es eben noch so herzlich befreundet war. Es
beschuldigt sie vor alien Provinzonkeln, dass sie den Verkehr mit
einem Menschen nicht abbrechen, der sich bei Tisch unmanierlich
auffuhrt. Es ist zu hoffen, dass wenigstens Herr Inkognito in
Zukunft den Verkehr mit so wenig empfindlichen Menschen meiden wird.
Wir aber haben aus dem Foljetong gelernt, was gute Manieren
sind: sich in den privaten Kreis von Leuten, die sich gegenseitig et-
was zu sagen wissen, hineinzudrangen, sich mit freundlichem Hande-
druck deren Vertrauen bestatigen zu lassen, ihre Gesprache zu
schinden und sich dann auf den Hintern zu setzen, um sie in ihrem
privaten Tun den Provinzonkeln auszuliefern. Dass das anonym ge-
schieht, und dass einer aus der Runde dabei verhohnt und be-
schimpft wird, zeugt von geradezu herrschaftlichen Manieren. —
Wir Wilden sind doch bessere Menschen.
Verantwortlich fiir Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9.
Druck von Max Steinebach, Miinchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaftstelle: Miinchen, Baaderstr. la. Tel. 2355
99
===== Vom =====
Gedichtbande
Der Krater
von Erich Miihsam
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ist die zweite, unveranderte Auflage soeben in
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Preis 55 Mark.
Erschienen:
Kain-Kalender
fur das Jahr 1913.
Ausstattung wie Kain-Kalender fur 1912.
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-*>*- ERICH Mt)HSAM.
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Seit August 1911 erscheint:
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Eine Monatsschrift fiir Beiietristik, Kritik, Satire, Lyrik und Schwarz-
Weiss-Kunst, herausgegeben von Hermann Meister und Her-
bert Grossberger.
Von den Mitarbeitern seien u. a. genannt:
Oskar Baum, Ernst Blass, Max Dauthendey, Albert Ehrenstein,
Johannes von Guenther, Otto Hinnerk, Rudolf Kurtz, Heinrich
Lautensack, Otto Stoessl, Felix Stossinger, Emile Verhaeren, Paul Zech.
Von Urteilen fiihren wir an:
„Auf die unabhangige Zeitschrift sei mit Nachdruck hinge-
wiesen." Prager Tagblatt.
„Eine Zeitschrift von Individualisten fiir Individualisten".
Der Tagesbote, Briinn.
„Eine Zeitschrift, die in dem Gewimmel der Revuen einen be -
sonderen Platz verdient".
Hil de she i mer Allg. Zeitung.
Jedes Heft umfasst ungefahr 2 Bogen und e nth alt 2 Bildbei-
gaben, darunter meistens Origin ale wie Lithographien, Kupfer-
stiche, Schnitte. Der Mindestabonnementspreis (fiir 6 Hefte) betragt
Mk. 3. — , Einzelhefte kosten 60 Pfg. Das Abonnement vermittelt
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Einsendung von Mk. 1. — zur Orientierung 3 Hefte nur direkt
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Jahrgangll. No. 9. Dezember 1912
KAlN
Zeit/chriftfur
rien/ch(ich(\eir
HemuJgeber;
(rich Huh/am
Kain-Verlag Munchen.
30 Pfa.
Die Schaubiihne
Herausgeber:
Siegfried Jacobsohn.
Stimmen der Presse:
Die Zukunft. Die Schaubiihne ist d'e beste deutsche Theater-
zeitschrift, die wir besitzen; eine der am wiirdigsten, redigierten Zeit-
schriften. Ein Golfstrom: Lebendigkeit, Warme, Geistigkeit, Kampf,
Witz, Seele geht von ihr aus.
Dresdener Anzeiger. Nach acht Jahren des Bestehens
dieser Zeitschrift, die damals bereits an dieser Stelle mit Anerkennung
begriisst wurde, muss nachdriicklich betont werden, dass wir in
Deutschland jetzt keine Theaterzeitschrift haben, die der Schau-
biihne an Scharfe und Weitsichtigkeit des Urteils, an gediegenen und
glanzenden Aufsatzen vorangestellt werden kann. In jahrelagner auf-
merksamer Priifung hat sich dieses Urteil bei uns befestigt. Jeder
Freund einer ehrlichen, freien und eindringlichen Kritik wird die
Schaubiihne mit Genuss und reichlichem Nutzen lesen.
Hannoverscher Courier. Recht verschiedene Geister
sind es, die sich hier im Rahmen einer Zeitschrift zusammenfinden,
aber eins eint sie: sie alle reden mit durchaus personlichen Ak-
zenten, es sind namlich Leute, die ihrem eigenen Instinkt lieber
folgen als dem Instinkt der Masse. Manche sprechen geradezu im
Ton der Leidenschaft, des Fanatismus. Der Inhalt des Blattes
ist in hohem Grade mannigfaltig; auch die Form unterhaltsam und
abwechslungsreich.
Mannheimer Generalanzeiger: Die Schaubiihne ist
von alien Theaterzeitschriften die aparteste, lebendigste und an-
Siegfried Jacobsohn gibt sie heraus. Er ist von denen,
iiber Theater schreiben, der einzige, der wirklich Kritik
regendste.
die heute
hat.
N e u e
redigiertes,
ferner mit
menhangt.
Ziiricher Zeitung. Die Schaubiihne ist ein frisch
inhaltlich anregendes Organ fiir alles, was naher oder
der Buhne in deutschen Landen wie im Ausland zusam-
Sie ist eine jener Zeitschriften, die man stets gerne in die
Hand nimmt, weil man stets sicher ist, irgend etwas zu finden, was
Interesse und Nachdenken weckt.
Leipziger Tageblatt. Die Schaubiihne verdient das Lob,
eine unsrer besten Zeitschriften und unter denen, die sich mit dem
Theater- und der dramatischen Kunst beschaftigen, weitaus die beste
zu sein.
Vierteljahrlich M. 3.50, jahrlich M. 12. — , Einzelnummer 40 Pfg.
Einmonatiges Probe-Abonnement gratis und franko.
Verlag der Schaubiihne chablottbnbwbq
o .*. Dernburgstrasse 25.
Jahrgang II. Miinchen,
No. 9. Dezember 1912.
KAIN
Zeitschrift fLir JVLenschlichkeit.
Herausgeber: Erich Miihsam.
Miiiiiiait ii.rn.i in j.i i rinri iTiriuiii..! i.iivj ia 1 1 n.:i i.t.i ini mini 1 1 .i. 1..1 n.m n.i .um n.i .mi i»g
„KAIN" erscheint im Monat einmal. Der Preis betragt
fur das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne-
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag"
Miinchen, Baaderstrasse la.
Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Heransgeber.
Mitarbeiter dankend verbeten.
Franziska.
Den Menschen unserer Tage ist die Fahigkeit ab-
handen gekommen, anzuerkennen, sich ergreifen, hin-
reissen, mitnehmen zu lassen von einer Welle freudiger
Begeisterung, mit dem Mund jauchzend zu bejahen, wenn
das Herz ja sagt. Eine Sucht, zu kritisieren, a tout prix
sein Lob einzuschranken, um nur ja skeptischen Gemiitern
keinen Anlass zum Spott zu geben, ein angstliches Suchen
nach Schwachen im Starken, nach Flecken im Glanz
zeichnet diese Zeit aus, die glaubt eminent kritisch zu
sein und in Wahrheit eminent faul ist. Wir haben ja die
grossen Werke aus dem Altertum, aus der Renaissance,
aus der Goethezeit. Wir sind viel zu bequem geworden,
den Werken unserer Zeitgenossen Werte beizumessen,
die neue Einstellungen unseres Geistes bewirken miissten.
Wir knieen gebeugt vor den alten Tafeln, um uns nicht
blenden zu lassen vom Lichte, das aus jungen Himmeln
bricht.
Reaktion und Revolution — die beiden Stromungen
hat es zu alien Zeiten, auch im geistigen Leben gegeben.
Erst in der jiingsten Gegenwart hat alle Revolution abge-
— 130 —
dankt, und die Angst vor der Blamage eines Fehlurteils
ist an ihre Stelle getreten. Darin gleicht unsere Zeit der
des jungen Deutschland, wo Borne, Gutzkow und Kon-
sorten die goldnen Schalen der Romantik zertrummerten,
nachdrangendem schaffendem Geiste aber keine Gefasse
zu bereiten wussten. Nur gart heute viel mehr brodeln-
der Stoff im Geiste als damals. Aber er findet die gierigen
Seelen nicht, die aufhehmen, feiern, sich berauschen mo-
gen. Darum ist heutzutage der Kiinstler, der kein Epigone
ist, ein Einsamer. Darum musste Stefan George in esote-
rische Zirkel fliichten, weil er sich nur dort sicher wusste
vordem norgelnden senilen Analysieren derer, die fur Syn-
thetisches kein Organ haben. Lest doch das herrliche „Zeit-
gedicht", mit dem George seinen „Siebenten Ring" er-
offnet, und erkennt, wie auch er lieber Dichter eines Volkes
sein mochte, als in weihrauchvollen Logen der Meister
vom Stuhl.
Wo ist die Jugend geblieben, die noch vor zwanzig
Jahren den Weg der Naturalisten mit jubelndem Zuruf
saumte? Von den Studenten nicht zu reden, die, von
Herweghs und Freiligraths Liedern getragen, ihr Blut fur
Burgerideale aufs Pflaster gossen. Heute sitzen sie mit
myopischem Blinzeln und verkniffenen Lippen in philo-
logischen Seminaren und extrahieren aus stromenden
Dichterworten grammatikalische Finessen. Was unserer
Jugend fehlt und bitter nottut, ist das Pathos der Be-
geisterung !
Widerwillig und storrisch wie ein gepriigelter Esel
bequemt sich der Nachwuchs zur Anerkennung immer
erst dann, wenn Jahre des Hohns und der Anfeindung
ein Werk nicht umzubringen vermochten. Da diinkt man
sich wer weiss wie vorgeschritten, wenn man einen
Dichter vom Wuchse Frank Wedekinds heute nicht
mehr bewitzelt und als literarische Kuriositat bewertet,
sondem zugibt, dass „Fruhlingserwachen", „Erdgeist",
„Marquis von Keith", „Hidalla" immerhin bedeutsame
Arbeiten sind. Wobei denn das bedauemde Achselzucken
— 181 —
nicht ausbleibt, dass es seitdem leider bergab ging mit
Wedekinds Schaffen, und dass der Dichter sich zusehends
mehr in einer verbohrten Sonderlingsmanier gefallt.
Was fur Urteile habe ich nicht iiber sein neuestes
Werk gehort: iiber das „moderne Mysterium" Franziska!
Von Leuten, die nicht immer Dummheiten reden, von
Leuten, die — hier will ich einmal prophezeien — in
zehn Jahren vor Wedekinds kunftigen Schopfungen aus-
rufen werden: Ja, als er die Franziska schrieb, da war
er noch ein ganz anderer, ein grosser Kerl! Konstruiert
und unlebendig soil das Drama sein, hergesucht und
obendrein unverstandlich. Fiir die Buhnenauffuhrung
aber in jeder Hinsicht ganz unmoglich.
Lasst's euch Wohlsein bei eurer Kritik, die ihr die
Nachhut betreut und lachelt weiterhin iiber die Schwar-
mer, die vorne sprengen. Diesmal werden sie euch den
Gefallen nicht tun, vom Gaul zu fallen!
Wir sind allzumal fehlende Menschen und irren ist
das Recht dessen, der die Wahrheit sucht. Schwierig ist
es, die Spreu Vom Weizen zu trennen, solange das Kom
noch nicht in der Scheune ist. Ich bilde mir gewiss
nicht ein, bei jedem Urteil das Rechte zu finden. Aber
wenn ich je frei war von Zweifeln, wenn ich je wusste,
dass meine Gefiihl wahr entscheidet, so ist es jetzt, da
ich mich auszusprechen getraue: Wedekinds „Franziska"
ist ein geniales, in Erleben und Leidenschaft gegliihtes
Werk, das als Dokument unserer Tage die Zeiten iiber-
dauem wird und den Dichter aufs Postament der Un-
sterblichkeit erhebt.
Nun lacht iiber mich, ihr, die ihr zu diirftig seid,
Grosses zu erfassen, ihr Kritiker, die ihr nicht wagt, un-
kritisch zu sein, ihr Stiirmer und Dranger mit Vorbehalt,
ihr Wetterfesten unterm Regenschirm!
Ja, ihr habt recht, grinsende Freunde, dass ihr mir
Inkonsequenz vorwerft, da ihr mich haltlos begeistert
seht vor einem Mysterium, und mir vorhaltet, was ich
hier erst vor einem Monat schrieb: „Wir sind mit My-
— 132 —
sterien nachgerade uberfuttert . . . Wir haben genug.
Wir danken bestens. Wir wollen im Theater Dramen
sehen, keine Allegorieen." Aber ich zitiere weiter was
ich schrieb: „Ein Drama charakterisiert sich dadurch,
dass in ihm Typisches am Einzelfall dargestellt wird.
Die . . . Personifizierung des Typus ist undramatisch und
dariiber hinaus unkiinstlerisch."
Auf diese Satze stiitze ich mich, wenn ich sage:
„Franziska" erfullt die hochste Forderung, die an ein
Drama zu stellen ist. Derm hier wird am einzelnen
Individuum ein ewiger Typus aufgezeigt, dessen Schicksal
sich aus der Sehnsucht nach seiner aussersten Voll-
kommenheit und den Reibungen am Treibriemen der
realen Geschehnisse zusammenfugt. Die Bezeichnung als
„modernes Mysterium" rechtfertigt sich durch die unter-
und iiberirdischen Beziehungen der Heldin zu ihrer
Umwelt, durch ihre eigene Wesensmischung aus Kiinstler-
menschen, Weib und Abenteuererin und der Wesens-
mischung ihres Gegenspielers aus Damon und Hochstapler.
Die Faustsehnsucht nach Erlosung der Seele aus
den Beschrankungen des Alltags, auf ein nach Lebens-
genuss und Freiheit durstendes Weib unserer Tage be-
zogen, — das ist das gewaltige Problem der Dichtung.
Wedekind zieht bewusst und nachdrucklich die Parallele
zwischen Franziska und Faust, indem er in der ausseren
Handlung sehr witzig, dabei aber bewundernswert unab-
hangig Vorgange des Goetheschen Faust-Dramas parodiert.
Erstaunlich ist die Folgerichtigkeit, mit der er dabei keinen
entfernten Vergleich zwischen Franziska und Gretchen auf-
kommen lasst und in dem schonen sinnlichen Madchen
stets nur den ehrgeizigen Faustgedanken zum Herrn der
Entschlusse macht, und fast erstaunlicher noch, dass
Franziska in allem Auf und Nieder der Erlebnisse und
Erregungen nichts von ihrer weiblichen Anmut und Echt-
heit verliert, selbst da nicht, wo sie Mann und sogar Ehe-
mann zu spielen hat. In dem Werk, das iiberreich ist
an grotesken Einzelheiten, aktuellen Anspielungen und
— 133 —
abenteuerlichen Situationen, bleibt Franziska in alien Sta-
dien eine durchaus poetische Gestalt.
Das unselige Beispiel der Eltern hat ihr in jungen
Jahren die Sehnsucht nach Gliick und Liebe geweckt.
Dann kam der erste Geliebte und mit ihm, dem braven
Durchschnittsmenschen, die Neugier aufs Leben. Sein
Werben um ihre dauernde Liebe lehnt sie mit den
riihrenden Worten ab: „Aber ich mochte doch gern er-
fahren, wer ich derm eigentlich bin. Wenn wir uns heute
heiraten, dann erfahre ich in den nachsten zehn Jahren nur,
wer du bist" Dr. Hofmiller: „Und wer unsere Kinder
sind." Franziska: „Und ich selber bleibe mir ewig fremd."
Und jetzt tritt Veit Kunz in ihr Leben, wie Mephisto
ein Deus ex machina. Wie Mephisto mit Faust, schliesst
er mit ihr einen Pakt, worin er sich verpflichtet, sie zwei
Jahre hindurch das Leben eines Marines fiihren zu lassen
"mit aller Genussfahigkeit, aller Bewegungsfreiheit des
Marines.". Dafur soil sie nacher seine Sklavin, seine Leib-
eigene sein. Das schreckt sie nicht, auch nicht, dass
Veit Kunz sie auf das Naturgesetz hinweist, das diesen
Ausgang des Abenteuers mit Notwendigkeit verlangt.
Franziska weiss sich selbst Naturgesetz und bindet den
Mann, ohne sich selbst zu binden.
Poesievoll und von einem innerlichen Licht durch-
hellt bleibt die Figur dann wahrend aller Wirrnisse, wah-
rend aller Seltsamkeiten und geheimnisvollen Erfahrungen.
Ihre graziose Unbefangenheit verlasst sie nicht in der
Weinstube Clara (dem reizenden Pendant zu Auerbachs
Keller), in dem Berliner Huren- und Lebemann-Milieu,
wo ein eifersiichtiger Liebhaber dem jungen Tenor vom
Arme weg die kleine Mausi erschiesst. Poetisch um-
strahlt steht sie als junger Ehemann da, wenn sie die
torichte Gattin eifersiichtig macht, um ihr die Vernach-
lassigung durch den Gemahl als eigenes Verschulden be-
greiflich zu machen, und dann, als sie kaum einmal mit
Veit Kunz allein ist, ihm vorhalt: ,J3u versprachst mir
hoch und teuer, ich solle ein Mann werden. Statt dessen
— 134 —
bin ich nun seit einem vollen Jahre nichts anderes als
deine Geliebte" — und — ein Ehemann ! in anderen Um-
standen. — Sophie erfahrt, dass sie mit einem Weibe
verheiratet ist und erschiesst sich. In ihrer Seele rein
und unschuldig geht Franziska ihren Weg weiter.
Nun ist sie mit ihrem Manager am Hofe des Herzogs
von Rotenburg: Schwindlerin wie er Schwindler ist, aber
keusch und unverdorben im Herzen. Als eine Spuk-
gestalt aus der vierten Dimension erscheint sie vor dem
Herzog und beantwortet alle seine Fragen nach den
letzten Dingen mit Worten voll tiefer Schonheit, voll
Wahrheits- und Menschenliebe. Wie sie dann mitwirkt
an dem Marchenspiel des Herzogs, ist sie wieder Weib,
spielt mit bekranztem Haare, in den Handen eine Schale
mit Thranen haltend, sich selbst, die reine Unschuld,
liebevoll und zartlich zu der Schwester, die nackt dem
Brunnen entsteigt und gefeit gegen den Drachen mit dem
Schweine- und Hundekopf, der plump und roh gegen
Wahrheit und Nacktheit anbellt.
Fin kurzes schones Bild zeigt sie als liebendes
Weib, Beseligt und ergeben liegt sie in den Armen des
Lehrers und Geliebten. Aber sie bleibt sich treu, indem
sie ihm nicht treu bleibt. Im Ankleideraum des Theaters
der Funftausend, wo Veit Kunzens neues Mysterium ge-
spielt werden soil, verliebt sie sich in einen Klotz von
Schauspieler und verlasst mit dem den Meister, gierig
nach neuem Erleben, nach restloser Erfullung ihres
Schicksals.
„Wer immer strebend sich bemiiht,
den werden wir erlosen — "
heisst es bei Goethe, und in Franziska bewahrt sich das
auf Faust gemunzte Wort. Sie findet ihre Erlosung in
der Mutterschaft. Im Innersten frei von alien Schlacken
ihres Lebensweges weist sie Veit Kunz und Ralf Breiten-
bach, dem Schauspieler, die nach Jahren, bankrott, ihr
wieder vor Augen treten, die Tiir und reicht die Hand
einem jungen sehnsiichtigen Kiinstler, der sie um ihrer
— 135 —
Weibheit und um ihres Kindes willen liebt. Sie ist
sich nicht mehr fremd, sie hat erfahren, wer sie ist, und
so kann sie ihre Liebe und ihr Leben dem Menschen
weihen, den sie geboren hat, dem kleinen Veitralf, dem
sein neuer Vater den Wunsch auf den Weg gibt:
In dir mag ein Befreier wiederkehren.
Gedeihen wirst du, derm du bist gehebt.
Von sehr anderer Art als die modeme Heilige ist
der Mann, unter dessen Fuhrung Franziska die Strecke
ihres Lebens ging, die ihr Schicksal zum Mysterium
machte. Veit Kunz ist uns schon in alien Stiicken
Wedekinds begegnet. Er tragt Ziige des Doktor Schon,
der Lulus Weg bereitet und von ihrer Hand fallt,
Ziige des Konigs Nikolo, der in seinem eigenen Lande
den Hofharren spielt, Ziige auch des Karl Hermann, der
an der Grosse seines Ideals scheitert und hat am meisten
Aehnlichkeit mit dem Marquis von Keith, dem plane-
reichen Desperado und betrogenen Betriiger, der das Leben
grinsend als Rutschbahn bewerten lernt.
Hier ist die Charakteristik, die Veit Kunz, nach
Franziskas Flucht mit dem Strick um den Hals am Bo-
den rochelnd, von sich selbst entwirft:
„Als welch ein Maulheld hab ich mich gebardet:
Versicherungsbeamter, Sklavenhalter,
Gesangsmagister, Kuppler, Diplomat,
Hanswurst, Schrittsteller, Schauspielakrobat,
Marktschreier, Brautigam noch in meinem Alter,
Erpesser, Heiratssch windier, Bauernfanger,
Revolverjournalist und Bankelsanger,
um jetzt im Ueberschwang von Hochgefuhlen
als diimmster Narr den lieben Gott zu spielen!"
Was dieser vielseitige Lebenskiinstler von seinem
Wesen nicht zu wissen scheint, ist, dass er ausserdem
noch ein vortrefflicher Philosoph, ein Sozialkritiker ersten
Ranges und ein gliihender Idealist ist. Die Sentenzen,
die er fortwahrend nebenher fallen lasst, Wedekindsche
Sentenzen zur Frauenfrage, zur Kunst, zu den Staats- und
— 136 —
Gesetzesproblemen, zur Religion, Kirche, Freigeisterei und
besonders wieder zu den Beziehungen der Geschlechter,
enthalten die kliigsten Erkenntnisse und die tiefste Sehn-
sucht nach besseren und reineren Lebensformen.
Es ware miissiges Beginnen, seine und Franziskas
Gestalt oder ihr Verhaltnis zu einander symbolisch aus-
deuten zu wollen. Die Erklarung, als ob es sich um die
Stellung des Dichters zu seinem Werke handle, reicht
zur Erfassung des poetischen Gehalts dieser titanischen
Dichtung entfernt nicht aus. Dass es Wedekind um per-
sonliches Bekennen zu tun ist, versteht sich fur den, der
sein Schaffen kennt, von selbst. Aber er greift hier viel
weiter aus. Er setzt sich mit Fragen auseinander, die
nicht mehr bios den Kiinstler, sondern die die Mensch-
heit selbst in ihren urspriinglichsten Angelegenheiten be-
treffen. Man wird daher gut tun, das Werk nur soweit sym-
bolistisch zu nehmen, wie der Dichter selbst Visionen und
Metaphern in die Handlung einfugt, wobei darauf hin-
gewiesen sei, dass alles, was an symbohschen und mys-
teriosen Dingen in dem Drama vorkommt, alsbald im
Stticke selbst seine rationalistische Auflosung findet. Die
Ehe Franziskas mit Sophie erscheint zunachst wie ein
Wunder, das nur damit zu erklaren ware, dass das
Madchen durch uberirdische Krafte auch leiblich zum
Manne gemacht ware. SchUessUch erfahrt man, dass eine
ehehche Gemeinschaft nicht besteht, und dass die Eifer-
sucht in Sophie geschiirt wird, um sie in der Fiktion
zu halten, sie werde durch ihr eigenes Verschulden von
ihrem Manne vernachlassigt. Dass es Wedekind mit
Franziskas Verkleidung und ihrer Lebensfuhrung als
Mann um eine symbolische Andeutung allgemeiner
Menschheitsfragen zu tun ist, unterhegt gar keinem Zweifel.
Aber man braucht keine kiinstlichen Erklarungen zu
suchen, da er spater Veit Kunz zum Herzog sagen lasst:
"Frauengestalten von mannlicher Strenge, Mannergestalten
von weiblicher Zartheit und Milde sind seit Anbeginn
bis heute die vollkommenste Verkorperung des Welt-
— 137 —
friedens." Und auf seine Behauptung „der strenge Unter
schied zwischen mannlicher und weiblicher Kleidung ist
in der ganzen Welt im Schwinden begriffen," erwidert
der Herzog: „Es kommt doch nicht auf den Unterschied
zwischen Kleidern, sondern auf den Unterschied zwischen
Menschen an! Solange das junge Weib noch geduldig
seinen Sklavenrock tragt, hat es gar kein Recht, sich iiber
irgendwelche Zuriicksetzung zu beklagen."
Am deutlichsten tritt die symbohsche Absicht des
Dichters in der Auffuhrung des vom Herzog verfassten
Festspiels zutage. Aber auch da verursacht die Deutung
keinerlei Schwierigkeiten. Derm da als szenisches Bild
des Spieles Tizians „Irdische und himmlische Liebe" gestellt
wird, ist die Bedeutung der bekleideten und der nackten
Frauengestalt ohne weiteres klar. Der doppelkopfige
Drache sagt selbst unzweideutig genug, als was er be-
trachtet sein will: als der muckerische pfaffische Geist,
der alles Nackte und mithin alle Wahrheit perhorresziert.
Der Herzog, der Dichter des Spiels, zieht als heiliger
Georg gegen das Untier los, um also den Geist der
Wahrheit und der Poesie iiber das Hundeschwein (den
Schweinehund) siegen zu lassen.
Wie in diese Scene das reale Leben in all seiner
grotesken Plumpheit in der Gestalt des Rotenburger Po-
lizeiprasidenten eindringt, um die Fortsetzung der Auf-
fuhrung zu verhindern, ist ein echt Wedekindscher Ein-
fall von kostlicher Wirkung. Es ist etwas absolut Neues
in der Dramatik, dass das Satyrspiel nicht, wie bei den
alten Griechen, der Tragodie folgt, sondem mitten hinein-
spielt und, iiberaus lebenswahr, den Kontrast zwischen
Poesie und Wirklichkeit vor Augen fiihrt.
Noch wilder ist das Durcheinander von Dichtung
und Leben in der Szene hinter den Kulissen des Theaters
der Fiinftausend. Wahrend der Zuschauer miterlebt, wie
Franziska sich von Veit Kunz abwendet und ihre Liebe
wild, unbesonnen, nur noch Rausch und Sinnlichkeit, dem
ordinaren Simson-Darsteller Ralf Breitenbach anbietet,
— 138 —
erfahrt er zugleich den ganzen Inhalt des Mysteriums
von Veit Kunz, das vorne im Zirkus gespielt wird.
Durch dieses Mysterium wird die Erinnerung an Goethes
Faust wieder lebhaft geweckt, insofern, als hier offenbar
eine groteske Parodie auf den zweiten Teil der Tragodie
erdacht ist. Namen aus der jiidischen und griechischen
Mythologie schwirren durcheinander: Simson, Perseus,
Sokrates, Aristoteles, Piaton, Helena, Adam, Noah und
die drei Erzvater. Aber auch hier ist ein Kopfzerbrechen
iiber die Absichten des Dichters iiberfliissig. Veit Kunz
klart alles selbst auf: ,JVIir kam es natiirlich nur darauf
an, bevor die Gottheit iiber Satan triumphiert, das stumpf-
sinnig spiessbiirgerliche Alltagstreiben zu schildern, in dem
sich die Bewohner der Holle seit Jahrhunderten mit ihren
Qualen zurechtgefunden haben." Und dem Journalisten
Fahrstuhl diktiert er: „Die Gottheit verbringt einen Abend,
einen Tag und einen Morgen in der Unterwelt, um die
Geisteshelden der Vergangenheit von dem ihnen drohen-
den Fluch des Totgeschwiegenwerdens zu befreien." Zitate
und ganze Dialoge (in sehr schonen Versen) werden aus
dem Mysterium mitgeteilt, Frauenchore in komischer Ord-
nung vom Regisseur iiber die Szene gefuhrt (eine Ver-
ulkung der modemen Theaterspielerei mit Massenver-
wendung), und dann plotzlich der Ausbruch hysterischer
Ekstasen bei Franziska und den Chormadchen. Franziska
tanzt mit Breitenbach hinaus — und Veit Kunz steht ver-
lassen da, von der hochsten Staffel seines Gliicks in Kunst
und Liebe herabgestiirzt. Er reisst den Strick von dem
Biissergewand und schniirt sich damit den Hals zu. So
findet inn der alte Baron Hohenkemnath, Franziskas erster
Freund, der seinen Tod kommen fiihlt, und Franziska
noch einmal sehen will. Er lasst die Schlinge mit einem
Sektoffner losen, und die beiden Manner, die — jeder in
seiner Art — dasselbe Weib lieben, der eine, der sterben
muss, der andere, der sterben mochte, legen sich gegen-
seitig ihre Beichte ab. Diese Szene ist der dichterische
Hohepunkt des Dramas: dieses unmittelbare Nebenein-
— 139 —
ander von schicksalstrachtigem Leben, rauschendem Thea-
terspiel und Selbstmord, eine Szene von unvergleichlicher
Kiihnheit der Konzeption und Kraft der Gestaltung.
(Der Kritiker der ,JVIunchner Neuesten Nachrichten" em-
pfahl diese Szene dem Rotstift des Zensors.)
Vor allem Symbolhaften des Werkes abgesehen: in
der Behandlung des dramatischen Problems selbst kommt
Wedekind in „Franziska" zum ersten Mai zu einer klaren
eindeutigen Stellung zu der Frau, die er propagiert. Im
„Erdgeist" erfullt sich ihm das Weib als Beherrscherin
der Welt durch ihre Sinnenreize. Die hochste Vollkom-
menheit seines Wesens erreicht es im Erleiden des Lust-
mordes, („die Biichse der Pandora"). Dem Masochismus
als Grundzug des weiblichen Sexualcharakters gibt Wede-
kind dann auch im „Totentanz" und am klarsten im
„Schloss Wetterstein" die dichterische Verklarung. Bei
Franziska hingegen erscheint das Moment des geschlecht-
lichen Leidenwollens nicht mehr als Gipfel ihrer weib-
lichen Wesenheit sondem als Ausgangspunkt. Zu ihrem
ersten Liebhaber sagt sie: „Dein Zom macht dich so
begehrenswert. Wenn ich jetzt nur wiisste, was dich
zu Tatlichkeiten bringt." Und auf Hofmillers Frage:
„Ware es dir wirklich eine Freude, wenn ich dich miss-
handelte?" „Du hattest jedenfalls nicht den leisesten Schrei
zu furchten." Eine ahnliche Empfindung kommt spater noch
einmal Breitenbach gegeniiber in ihr auf, den sie liebt,
weil sie von ihm Rohheiten erwartet. Aber ihre Erful-
lung hat sie damit nicht erreicht, und wenn Veit Kunz
es als ein Naturgesetz betrachtet hatte, dass Franziska ihm
als willenlose Sklavin angehoren miisste, nachdem er ihr
zu einem Leben in mannlicher Freiheit verholfen hat, so
sieht er sich schwer getauscht und muss erkennen, dass
erst die Frau am Ende ihrer Bestimmung angelangt ist,
die keinem anderen mehr als sich selbst zu eigen gehort,
und die im Erlebnis der Mutterschaft ihr Liebeswerk
vollendet.
— 140 —
„Franziska" ist im hoheren Masse noch als alle
friiheren Werke Frank Wedekinds Weltanschauungsdrama.
Die hohe Sittlichkeit seiner Einstellung zu Welt und
Menschheit kommt hier in einer Schonheit und Eindring-
lichkeit zum Ausdruck, der sich nur entziehen kann, wem
die Moral als eine staatliche und kirchliche Utilitatsein-
richtung geheiligt ist. Es kann daher niemand wunder-
nehmen, dass die Vitrioleuse der sozialdemokratischen
„Miinchner Post" Wedekind um seiner „Franziska" willen
unflatig beschimpft, und jene Reinheiten, denen sie nicht
gewachsen ist, als „Perversitaten" besudelt).
Wer ein solches Werk, das einen festen Schritt in
menschliche Kultur hinein bedeutet, der sinnlichen An-
schauung kiinstlerisch flihlender Zeitgenossen vermittelt,
verdient — ehe ein kritisches Wort gesprochen werden
darf — lauten Dank. Herr Direktor Dr. Robert hat in
den Miinchner Kammerspielen eine Auffuhrung der „Fran-
ziska" veranstaltet, die ihm zum bleibenden Verdienst
angerechnet werden muss. Noch mehr: er hat, da der
Polizeiprasident v. d. Heydte in seiner oft betatigten Ab-
neigung gegen ehrliches Kulturwollen wieder einmal der
Kunst Kniippel zwischen die Beine zu werfen versuchte,
unabhangig von der Zensur eine geschlossene Vorstellung
des ungestrichenen Werkes vor geladenem Publikum ge-
leitet, die grossen Respektes wert war. Nicht, dass ich
von der Regieleitung jede mogliche Befriedigung meiner
Erwartungen erfahren hatte: es gab manche unlebendige
Stellen, manche im Tempo verfehlte Szenen, manche Un-
vollkommenheiten in der Inszenierung und Rollenbesetzung.
Aber das ist ganz unwesenthch im Vergleich zur Gesamt-
leistung, im Vergleich vor allem zu der grossen Liebe,
mit der der Direktor am Werk war. Die Szenenbilder
des Herrn Leo Pasetti waren fast uberall mustergiltig,
und auch den Schauspielem teilte sich die Schaffensfreude
mit, die ihr Dirigent empfunden haben muss, und die
wohl auch von der Personlichkeit des mitwirkenden
Dichters selbst ausging.
— 141 —
Die iibliche oberflachliche Einschatzung Wedekinds
als Schauspieler hat nach seiner Belebung des Veit Kunz
jeden Halt verloren Da Wedekind nicht von Hause aus
Schauspieler ist, muss er sich immer wieder als Dilettan-
ten kritisiert horen. Im hochsten Sinne mag diese Be-
zeichnung ihr Recht haben: wenn man als Dilettanten
einen Menschen verstehen will, der seine Kunst nur aus
Liebe zur Sache ausiibt ohne den Anspruch auf letzte
technische Vollendung. Mir scheint aber jeder Vergleich
Wedekinds mit Berufsschauspielern falsch Bei ihm ver-
schmilzt Subjekt und Objekt der Darstellung zu so voll-
kommener Einheit, dass, wer die Dichtung anerkennt, not-
wendig auch den Mann anerkennen muss, der mit beispiel-
loser Ehrlichkeit auf offener Biihne sein Innerstes entblosst.
Wer Wedekind spielen sieht, begreift die Worte, mit der
er Gislind, die Geliebte des Herzogs und Darstellerin
der hirnmlischen Liebe sterben lasst: „Gibt es ein hoheres
Gliick — als auf offener Biihne — vor Zuschauem —
nackt zu sterben?" Ich wiisste keinen Schauspieler, der
das Problematische in Veit Kunzens Charakter, diese
Mschung von Idealisten und Zyniker, von aktivem und
reflektivem Menschen so faszinierend wiedergeben konnte,
wie der Dichters selbst es tut. Wer noch behaupten mag,
dass es ihm an Technik fehlt, der sei nur an den pracht-
vollen Vortrag des Donnerwetter-Liedes in der Weinstube
Clara und an die ziindende Kraft erinnert, mit der er
den Prolog zu des Herzogs Festspiel sprach; an sein
erstes Auftreten durch das Fenster, mit welcher iiber-
legenen Selbstverstandlichkeit er auf die Frage: „Wo
kommen Sie her?" — Franziska zur Antwort gibt: „Von
Berlin. Ich mochte Sie gem fur ein kiinstlerisches Un-
ternehmen gewinnen;" und endhch an den tiefen echten
Jammer in dem Moment, wo ihm Franziska davonlauft
und ihm die ganze Nichtigkeit seiner Existenz zum Be-
wusstsein kommt. Nein! Der Schauspieler Wedekind,
wo er der Mensch Wedekind sein darf, ist dem Dichter
Wedekind kongenial.
— 142 —
Die ungeheuer schwierige Aufgabe der Franziska
hatte Frau Tilly Wedekind ubernommen. Was dieser
Frau an schauspielerischer Routine fehlt, ersetzt sie durch
Eigenschaften, die ihre Gegenwart auf der Biihne immer
erfreulich machen: durch hingebende Herzlichkeit, durch
leidenschafthches Einfuhlen in ihre Aufgabe, durch takt-
volle Zuriickhaltung, wo ihre technischen Mittel nicht
ausreichen, und durch den entzuckenden Reiz ihrer Er-
scheinung. Anfangs schien es, als ob ihr zu der iiber-
ragenden Bedeutung, zu der gesteigerten Weiblichkeit des
jungen Madchens alles fehlte. Aber sie wuchs mit ihrer
Aufgabe, fuhrte die Rolle des Marines geschickt und
glaubhaft durch (wobei ihr die schonsten schlanksten
Beine wirksamste Hilfe leisteten), wusste in den weiteren
Akten die schlichte Anmut ihres Wesens im Kontrast
zu Veit Kunzens ironischer Kaltschnauzigkeit vorteilhaft
geltend zu machen, wodurch der poetische Gehalt der
Figur schon unterstrichen wurde, und zeigte im letzten
Akt in der Kontroverse mit Veit Kunz und Ralf Breiten-
bach edle Wurde und als Mutter des kleinen Veitralf alle
reine schone Liebenswiirdigkeit eines begliickten Weibes.
Wahrscheinlich hatte eine geiibtere Schauspielerin die
Franziska nicht nur in der Idee, sondern auch in der
Person zum Mittelpunkt des Dramas gemacht, den hier
durchaus Wedekinds Veit Kunz einnahm. Aber ich glaube,
dass dann das Zarte, LiebUche, eigenthch WeibUche der
Gestalt zu kurz gekommen ware, das durch Tilly Wede-
kinds zuriickhaltende Art keinen Moment verloren ging.
Das biihnentechnisch wirksamste Bild bot die Wein-
stube Clara, obwohl diese Szene fur den Verlauf der
Handlung die unwichtigste ist. Sie spielt in dem Stuck
genau die gleiche Rolle, wie der Auftritt in Auerbachs
Keller im Faust. Dichterisch ist die Szene ein Meister-
stiick der Milieuschilderung. Man fuhlt sich durchaus in
die Gesellschaft Berliner Huren versetzt. Auch schau-
spielerisch war dieses Bild von besonderem Reiz.
Ganz brillant war vor allem Frl. Sidonie Lorm die frech
— 143 —
lebendig und in kostlicher Sektstimmung im Mittelpunkt
der Szene sass, und mit ihrem Redefluss das Mote Tempo
des Spiels aller dirigierte. Sehr kraftig wirkte auch Herr
Spanier beim Vortrag des Schriftstellergedichtes (,JVIit
ausgefransten Hosen").
Im iibrigen wirkten die Schauspieler meist nur als
Folie zu den beiden Hauptfiguren. Zu erwahnen ist nur
noch Herr Schwaiger, der als Polizeiprasident ausser-
ordentlich lobenswert, mit dem Zilynder in der Hand,
in die romantische Auffuhrung des Festspiels ein-
drang und in Ton und Haltung den schneidigen Beamten
ausgezeichnet traf, ohne dabei possenhaft zu karri-
kieren. Endlich muss noch von einer Episode gesprochen
werden, die eine schlechtweg meisterhafte schauspielerische
Leistung zeigte. Den alten Baron Hohenkemnath spielte
Herr Carl Gotz, der sich dabei von neuem als ein Cha-
rakterspieler allererster Gattung erwies. Wie er dasass,
der alte, miide, vornehme Roue vor dem am Boden rocheln-
den Veit Kunz und seinem Diener mit vollendeter Ruhe
anwies, den Strick am Halse des Marines zu durchschnei-
den — das war glanzend. Man glaubte diesem Baron
alles: seine bewegte Vergangenheit, seine Todesahnungen,
seinen Logenplatz im Theater der Fiinftausend, seine
Altersliebe zu Franziska, die aus gepflegtem Blut und
personlicher Kultur gemischte Vomehmheit und das feine
lachelnde Verstandnis fur die Lebensgier des Madchens
sowohl, wie fur den Selbstmordsversuch ihres verlassenen
Geliebten. Eine Prachtleistung.
Dass der Miinchener Zensor dafur sorgte, dass das
Eindringen des Polizeiprasidenten in die Welt der Kunst
wieder einmal nicht auf die dichterische Phantasie Wede-
kinds beschrankt blieb, braucht kaum noch erzahlt zu
werden. Noch nach der Urauffuhrung wurden der offent-
Uchen Darstellung Schwierigkeiten iiber Schwierigkeiten in
den Weg gelegt und der Dichter durch hunderterlei schi-
kanose Schulmeistereien bis aufs Blut gereizt. Der
Nervenschock, den Frank Wedekind bei der letzten Ge-
— 144 —
neralprobe infolge der respektlosen Behandlung durch
den Prasidenten v. d. Heydte angsichts des beruhmten
Zensurbeirats erlitt, muss als Zeichen unseres Kulturstandes
gebucht werden. Derselbe Mann, der an alien Ecken
Schutzleute aufstellt, um hungernde Menschen beim Bet-
teln abzufassen, der wie ein Kindermadchen dariiber wachen
lasst, dass alle Leute piinktlich aus den Cafehausern hin-
ausgejagt werden, der Photographieen und Fingerabdriicke
von Personen sammelt, deren Gesinnung nicht staatszuver-
lassig erscheint, derselbe Mann ist die hochste Instanz in
Kunstdingen. Er hat das Recht, einen Dichter vom Range
Frank Wedekinds wie einen Hausburschen zurechtzuweisen
und mit seinem Zensurstift in Kunstwerken herumzustrei-
chen, dass ein Mensch, der noch Scham vor den Nach-
fahren kennt, bis an die Haarwurzeln erroten muss.
Es ist Sache der jungen Leute, gegen solche Dinge
zu protestieren. An die Studenten und jungen Kunstler
richte ich die Frage: Wollt ihr die Verantwortung tragen
flir die dauemde Einbiirgerung derartiger Zustande?
Wenn ihr Manner seid — soil dann immer noch der
Polizeisabel als Schulbakel iiber der Kunst drohen?
Ihr seid berufen, gegen PoUzei und Verpfaffung den Geist
ins Feld zu stellen. Konnt ihr das nicht, dann seid ihr
nicht wert, dass in euren Tagen Werke geschaffen wer-
den wie Wedekinds Franziska!
Verantwortlich fur Redaktion und Verlag: Erich Miihsam, Miinchen, Akademiestrasse 9.
Druck von Max Steinebach, Manchen, Baaderstr. 1 u. la. Geschaftsstelle: Miinchen, Baaderstr. la. Tel. 2355
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Von Urteilen fiihren wir an:
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Jahrgang I. No. 10. Januar 1913.
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Zeif/chrifffur
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(rich Huh/am
Inhalt: Das Weltparlament. — Trauerfeier. — Bemerkungen. —
Peter Krapotkin. — Pole Poppenspaler. — Auf dem Dache sitzt
ein Greis.
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Die Schaubiihne
Herausgeber:
Siegfried Jacobsohn.
Stimmen der Presse:
Die Zukunft. Die Schaubiihne ist d'e beste deutsche Theater-
zeitschrift, die wir besitzen; eine der am wiirdigsten, redigierten Zeit-
schriften. Ein Golfstrom: Lebendigkeit, Warme, Geistigkeit, Kampf,
Witz, Seele geht von ihr aus.
Dresdener Anzeiger. Nach acht Jahren des Bestehens
dieser Zeitschrift, die damals bereits an dieser Stelle mit Anerkennung
begrusst wurde, muss nachdriicklich betont werden, dass wir in
Deutschland jetzt keine Theaterzeitschrift haben, die der Schau-
biihne an Scharfe und Weitsichtigkeit des Urteils, an gediegenen und
glanzenden Aufsatzen vorangestellt werden kann. In jahrelagner auf-
merksamer Priifung hat sich dieses Urteil bei uns befestigt. Jeder
Freund einer ehrlichen, freien und eindringlichen Kritik wird die
Schaubiihne mit Genuss und reichlichem Nutzen lesen.
Hannoverscher Courier. Recht verschiedene Geister
sind es, die sich hier im Rahmen einer Zeitschrift zusammenfinden,
aber eins eint sie: sie alle reden mit durchaus personlichen Ak-
zenten, es sind namlich Leute, die ihrem eigenen Instinkt lieber
folgen als dem Instinkt der Masse. Manche sprechen geradezu im
Ton der Leidenschaft, des Fanatismus. Der Inhalt des Blattes
ist in hohem Grade mannigfaltig; auch die Form unterhaltsam und
abwechslungsreich.
Mannheimer Generalanzeiger: Die Schaubiihne ist
von alien Theaterzeitschriften die aparteste, lebendigste und an-
Siegfried Jacobsohn gibt sie heraus. Er ist von denen,
iiber Theater schreiben, der einzige, der wirklich Kritik
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Theater- und der dramatischen Kunst beschaftigen, weitaus die beste
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Einmonatiges Probe-Abonnement gratis und franko.
Verlag der Schaubuhne f^SSSSSSS!^.
Jahrgang II Munchen,
No. 10. Januar 1913.
KAIN
Zeitschrift fiir Menschlichkeit.
Herausgeber: Erich Miihsam.
*iii inii i.i ii r .iiti.i.il.iV.ii ,) i .i,ii - . i n,iii. i ,ii.ni.i ,i,. in ciri ' .i i , i, i.ii |. ,«i , i„ i,i,i,m.h.i.m.|||.i h i .i, .,;.iJH
„ K A I N " erscheint im Monat einmal. Der Preis betragt
fur das Einzelheft 30 Pfennig (40 Heller, 40 Centimes). Jahresabonne-
ment 3 Mark, (4 Kronen, 4 Francs.) Inserate die zweigespaltene
Nonpareillezeile 30 Pfennig. Geldsendungen an „Kain-Verlag"
Munchen. Baaderstrasse la.
Die Beitrage dieser Zeitschrift sind vom Herausgeber.
Mitarbeiter dankend verbeten.
W..I.,,,! |, i :, l .| ,!,.!, 1. 1... ....). ,, | ,|, H.L.H |„| ,... 1 ,1, , ,.,„.!, ..I ,L.,I, I..I, I,, 1,1, ■!!. I 1, 1 .1, y-l ill ■! I.I Ill Ik. I », I I I
Das Weltparlament.
Wahrend in alien Hausern die Lichter am Weih-
nachtsbaume glanzten und die Armen und Reichen
das schone Fest des „Friedens auf Erden" feierten,
setzten sieh in London die Vertreter der annoch im
Kriegszustande befindlichen und in einem „Waffen-
stillstand" nach Atem ringenden Balkanstaaten zu-
sammen, um die Bedingungen festzustellen, unter
denen den armen blutenden Volkern endlich Ruhe
werden konne. Wer noch ein menchliches Herz im
Leibe hat, hofft inbriinstig, daB das ekle Feilschen
um Geld und Land endlich aufhoren und dem scheuB-
lichen Morden so oder so ein Ziel gesteckt werden
moge. Aber noch sind die Advokaten der streiten-
den Parteien nicht einig, und jeder Tag zeigt von
neuem die Gefahr, daB die Herren Diplomaten zu
keiner Erledigung ihrer Mission kommen und neue
Katakomben an jungen, kraftigen, zeugungsfahigen
Menschen der Raubgier der Staaten geopfert wer-
den. Auch die entsetzliche Moglichkeit eines europa-
ischen Krieges ist noch nicht aus der Welt geschafft,
und wenn Oesterreich und RuBland sich im Moment
— 146 —
einigermaBen beruhigt zu haben scheinen, so bleibt
doch immer noch der Verdacht bestehen, daB ihre
Diplomaten nur den Beginn einer fur Kriegstrapa-
zen geeigneten Jahreszeit abwarten wollen, um dann
doch das Blut der Gesiindesten fur hochst zweifel-
hafte Staatsniitzlichkeiten zu verspritzen. DaB die
letzten Wochen noch nicht zu einem Losmarschieren
der mobilisierten osterreichischen Armeekorps ge-
fiihrt haben, scheint in einer Anwandlung besserer
Einsicht die deutsche Regierung verursacht zu haben,
die wohl mit der Verneinung des casus foederis ge-
droht haben mag.
Scheint. Denn was hinter den verpolsterten Tiiren
der diplomatischen Geheimkanzleien geredet und be-
schlossen wird, erfahren ja die nicht, iiber deren Hab
und Gut, iiber deren Leben und BeschlieBen fiir ihr
eigenes Geld verhandelt wird. Steuern zahlen, Maul
halten und widerspruchslos gehorchen — das ist die
Funktion der Staatsbiirger, und wer diese Stellung
urteilsfahiger Menschen unwiirdig nennt, gilt als
Verrater und verfallt der abgriindigen Verachtung
aller Patrioten.
Der Leutnantstandpunkt, als ob alle Grenzdorfer
nur da waren, um im rechten Augenblick zusammen-
geschossen zu werden, weil ja doch die Voriibungen
zu solchem Tun Lebensberuf der Leutnants ist, ist
heute noch unter klugen Menschen diskutabel. Der
einzige Einwand, den man heute noch unter gebil-
deten Personen gegen den Krieg gelten laBt, ist die
Angst vor den Borsenkursen. Wer den Frieden pre-
digt, weil der Krieg gemein, sinnlos, unmenschlich,
jede Daseinswiirde degradierend, verrohend und in
jedem Betracht unsittlich ist, ist ein schwarmender
Narr oder ein von allem nationalen Stolz verlassener
Schweinehund.
Das Odium muB ertragen werden. Es laBt sich er-
tragen fiir den, dessen KulturbewuBtsein die Kriegs-
— 147 —
begeisterung und Kriegsbereitschaft als eine ata-
vistische Konvention erkannt hat, und der seinem
Gefiihl, das ihn das Leben der Menschen achten
heiBt, mehr traut als den Erfordernissen einer
Staatsraison, die mit dem Blute hunderttausender
junger Menschen gefiittert werden muB.
Eine Diskussion uber die Berechtigung des Krie-
ges ist unmoglich. Wir Friedensfreunde wissen, daB
der Krieg so entsetzlich ist, daB er nicht mehr sein
darf. Wer dieses Wissen nicht in sich hat, wird nie
zu seiner Wahrheit bekehrt werden. Daher haben
diejenigen recht, die uns schwarmende Narren hei-
Ben. Denn wir sind noch die Minderheit, und ver-
riickt ist bekanntlich nur, wer anders ist als die
groBe Masse. Deshalb hatten wir Friedensfreunde
unrecht, wollten wir, was uns gewiB oft naheliegt,
die Kriegsenthusiasten blutriinstige Narren nennen.
Was wir aber konnen und wollen, ist, die er-
kannte Wahrheit mit aller Kraft des Herzens und
mit alien Mitteln der Kultur in positives Wirken um-
setzen. Jeder gangbare Weg, den Frieden zwischen
den Volkern zu erhalten, muB von denen beschritten
werden, die im Volkerfrieden die Grundbedingung
zu menschenwiirdigem Dasein iiberhaupt erkennen,
und der Krieg gegen den Krieg muB mit derselben
leidenschaftlichen Entschlossenheit gefiihrt werden,
die die Hiiter kriegerischer Eigenschaften von ihren
Kriegern verlangen.
Die Versuche, dem christlichen Friedensideal zu
praktischer Geltung zu verhelfen, sind bisher wenig
ergiebig ausgefallen. Den sichersten Nutzen haben
bisher wohl die Schriften gestiftet, die den Krieg
praktisch oder satirisch, kritisch oder religios, iiber-
redend oder dichterisch ins Licht geriickt haben. Ich
bin iiberzeugt, daB der Skeptizismus, der endlich ge-
gen die Massengewalt als Rechtsmittel platzzugreifen
scheint, wesentlich der Propaganda zu danken ist,
— 148 —
die Swift und Carlyle, Rousseau, Jean Paul und Tol-
stoy, und selbst auch Bertha v. Suttner und Paul
Scheerbart *) durch ihre kriegsfeindlichen Schriften
bewirkt haben. (Bei dieser Gelegenheit mochte ich
nicht versaumen, die jungst erschienene Gedicht-
Anthologie „Krieg", herausgegeben von Franz Diede-
rich, Dresden, zur Lektiire dringend zu empfehlen.)
Natiirlich kann aber die Beeinflussung sensibler
Gemiiter durch das Wort allein nicht geniigen, um
einer in Jahrtausenden gepflegten Volkerpsychose po-
sitiven Abbruch zu tun. Wobei es doch wieder an
der Zeit scheint, die nachgerade in Tausenden fiihl-
bare Stimmung gegen den Krieg in Handlung umzu-
setzen. Und auch dariiber kann kein Zweifel sein, daB
die zu ergreifenden MaBnahmen anders ausfallen
miissen, als die kummerlichen Kompromisse, mit
denen bisher die kriegerischen Parteien selbst die
Stimmen der Menschlichkeit zu beruhigen versucht
haben.
Das ganze „Volkerrecht" mit seinen Einschran-
kungen der Mordmethoden ist eine aufgelegte Farce.
Denn das Bestreben der Staaten, das Massenmorden
mit moglichst „humanen" Mitteln auszufiihren, zeigt
nichts anderes als den Willen, das Kriegfuhren selbst
fiir alle Ewigkeit die ultimo ratio der Volker bleiben
zu lassen. Dem Soldaten aber diirfte es einigermaBen
egal sein, ob er von einer Lanze oder Patrone durch-
lochert stirbt, oder ob sein sterbender Leib von einem
*) Paul Scheerbart, der naive Phantast und Humorist, der selt-
samste und doch einheitlichste unter den lebenden deutschen
Dichtern, ist eben llinzig Jahre alt geworden. In seinen Werken
nimmt der ganz unpathetische, aber tief erlebte Kampf gegen den
Krieg einen breiten Raum ein Ich verweise besonders auf seinen
schonen Mondroman „Die groBe Revolution". Ich mache die
Baronin v. Suttner und Herrn Alfred H. Fried als deutsche Trager
des Friedenspreises aus der Nobelstiftung eindringlichst auf diesen
Mann aufmerksam, damit sie bei der hilflosen Suche nach einem
wliidigen Preisempfanger, wie sie sich regelmaBig wiederholt,
die Stockholmer Herren einmal auf diesen prachtigen und immer
noch notleidenden Poeten hinweisen.
— 149 —
im Korper platzenden Dumdum-GeschoB ausein-
andergerissen "wird. Ebenso klar ist es, daB die von
stets schlagbereiten Regierungen beschickten „Frie-
denskongresse" im Haag eher neuen Handeln den
Weg bereiten als alten den Boden abgraben konnen.
Die einzige wirklich aussichtsvolle Agitation ge-
gen den Krieg wird bis jetzt von den revolutionaren
Antimilitaristen betrieben, die in der richtigen Er-
kenntnis, daB Kriege nicht von Fursten und Regie-
rungen, sondern vom arbeitenden Volke gefiihrt wer-
den, ihr Wort direkt an die Leidtragenden richten.
Die Arbeiter und Bauern jedes Landes sind in der
Tat imstande, Kriege zu verhiiten, wenn sie im Mo-
ment, wo das Ungliick droht, ihre Arbeitskraft dem
offentlichen Leben entziehen, den allgemeinen Streik
proklamieren und eine wirtschaftliche Krisis herauf-
beschworen, die immer noch viel ertraglicher ist als
die Katastrophen morderischer Schlachten und volli-
ger Vernichtung des geregelten Austausches unter den
Menschen, und die zugleich die Moglichkeit, zum
Kriege vorzugehen, technisch unterbindet. Dieses
Mittel der Kriegsverhinderung wird auf alien inter-
nationalen Sozialistenkongressen immer wieder von
Englandern und Franzosen vorgeschlagen. Die ab-
lehnende Haltung der deutschen Sozialdemokraten,
die fur ihre politische Position neben den andern
Parteien fiirchten, hat aber vorlaufig eine Verstan-
digung unter der internationalen Arbeiterschaft stets
verhindert. Und daB das Mittel des gegen einen
Krieg gerichteten Generalstreiks nur unter Mitwir-
kung der werktatigen Bevolkerung aller in Frage
kommenden Nationen moglich ist, bedarf keiner
naheren Begriindung.
So stehen wir mit all unserem Friedenswillen
heute noch machtlos und mit geschlossenen Augen
und Handen den Ueberraschungen gegeniiber, die
unkontrollierte Diplomaten aushecken. Von heute auf
— 150 —
morgen konnen die Auswartigen Aemter der Machte
untereinander Streit bekommen und ungezahlte Men-
schen, die Wertvolles zu tun haben, werden fiir An-
gelegenheiten, die sie nicht im geringsten angehn, vor
die Kanonenrohre postiert und selbst zum Hinmor-
den fremder, friedlicher und ihnen durchaus gleich-
giiltiger Nebenmenschen gezwungen.
Die Erkenntnis dieser Tatsachen eroffnet nun
eine neue Moglichkeit, Kriegen vorzubeugen.
Frank Wedekind hat in der Weihnachtsnummer
des „Berliner Tageblatts" von einem Gesprach be-
richtet, daB im Dezember zwischen ihm und mir statt-
fand, und das die Begriindung eines „Weltparla-
ments - Vereins" zur Folge hatte. Dies Gesprach
schloB an einen Artikel des „Berliner Tageblatts"
an, in dem der Satz stand: „Die Diplomatic muB
ebenso reprasentativ werden wie andere Staatsres-
sorts".
Worin wir — Wedekind als bedingter Bejaher,
ich als unbedingter Verneiner staatlicher Notwendig-
keiten — sogleich einig waren, war die Ueberzeu-
gung, daB momentan die bedenklichste Gefahr der
Volker in der Unkontrollierbarkeit derjenigen Per-
sonen begriindet ist, denen die effektiven Machtmittel
der Menschen anvertraut sind. Ob diese Leute von
Fiirsten ernannt oder von Volksvertretern erwahlt
sind — auch darin waren wir einig — macht keinen
Unterschied. Das Beangstigende liegt vielmehr in der
lichtscheuen Heimlichkeit, in der sie miteinander
verkehren, und in der Moglichkeit, daB die Laune
gernegroBer Handelsucher Leben und Wirtschaft
groBer, fleiBiger Volker zugrunde richten kann.
Jeder einzelne mag sich zu den Einrichtungen
der gegenwartigen Dinge verhalten wie er will: ob-
er die Auflosung aller Staaten in sozialistische Fode-
rationen oder die Vereinigung aller Staaten in eine
kontinentale Demokratie wiinscht, — diese Einsicht
— 151 —
kann alle verbinden, die den Volkerfrieden als unbe-
dingt notig ansehen, um irgendeine Kultur zu for-
dern: daB unter alien Kampfen der gegen die Frie-
densstorer der dringlichste ist.
Das Weltparlament, zu dem wir aufrufen, be-
zweckt die dauernde, offentliche Beaufsichtigung
der Diplomatic. Alle Faktoren, die das Verhaltnis
der Nationen zu einander bestimmen, sind von Natur
aus offentliche Angelegenheiten, und waren auch
offentliche Angelegenheiten, kamen nicht durch die
Geheimniskramerei der ziinftigen Vermittler neue
Faktoren fortgesetzt hinzu, die wie Ziindschnure in
die Pulverfasser vorkommender Divergenzen und MiB-
verstandnisse leiten. Haben wir erst in unserem
Weltparlament einen in Permanenz erklarten Frie-
denskongreB geschaffen, der die verbindenden und
trennenden Momente unter den Nationen in voller
Oef f entlichkeit untersucht und in internationaler Be-
ratung mit dem einzigen ausgesprochenen Ziel, unter
alien Umstanden den Frieden zwischen den Volkern
zu wahren, in strittigen Fallen die Moglichkeiten
einer Verstandigung abwagt und finden muB, dann
ist die hofische oder staatsparlamentarische Diplo-
matic unschadlich gemacht, ihre Ueberfliissigkeit
wird nach und nach allgemein eingesehen werden,
und die akute Kriegsgefahr, die durch ihr Wirken
konstant besteht, verschwindet.
Vorerst soil der Weltparlamentsverein seine Auf-
gabe darin suchen, die Aufgaben der Diplomatic ohne
besonderen Auftrag zu erfiillen: namlich die wirt-
schaftlichen und volkerpsychologischen Beziehungen
der Nationen zueinander feststellen, in ihren Schwan-
kungen offentlich darlegen und die Grundlinien zur
friedlichen Regelung diffiziler Differenzpunkte
offentlich fixieren. Personliche Zankereien und Ge-
hassigkeiten, die bisher den AnlaB zu alien Kriegen
gaben (es sei nur an den Fall Prohaska erinnert, der
— 152 —
von der osterreichischen Regierung inszeniert wurde,
um eventuell den Vorwand zum Kriege zu haben),
gehen die Volker kiinftig nichts mehr an. Sach-
liche Streitigkeiten werden offentlich verhandelt,
und es wird sich zeigen, daB sie stets geschlichtet
werden konnen.
Hat die freiwillige internationale Behorde erst
einmal gezeigt, daB sie imstande ist, Gutes zu stif-
ten, dann wird man daran denken konnen, aus dem
Weltparlamentsverein ein wirkliches Weltparlament
zu machen. Darin soil nicht abgestimmt und majori-
siert, sondern beraten werden. Die Publizitat dieser
Beratungen soil die Volker in den Punkten beruhigen,
in denen sie zu beunruhigen bislang Aufgabe und
Zweck der geheimen Kabinette ist.
Statuten werden vorlaufig nicht festgesetzt
werden. Denn wir wollen verhindern, daB unser
Verein zu friih auf bestimmte Aktionen verpflichtet
wird. Wer Mitglied werden will, der soil mit Rat-
schlagen kommen. Melden sich geniigend Manner
und Frauen, dann werden wir daran denken konnen,
bestimmte Anordnungen iiber die Art unserer Ver-
standigung und iiber die Beschaffung von Geldmit-
teln zu treffen. Fiirs erste brauchen wir nur Adres-
sen und Vorschlage.
Ein kurzes Wort noch an meine alten Gesin-
nungsfreunde: Ich weiB, daB der Plan, mit dem ich
hier hervortrete, nicht vollig in das revolutionare
Programm paBt, das sonst mein Schaffen bestimmt.
Aber ich kann versichern, daB ich noch genau der
bin, der ich immer war: genau so radikal, genau so
feindlich gegen den Staat und seine Instrumente, ge-
nau so erpicht auf revolutionares Tun fiir Sozialis-
mus und Anarchic Was der Weltparlamentverein
will, ist nicht Ziel, sondern Weg. Wohin der Weg
fiihrt, werden die bestimmen, die seinen Kies fest-
stampfen. Wohin er mich selbst fiihren wird, weiB
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ich. — Mag er sich teilen! Mogen die, die anders
wollen als ich, spater eigne Pfade zu ihrem Ziel
finden. Die Erfahrungen der letzten Zeit, die Angst
groBer Volker vor Krieg, Brand, Mord und alien Un-
menschlichkeiten heiBt zunachst uns alle vereint
marschieren. Wir wollen den Frieden. Das ist die
nachste schwere Aufgabe aller, die Menschliches
wollen. Wissen wir, daB kein Diplomat und kein
Staatsgezank dem Frieden langer droht, dann haben
wir unsere Aufgabe erfiillt. Dann werden wir uns
die Hande reiben und jeder wird im Anstreben des-
sen, was er fur das Beste halt, in guten friedlichen
Empfindungen gegen jeden andern sein besonderes
Ziel verfolgen.
Trauerfeier.
Niemand wird erwartet haben, daB ein Personalwechsel in
der Regentschaft des Konigreichs Bayern mein anarchistisches
Gemttt in heftige Schwingungen versetzen werde. Die Person
des Fursten, der das Land Bayern „verwest", bekiimmert sich
vermutlich genau so wenig um mich, wie ich mich um sie be-
kiimmere. Was mich beim Tode des alten Herrn, der mit sei-
nen 91 Jahren so freundlich aussah, daB ihm der enragierteste
Antimonarchist gewiB nicht bose war, — was mich bei seinem
Tode allein interessierte, war die Haltung des Publikums. Ich
habe in jenen Tagen, wo die gesamte Presse von allgemeinem
Schmerz und stiller Ergriffenheit der Bevolkerung berichtete,
scharf beobachtet und gefunden, daB die Stimmung in Mlinchen
die eines gesteigerten Erlebens war. Die Leute liefen durch-
einander, neugierig, schaubeflissen, mit gespitzten Ohren. Nicht
die Person des verstorbenen Regenten beschaftigte sie, son-
dern die Frage: Was werden wir jetzt zu sehen bekommen?
Wer wird zur Beisetzung kommen? Wo sollen wir uns auf-
stellen, daB uns nichts entgeht? Es war eine Gehobenheit
unter den Menschen, die man dem festfrohen Charakter des
Mlinchners gemaB und ohne dem Ernst der Veranlassung im
geringsten frivol gegenuberzustehen, vielleicht am ehesten mit
dem Wort Trauergaudi bezeichnen kann.
Die Trauerfeierlichkeiten wurden wie ein offentliches
Schauspiel erwartet, und dem naiven Verlangen des Volkes
nach groBartigem Geprange ward von den Regisseuren des
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Leichenbegangnisses ausgiebig Rechnung getragen. Als Thea-
ter-Kritiker filhle ich mich berechtigt und verpflichtet die Ins-
zenierung der Feierlichkeit in den Bereich meiner urteilenden
Tatigkeit zu Ziehen, wobei ich hier selbstverstandlich auf jede
Polemik ilber die Beweggrtinde zu der StraBenauffiihrung ver-
zichte. Da6 es sich um einen Theaterakt handelte, geht
schon daraus hervor, da6 der Leichenzug nicht einfach von der
Allerheiligen Hofkirche durch den Hofgarten und ilber den
Odeonsplatz zur Theatiner Hofkirche ging — das ist ein Weg
von vielleicht dreihundert Schritten — , sondern im groBen
Bogen vom Odeonsplatz durch die Ludwig-, Theresien-, Arcis-
und BriennerstraBe zum Odeonsplatz zuruckgeleitet wurde.
Bei der groBen Bedeutung, die ich dem Theaterspiel fur unsere
ganze Kultur beimesse, erkenne ich auch an, daB diejenigen,
die dynastische Empfindungen zu verbreiten wiinschen, mit dem
Arrangement eines solchen Schauaktes eine zwar primitive,
vielleicht aber ganz wirksame Propaganda treiben.
Um nun mein Urteil ilber die Gesamtleistung der Auffilh-
rung kurz zusammenzufassen, so sage ich: Brillant in einzel-
nen Gruppen und Bildern, aber salopp und verworren in der
Inszenierung des Ganzen. Vorziiglich war der Aufmarsch der
Potentaten und Fiirstlichkeiten. Voran der neue Regent zwi-
schen den beiden vornehmsten Gasten (der deutsche Kaiser
fiel durch besonders gute Haltung auf), dahinter in losem Zuge,
der durch das Fehlen jeder erkiinstelten Gruppenanordnung
umso pomphafter wirkte, die deutschen Bundesfilrsten und die
Vertreter der auslandischen Machthaber — alle in groBer Uni-
form. Besonders dekorativ wirkten unter ihnen die Englander,
prachtvoll gewachsene Menschen in brandroten goldbeschlage-
nen Manteln. Recht eindrucksvoll gestaltete sich auch der Auf-
marsch der Geistlichkeit. Die katholische Kirche hat es immer
verstanden, glanzend zu reprasentieren, und die Aufmachung,
in der die Erz-, Weih- oder was weiB ich ftir Bischofe einzeln,
jeder umringt von einem Stab nachgeordneter Gottesdiener,
nacheinander aufmarschierten, w